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Willkommen im Land der Guthabenkarten

Wer Kinder hat, sollte ehrlich zu seinem Nachwuchs sein. „Liebe Tochter, lieber Sohn, ihr werdet nicht so lange und unbekümmert leben können wie ich, weil mir mein Auto und meine Urlaubsreisen einfach wichtiger sind als ihr.“ Die Klimakrise ist längst da. Wer das angesichts der zunehmenden Extremwetterereignisse noch leugnet, verspielt seine eigene Glaubwürdigkeit. Genauso lange, wie die Krise bekannt und wissenschaftlich bewiesen ist, gibt es moralische Appelle an die Bürger*innen, den eigenen klimaschädlichen Konsum zu reduzieren. Bekanntlich bringt das aber wenig bis nichts und schiebt ein gesamtgesellschaftliches, ja weltweites Problem auf den Goodwill der Individuen ab. Gleichzeitig besteht die Crux der jetzigen klimapolitischen Maßnahmen darin, dass sie zu zögerlich sind, dass die großen Verursacher nicht angetastet werden, dass auf sogenanntes Grünes Wachstum gesetzt wird, das bekanntlich eine Mogelpackung ist und zu Rebound-Effekten[fn]Rebound-Effekt: vermehrte Nachfrage nach Ressourcen in einer Volkswirtschaft, ermöglicht durch eine Steigerung der Produktivität (hier etwa Sprit sparende Autos). Einsparungen können durch den Rebound-Effekt also teilweise wieder aufgehoben werden.[/fn] führt.

Ein Kolumnist, bekannt als radikaler Fahrradfahrer und Autohasser, forderte schon vor Jahrzehnten humorig, dass der Sprit am besten fünf Euro der Liter kosten müsse, um den Autoverkehr zu reduzieren. Spitzenvorschlag. Allerdings rufen solche Forderungen bei vielen Otto Normalverbrauchern genau so starke Lynchmordgelüste hervor wie die viel geschmähten Klimakleber. Welche politischen Maßnahmen könnten also hierzulande eine spürbare Verringerung der Treibhausgasemissionen bewirken und, und das ist der springende Punkt, könnten gar auf Sympathien bei einem großen Teil der Bevölkerung stoßen?

Miltiadis Oulios, Musiker, Journalist und Autor, meint: Klima-Kommunismus ist die Lösung. Er federe die Klimakrise sozial gerecht ab und sorge für Umverteilung. Dafür müssen wir eine neue Kultur des Teilens etablieren, schließlich ist die Atmosphäre ein Gemeingut. Damit sich die Erde auf nicht mehr als 1,5 Grad erwärmt und bis 2040 Klimaneutralität erreicht wird, dürfen laut Daten des Weltklimarates IPCC insgesamt nur noch 230 Milliarden Tonnen CO2 emittiert werden. Geteilt durch rund acht Milliarden Menschen und auf 17 Jahre verteilt wären das 1,7 Tonnen CO2 pro Jahr. Für die meisten lateinamerikanischen Länder wäre diese Obergrenze aktuell kein Problem, noch viel weniger für den afrikanischen Kontinent, wo der durchschnittliche jährliche Prokopfverbrauch in den allermeisten Ländern unter einer Tonne CO2 liegt. In Deutschland sind wir aktuell bei etwa 10,5 Tonnen durchschnittlichem CO2-Ausstoß pro Jahr.

Gib mal deine Fleischkarte

Oulios entwickelt für sein Konzept des Klima-Kommunismus konkrete Vorschläge samt einem Vorgehen, wie sie umzusetzen sind: Der Flugverkehr macht zehn Prozent der in Deutschland verursachten Treibhausgase aus. Diese Flugreisen sind allerdings ungleich verteilt. Eine Umfrage des Fraunhofer-Instituts in Deutschland ergab, dass 15 Prozent noch nie mit einem Flugzeug geflogen sind. Zwischen sechs und sieben Prozent fliegen vier Mal oder häufiger pro Jahr (es geht noch krasser, etwa bei den Superreichen in den USA: Bill Gates fliegt mitunter 69 Mal, Kim Kardashian 99 Mal im Jahr).

