Nachdem sie mehr als 30 Stunden über 160 Kilometer gelaufen war, erreichte Aydee das Ziel. Am Freitag, den 14. Oktober 2016 war sie um sechs Uhr morgens im Parque Metropolitano in Santiago de Chile gestartet. Sie lief über die Berge um Santiago und durch die morgendliche Kälte, danach durch Regen und ein heftiges Gewitter, begleitet von Blitzen. Sie kam als Zweite ans Ziel in San Carlos de Apoquindo, im Nordosten der Stadt. Marlene Flores, die Siegerin des Vorjahres, war auch dieses Jahr die Erste. Es ist der 15. Oktober, Mittag, und Aydee ist erschöpft.
Der Kontrolleur bittet sie, ihm ihre Ausrüstung zu zeigen. Um die Sicherheit der Teilnehmerinnen zu gewährleisten, muss jede eine bestimmte Ausrüstung dabei haben: ein Handy, Wasser, eine Taschenlampe, eine Rettungsdecke, eine Regenjacke mit Kapuze, ein Erste-Hilfe-Set, einen Kompass und noch mehr. Nur so können sie den harten Wettkampf durchstehen. Der Kontrolleur zeigt an, dass alles in Ordnung ist, und geht. Aydee und Bárbara Koch, ihre Trainerin, gehen zur Seite und machen ein Foto von sich. Es ist das erste Mal, dass sie an dem chilenischen Ultramarathon teilnimmt und sie möchten eine Erinnerung daran. Plötzlich kommt einer der Veranstalter auf sie zu und sagt: „Aydee ist die Siegerin, Marlene hat gegen die Regeln verstoßen.“ Sie können es nicht glauben. Sie umarmen sich und jubeln vor Freude. Aydee lief die Strecke, einen der schwierigsten Ultramarathons Südamerikas, in 30 Stunden und acht Minuten. Obwohl sie ohne Pacer (das heißt einen oder mehrere Mitläufer, die die Strecke kennen und als Führer und Zeiteinteiler fungieren) lief, denn sie hatte keine Sponsoren, war sie die beste Läuferin der North Face Endurance Challenge Chile 2016.
Aydee Soto kam 1977 in Uchuraccay zur Welt. Dort lebte sie mit ihrer Familie, bis sie fünf Jahre alt war, dann vertrieben Terror und Gewalt die Familie. Sie ist die älteste von sechs Geschwistern und die einzige, die sich für den Sport entschieden hat. Als ihr Vater im Sommer 1985 verschwand, musste sie Ayacucho verlassen und ging nach Cusco, um dort zu arbeiten. Das Geld, das sie verdiente, schickte sie ihrer Mutter. Damals war sie acht Jahre alt. Seitdem ist sie daran gewöhnt, weit weg von zu Hause zu sein. Mit 15 Jahren, bevor sie Ultramarathonläuferin wurde, trainierte sie Kampfkunst. Später studierte sie Krankengymnastik, aber arbeitete nie in dem Beruf. Laufen war immer ihre Leidenschaft. Sie erzählt, dass sie in Trujillo an vielen Straßenläufen teilnahm und fast immer gewann. So wurde sie bekannt. Wenn es irgendwo einen Laufwettbewerb gab, sagten ihr die Leute Bescheid und sie ging hin.
2005 ging sie zu Fuß über die Anden-Kordilleren. 2500 Kilometer von Norden nach Süden, von Ayabaca in Piura bis Puno. Sie war 28, als sie zusammen mit Abel Simeon, Nilo Niño de Guzmán und Felipe Varela vier Monate lang diesen abenteuerlichen Weg über die größte Bergkette der Welt zurücklegte. Die Caminata por la paz y la solidaridad (Wanderung für Frieden und Solidarität) war ein symbolischer Akt, initiiert von der Defensoría del Pueblo (Ombudsstelle), um der 69 280 Gewaltopfer und ihrer Familien zu gedenken, die während der bewaffneten Auseinandersetzungen in Peru zwischen 1980 und 2000 getötet wurden, und um dem Land eine Botschaft der Versöhnung zu bringen. Durch diese Caminata wurden die vier bekannt als Los chasqui (früher die Inkaboten, die durch das ganze Inkareich liefen und Nachrichten überbrachten). Das war der erste Schritt auf dem Weg zum Ultramarathon.
