Aus der Bilanz des mexikanischen Wahlinstituts geht hervor, dass 185 Wahllokale nicht eingerichtet werden konnten; 432 mussten aufgrund von Stimmzettelraub oder Gewalt geschlossen werden und weitere zwölf wegen Unwetter geschlossen bleiben. Bei den Wahlen 2012 belief sich der Fehlbestand auf insgesamt 48 Wahllokale. Die Inkompetenz des neu gegründeten INE trat indes bereits vor Beginn des Wahlkampfes zutage, als der Koalitionspartner der PRI, die „grüne Partei“ (PMEV), für ihre monatelang systematisch betriebene illegale Werbekampagne außerhalb der Wahlkampfzeit mit einer milden Geldbuße bestraft wurde. Dass es dieser Partei nicht an Geld fehlt, zeigten die wertvollen Geschenke, die sie in ganz Mexiko unter die Menschen brachte, darunter zahllose Kinoeintrittskarten. AktivistInnen, die sich der Wahl entgegenstellten, wurden indes ganz andere Überraschungen zuteil. Am Wahlsonntag stürmte ein Sonderkommando von Vermummten in Uniformen der Sicherheitskräfte eine Studierenden-WG in Orizaba (Bundesstaat Veracruz) und fügte den dort versammelten Mitgliedern eines politischen Kollektivs mit Knüppeln und Macheten ernsthafte Verletzungen zu. In Malinalco (Bundesstaat Mexico) verdrängte das Militär Protestierende und besetzte das Zentrum tagelang. In Oaxaca-Stadt kam mindestens ein protestierender Lehrer ums Leben, als das INE in der Woche nach der Wahl auf seiner Website das vorläufige Endergebnis der Wahl nach der Auszählung von „100,66 Prozent der Stimmen“ mitteilte.
Zersplitterung ist wohl das Wort, das die Situation im neu gewählten Parlament am besten auf den Punkt bringt. Als stärkste Kraft hat sich mit 29 Prozent die PRI behauptet, mit diesem Ergebnis aber auch gleichzeitig ihr zweitschlechtestes seit 1929 gehabt, an ihrer Seite die rechte „grüne Partei“ (PVEM) mit 7 Prozent. Ihr erklärtes Ziel einer Kongressmehrheit haben die beiden Parteien, welche die Regierung von Präsident Peña Nieto stützen, damit verfehlt. Eine satte rechte Mehrheit gibt es aber trotzdem, wenn man die 3,7 Prozent der PRI-nahen rechtsliberalen „Neue Allianz“ (PANAL), die christliche-konservative „Nationale Aktion“ (PAN) – auch wenn diese mit 21 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit 1991 einfuhr – und die Parlamentsneulinge des fundamentalistisch-christlichen „Sozialen Treffens“ (ES) mit 3,3 Prozent zusammenzählt. Der PAN-Spinoff „Humanistische Partei“ (PH) scheiterte mit 2,2 Prozent an der Drei-Prozent-Hürde und verliert damit den Parteienstatus.
Der größte Wahlverlierer ist wohl die vormals linke „Partei der Demokratischen Revolution“ (PRD), die sich nach den letzten Wahlen dem „Pakt für Mexiko“ des Präsidenten angeschlossen hatte und jetzt nicht einmal mehr auf 11 Prozent kommt. Mit knapp 8,5 Prozent zieht die 2013 vom ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador gegründete linksgerichtete „Bewegung der nationalen Regeneration“ MORENA erstmals in das Parlament ein. Einen Achtungserfolg erreichte auch die kleine sozialdemokratische „Staatsbürgerliche Bewegung (MC), die rund 6 Prozent erzielte und fortan in Jaliscos Hauptstadt Guadalajara erstmals den Bürgermeister stellt. Eng wird es für die post-maoistische „Arbeiterpartei“, die mit 2,99 Prozent den Parlamentseinzug verfehlte, jetzt aber gegen den Verlust des Parteienstatus klagt, auch aufgrund der eingangs erwähnten Ungenauigkeit („100,66%“) bei der Bekanntgabe des vorläufigen Endergebnisses.
In der linken Hochburg Mexiko-Stadt wurde MORENA zur stärksten Partei und wird in Zukunft fünf der 16 Bezirksbürgermeister stellen. Der Regierungschef der Hauptstadt wird erst in drei Jahren gewählt und MORENA darf sich Hoffnungen machen. Es gibt aber auch Schatten: Die PRI stellt künftig drei statt einem Bezirkschef, die christlich-konservative PAN einen statt zwei. Die auch durch die Verwicklung in das Massaker von Iguala, bei dem 43 Studenten gewaltsam verschleppt und sechs Menschen ermordet wurden, stark in die Kritik geratene PRD hält in ihrer ehemaligen unbestrittenen Trutzburg nur noch sechs Bezirke.