Der praktische Vorschlag zur Reduktion (in Deutschland): Jede*r bekommt das Recht, eine Flugreise pro Jahr zu unternehmen. Wer mag, kann das eigene Recht auf eine Flugreise verkaufen, womit Umverteilungseffekte erzielt würden. Vorschlag Nummer zwei: Jeder Haushalt erhält das Recht, ein Auto anzumelden, nicht mehr. Im Gegenzug erhalten alle Erwachsenen ein Mobilitätsguthaben von 500 Euro im Jahr – für Bus und Bahn, Fahrradreparaturen, Car-Sharing. Eine weitere Guthabenkarte bezieht sich aufs Essen: Jeder bekommt eine Fleischkarte, die 500 Gramm Fleisch pro Woche erlaubt. Hast du mehr Bedarf für deine Grillparty, leihst du dir die Fleischkarte von deinem veganen Kumpel und dankst es ihm. Außerdem gibt es für jeden ein Fashion-Kontingent, das den Kauf von 26 Kleidungsstücken pro Jahr festsetzt.

Das grobe Ziel lautet: Halbierung des Konsums ausschlaggebender Güter, damit wir schnell zu Ergebnissen kommen, um Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Damit sich die Einzelnen nicht mit Entscheidungen und/oder schlechtem Gewissen herumschlagen müssen, werden diese Einschränkungen vorgeschrieben und von der Politik umgesetzt. „Wenn wir uns Regeln für alle setzen, ersparen wir uns dieses Dilemma, immer entscheiden zu müssen“, bringt es Oulios auf den Punkt. Regulieren und Belohnen statt Appellieren und Bestrafen – das ist also der Schlüssel zum Erfolg.

Ein Plus des Buches ist, dass die Berechnungen und Maßnahmen für Deutschland konzipiert und heruntergerechnet werden, was das Ganze anschaulich macht. Die globale, ja sogar dekoloniale Perspektive bedenkt der Autor dennoch mit. In einem Exkurs geht er zum Beispiel auf das Konzept der Klimagerechtigkeit ein. Er berücksichtigt auch mögliche Einwände, etwa dass der Begriff Kommunismus verbrannt sei, und bietet Argumentationshilfe an. Und er ist sehr deutlich: Es muss jetzt etwas getan werden. Damit die Politik endlich handelt, muss eine Vielfalt an Bewegungen politischen Druck aufbauen.

Das Buch ist gut lesbar, Fakten gesättigt, Anekdoten lockern auf. Lieblingsstelle: Der Autor besucht den Tag der offenen Tür an einem Gymnasium. Sechstklässler*innen widmen sich dem Thema Nachhaltigkeit und verkaufen in bunte Wollfäden gewickelte Weinflaschen, die als Blumenvasen genutzt werden können. Upcycling halt. Oulios kann es sich nicht verkneifen, einen Jungen zu fragen, wie viele Autos dessen Familie habe. Zwei, habe der Junge geantwortet. „Und noch der Bus.“

Das Konzept Klima-Kommunismus ist catchy. Die Rezensentin hat allerdings gut Reden, weil ihr die von Oulios vorgeschlagenen Konsumbeschränkungen nicht so weh tun würden. Als Nichtautofahrerin würde sie von Maßnahmen wie dem Mobilitätsguthaben profitieren. Leise Zweifel regen sich angesichts des leider wachsenden Anteils der Bevölkerung, der für Verschwörungstheorien und einen radikal-individualistischen Freiheitsdiskurs anfällig ist. Oder auch angesichts der Jugendlichen, die mitnichten alle bei Fridays for Future mitlaufen, sondern mitunter ziemlich hedonistisch unterwegs sind. Und viel lieber die FDP oder gar die AFD wählen, als es den eigenen Eltern lieb ist. Das Konzept hat aber auch Potenzial. Utopische Idee: Ausgehend vom Primat des Teilens zum Schutz vor der Klimakatastrophe, könnte es auf andere lebensnotwendige Ressourcen und Gemeingüter ausgedehnt werden, auf Wasserreserven etwa, Ackerflächen oder Kupfervorkommen. Ein weiterer Schritt in Richtung Systemwechsel also. In diesem Sinne – Klima-Kommunistas aller Länder, vereinigt euch!

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