2011 nahm sie am 21-km-Marathon der RPP Bank in Lima teil. Die Distanz war sieben Mal kürzer als ihre normale Strecke. Trotzdem kam sie als Dritte ins Ziel. Wenn sie an Ultramarathonwettbewerben teilnimmt, läuft sie oft bis zu vier Mal die Marathonstrecke von 42 km. Vielleicht ist Schnelligkeit nicht ihr Ding. Ihre Stärke aber ist auf jeden Fall die (physische) Widerstandskraft. Ein Ultramarathon bedeutet, sich mit unterschiedlichen klimatischen Bedingungen, verschiedenen Bodenarten und wechselnden Höhenmetern auseinanderzusetzen. Dafür braucht man Kraft, mentale Konzentration und Ausdauer. Seit dieser Zeit nimmt sie an Bergläufen teil.
Im Mai 2014 gewann sie den Trail Menorca Camí de Cavalls („Pferdeweg“, ein Küstenweg einmal um die Insel, als Wanderweg in 12 Etappen) in Spanien. Sie lief die 185 Kilometer in 28 Stunden. Das war ihr Debüt in diesem europäischen Wettbewerb und ihr erster internationaler Sieg. Sie lief ohne Laufstöcke und ohne Pacer. Geldmangel und fehlende Sponsoren sind Konstanten in ihrer Karriere. Aber wenn sie an Wettbewerben teilnimmt, denkt sie nicht daran, sie läuft, allein, in ihrem Rhythmus und immer auf das Ziel konzentriert. Manchmal spürt sie, dass ihr Körper eine Pause möchte, aber sie hält nicht an. In ihrem Kopf wiederholt sie den Satz „Sí, se puede“ (Ja, es ist möglich oder ja, man kann das – war u.a. das Motto der United Farm Workers in den USA). Aydee beschreibt ihr Durchhaltevermögen als etwas Übernatürliches, das aus ihr selbst kommt und ihr ermöglicht weiterzulaufen.
Bárbara Koch bewundert Aydee Soto, seit sie sie beim Desafío de Huarochirí laufen sah, dem ersten Berglaufwettbewerb in Peru. Sie lernten sich erst im Juli 2014 beim Paracas Desert Challenge in Chile kennen. Seitdem gehört Aydee zum Team BK Perú, das Koch trainiert. Das Wort Trainerin benutzen sie aber beide nicht. Sie fühlen sich als Schwestern. „Ich bin nicht ihre Mentorin, weil sie schon so geboren wurde. Ich habe sie nicht entdeckt. Sie ist schon immer Aydee Soto. Ich bin ihr Fan und deshalb unterstütze ich sie bedingungslos“, betont Koch.
Zusammen mit Bárbara sucht Aydee nach Menschen und Firmen, die sie unterstützen. Sie hat zwar mehrere Ultra Trails in Peru gewonnen, aber trotzdem ist sie in den Medien nicht präsent und erhält keine staatliche Förderung. Aydee träumt davon, am Ultra Trail Mont Blanc teilzunehmen, einem der wichtigsten europäischen Ultramarathons und einer der härtesten der Welt. Jedes Jahr überqueren AthletInnen aus aller Welt auf 170 km die Alpen und überwinden 10 000 m Höhenunterschiede. Aber ihr fehlt das Geld für den Flug und die sportliche Ausrüstung. Aydee könnte den Lauf gewinnen, dafür braucht sie aber Sponsoren.
Wenn sie in Lima ist, steht sie sehr früh auf und fährt zum Morro Solar, Chorrillos und läuft von dort die ganze Costa Verde entlang bis Callao. Sie hat fast zehn Jahre in Lima, im Stadtteil Pamplona, in San Juan de Miraflores gelebt. Jetzt wohnt sie in dem vom Andenhochgebirge umgebenen Caraz, der zweitgrößten Stadt in der Ancash-Region. Dort lebt sie in Frieden und Harmonie mit sich selbst. Sie läuft jeden Tag von 4:30 Uhr in der Frühe bis 11 Uhr. Dann frühstückt sie, ruht sich ein paar Stunden aus und geht dann wieder raus. „Laufen ist mein tägliches Brot. Wenn ich nicht laufe, vermisse ich es. Es ist mein Leben, mein Alles“, sagt sie. Während sie läuft, schaut sie sich ihre Umgebung an. Sie stammt aus Uchuraccay, das in den Bergen liegt. Deshalb weiß sie, dass die Apus (Berggottheiten) immer auf ihrer Seite sind.