Erstmals konnten bei den Wahlen 2015 auch unabhängige KandidatInnen antreten. Mit einer Ausnahme hatten diese auf den Wahlausgang aber keinen großen Einfluss. Im nördlichen Bundesstaat Nuevo León konnte der populistische „Unabhängige“ Jaime Rodríguez Calderón, „das Pferd“ (El Bronco), die Gouverneurswahl überraschend deutlich für sich entscheiden. Morena und „Staatsbürgerliche Bewegung“ hatten seine Wahl unterstützt, ein klares Programm vertritt er aber nicht. Zuvor diente er 33 Jahre lang der PRI und stand in der Vergangenheit sogar unter Korruptionsverdacht. Im nationalen Parlament wird fortan mit Manuel Cloutier aus Sinaloa ebenfalls ein unabhängiger Abgeordneter sitzen. Unter dem Strich haben aber nur 0,5 Prozent der MexikanerInnen für parteilose Kandidatinnen oder Kandidaten gestimmt.
Wichtige Teile der linken und sozialen Bewegung hatten indes ein anderes Ziel verfolgt. Sie riefen zur ungültigen Wahl oder zum Wahlboykott auf. Unterstützung bei ihrer Forderung nach Aussetzung der Wahlen erfuhren die Angehörigen der 43„verschwundenen“ Studenten im Bundesstaat Guerrero (wo sich die Orte Iguala und Ayotzinapa befinden) von der kämpferischen Dissidenz der Lehrergewerkschaft (CNTE), die auch in Oaxaca, Chiapas und Michoacán Präsenz zeigte und die Einrichtung von Wahllokalen zu verhindern suchte. In Oaxaca-Stadt kam es dabei zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen den Lehrern und der PRI-Basis, die sich im wahrsten Sinne des Wortes zu den Wahlurnen durchschlagen wollten. Vor den Wahlen hatte das Bildungsministerium SEP den Lehrern ein Entgegenkommen bei den die Bildungsreform betreffenden Punkten ihrer Forderungen versprochen. Am Tag nach der Wahl zog das Ministerium dann umgehend alle Zugeständnisse zurück.
VertreterInnen zapatistischer Ideen hielten die Wahl gar für eine Ablenkung von den eigentlichen politischen Aufgaben und formulierten dazu keine Position. Die nach den Ereignissen von Iguala von progressiven Geistlichen wie Raúl Vera und Alejandro Solalinde ins Leben gerufene Bewegung für eine Verfassunggebende Versammlung ist angesichts der Frage gespalten und enthielt sich ebenfalls eines gemeinsamen Aufrufes.
Die Wahlbeteiligung von rund 47 Prozent ist für die Boykottbewegung jedoch nicht als Erfolg zu werten, da sie der Beteiligung bei ähnlichen Wahlen entspricht und somit deutlich über den Erwartungen lag. Einen Achtungserfolg erntete die Bewegung für „ungültig wählen“: Mit knapp 5 Prozent konnte diese Option auf allen Stimmzetteln das beste Ergebnis seit mehr als zwei Jahrzehnten erzielen. Offizieller Gewinner der Gouverneurswahlen in Guerrero ist indes der PRI-Kandidat. Auch in den Staaten Campeche, San Luis Potosí, Colima und Sonora konnten sich die von der PRI aufgestellten oder unterstützten Gouverneurskandidaten durchsetzen.
Aus vielen Teilen des Landes gibt es Berichte von gefälschten Stimmzetteln und Stimmenkauf. Das sind in Mexiko leider altbekannte Praktiken, gegen die bisher noch kein Gegenmittel gefunden wurde. Im Gegenteil, so stark wie nie zuvor hat sich offenbar die früher noch als Wächterin der Moral auftretende PRD sogar selbst daran beteiligt. Aus Mexiko-Stadt liegen zahllose Berichte von als Wahlgeschenk verteilten Wassertanks und Flachbildschirmen vor. Ein positiver Aspekt des neuen Wahlgesetzes, das erstmals als Rahmen für diesen Urnengang diente, ist die stärkere Berücksichtung der Kandidatinnen. Das Ergebnis der Quotierung der KandidatInnenlisten besteht darin, dass fortan 41 Prozent der Abgeordneten Frauen sind. In Sonora setzte sich mit Claudia Artemiza Pavlovich Arellano die Gouverneurskandidatin der PRI durch und in Mexiko-Stadt treten vier Frauen das Amt der Bezirksbürgermeisterin an.
Aber auch wenn Präsident Enrique Peña Nieto Federn lassen musste, erweist er sich letztlich als erstaunlich widerspenstiges Steh-Auf-Männchen, das die Iguala-Krise zu überstehen scheint und mit einem leicht blauen Auge aus diesem Wahlgang hervorgeht. Seine Taktik der Schadensbegrenzung scheint aufgegangen zu sein. Und die Tatsache, dass die soziale und linke Bewegung dermaßen zersplittert ist, erleichtert ihm das politische Leben.