„Lebendig haben sie sie verschleppt, lebendig wollen wir sie zurück“, so lautete vor einem Jahr die stetig wiederholte Parole verzweifelter Eltern in Mexiko. 43 Jugendliche waren in der Region Guerrero verschwunden; sie waren vermutlich Opfer eines Massakers im schmutzigen Drogenkrieg geworden. Seit Jahren lesen wir von Toten und Massengräbern, von Schießereien und brutalen Foltermethoden im mexikanischen Norden. Die Meldungen sorgen regelmäßig für internationale Schlagzeilen. Seit dem Jahr 2000 sind über 100 000 Menschen getötet worden, viele wurden bestialisch gefoltert, bevor sie exekutiert wurden.
Das Verschwinden der 43 Jugendlichen stellte den vorläufigen Höhepunkt der Gewaltspirale und offensichtlich eine Zäsur im öffentlichen Bewusstsein nicht nur Mexikos dar. Dies lag zum einem an dem beharrlichen Nachfragen und der kämpferischen Entschlossenheit der Eltern, zum anderen an der wütenden Zivilgesellschaft, die massenhaft gegen Mord und Totschlag sowie den Sumpf aus Korruption und Verbrechen auf die Straße ging, was wiederum Proteste vor mexikanischen Botschaften in aller Welt nach sich zog.
Wie kam es zu diesem sogenannten mexikanischen Drogenkrieg, der eher ein nordamerikanisch-mexikanischer Drogenkrieg ist? Wer hat ihn aus welchen Gründen vom Zaun gebrochen und wer profitiert von ihm? Wie könnte die Gewaltspirale überwunden werden und das Land zu früheren Verhältnissen zurückfinden? Wer bemüht sich darum und welche Widerstände gibt es dagegen? Diesen Fragen gehen die preisgekrönte mexikanische Romanautorin Carmen Boullosa und der New Yorker Historiker Mike Wallace in ihrer spannend zu lesenden Streitschrift für eine neue globale Drogenpolitik nach.
Die Fehlentwicklungen der mexikanisch-nordamerikanischen Beziehungen in den letzten 100 Jahren sind auch eine Folge der US-Prohibitionsgesetze, des Verbots von Rauschmitteln 1914 und des Alkoholverbots 1919, die das organisierte Verbrechen, Korruption und Drogenschmuggel in den USA und Mexiko erblühen ließen. Die riesigen Gewinne wurden zum Teil in die Bestechung mexikanischer Politiker investiert. Viele profitierten davon, dass man den Gringos das lieferte, was deren Regierung ihnen verbot. Als aber 2006 die US-Regierung Mexiko zwang, den Drogenschmuggel über den Rio Bravo einzudämmen, und als das mexikanische Militär erstmals ernsthaft gegen die Drogenkartelle eingesetzt wurde, begann der schmutzige Drogenkrieg auf mexikanischem Boden. Das Land wurde von einer beispiellosen Welle der Gewalt heimgesucht.
Boullosa und Wallace schildern das vergangene Jahrzehnt als Höhepunkt der 100 Jahre währenden Verwerfungen, deren Ursachen auf beiden Seiten des Grenzflusses zu suchen sind. Sicherlich stammen Kokain und Heroin, Marihuana und Amphetamine aus Mexiko. Doch die automatischen Waffen, mit denen sich die Drogenkartelle gegenseitig bekämpfen, die die Mafia gegen Staat und Bevölkerung einsetzt, stammen aus den USA. Die Nachfrage nach Drogen und das absolute Drogenverbot in den USA stehen in engem Zusammenhang.
Die Politik der Prohibition, Kriminalisierung und Repression von Klienten und Dealern hat es in 100 Jahren nicht geschafft, die Probleme zu lösen. Vielmehr hat sie zu einer Eskalation der Gewalt geführt, weshalb das Verbot des Drogenhandels aufgehoben oder zumindest gelockert werden müsse, wie es einige europäische Staaten und auch Uruguay getan hätten, so die AutorInnen. Denn die Prohibition und Kriminalisierung seien eine Politik, die die „Gefängnisse füllt und Leben und Familien zerstört, ohne die Verfügbarkeit illegaler Drogen oder die Macht krimineller Organisationen einzudämmen“, zitieren sie aus den Empfehlungen der 2011 gegründeten Global Commission on Drug Policy, der lateinamerikanische Ex-Präsidenten und Größen aus dem Kulturbereich wie Carlos Fuentes bis zu seinem Tod angehörten.
Die Zahl der Befürworter einer solchen Reformpolitik sei in den letzten Jahren gewachsen. So hätten auch einige US-Bundesstaaten den Besitz von Drogen zum Eigengebrauch legalisiert. Eine Entkriminalisierung des Drogenkonsums und Handels mit Drogen bringe die Mafia um Milliardengewinne, könne sie entscheidend schwächen gegen eine gestärkte, nicht korrumpierte Ordnungsmacht aus Polizei und Militär. Doch Mexiko ist auch in der Frage der Drogenpolitik von den USA abhängig. Ohne deren Zustimmung ist eine Entkriminalisierung in Mexiko undenkbar.
Die Kräfte in den USA, die an der Prohibition festhalten und von ihr profitieren, sind stark und beharrlich. Dazu gehören Institutionen, die Produkt des Krieges gegen die Drogen sind, etwa die staatliche Drogenbekämpfungsbehörde DEA, die jährlich mit 2,5 Milliarden Dollar ausgestattet wird. Ähnliches gelte für den wuchernden Gefängnisapparat, der durch die wachsende Zahl von Delinquenten alimentiert werde, und für all die Gemeinden, die sich nach Industriepleiten dazu entschlossen, Gefängnisse als Haupteinnahmequelle zu unterhalten. Die Waffenindustrie mache durch legale und illegale Exporte nach Mexiko sagenhafte Gewinne und die starke Waffenlobby lehne alles ab, was diese Profite schmälern könnte.
Doch die Lage ist nicht hoffnungslos. Wahrscheinlich wird Kalifornien 2016 den Drogenkonsum straffrei stellen, so Boullosa und Wallace, was wiederum einen positiven Einfluss auf die fortschrittlich regierte Hauptstadt Mexiko D.F. ausüben könnte. Beides würde die Regierungen Mexikos und der USA unter Druck setzen. Zudem könnten die nationale und internationale Empörung über den Mord an den 43 Jugendlichen in Guerrero sowie das Ausbleiben ausländischer Investitionen die Regierung Peña Nieto zu einem Umdenken in der Drogenpolitik zwingen. Denn es reicht! 100 Jahre sind genug, so das Resümee der Autoren.