Das Lateinamerika-Magazin

190 Jahre bolivianische Unabhängigkeit

Patriotismus, Geschichtsdiskurse, ökonomische Erfolge

Auf die historische Bedeutung der Bevölkerung des Beni und speziell der Moxeños ging Vizepräsident Álvaro García Linera in seiner Rede[fn]Die Reden von García Linera und Morales im Netz unter: http://www.cambio.bo/sites/default/files/suplemetos/pdf/discurso%20presidencial.pdf[/fn] während der Ehrensitzung ein: Moxos als Ort des Widerstands gegen die spanische Invasion, Moxos als „Wiege der Debatten über die Konstruktion einer plurinationalen Gesellschaft“ im 17. Jahrhundert. Den aktuellen plurinationalen Staat sieht García Linera als Synthese dieser und anderer Widerstandsbewegungen gegen die koloniale Herrschaft, wie die von Túpac Katari und Zárate Willka. In ihm kulminierten die vorherigen Phasen des Kampfes für die Plurinationalität, die lange Suche nach horizontalem Zusammenleben und Gleichheit der kulturellen, indigenen Nationen.

Anzumerken ist allerdings, dass das Konzept der Plurinationalität selbst erst Ende des 20. Jahrhunderts entstanden ist und jetzt als theoretischer Rahmen für die Interpretation der Geschichte dient, insbesondere der des indigenen Widerstands. Dieser wurde jahrzehntelang von der Geschichtsschreibung marginalisiert, ein Faktum, das in den letzten Jahren mit großer Anstrengung durch das Aufzeigen neuer Perspektiven ebenfalls zur Geschichte gemacht wird, was sich beispielsweise in der Beilage der Tageszeitung La Razón zum 6. August zeigt.

Die meisten großen Tageszeitungen nahmen den Nationalfeiertag zum Anlass, teilweise umfangreiche Beilagen zusammenzustellen, in denen u.a. Nationalsymbole und -heldInnen erklärt beziehungsweise vorgestellt werden und sich zahlreiche Artikel über Aspekte der Geschichte des Landes finden. Interessant sind die Diskurse um die Geschichte der Republik, die sich nicht nur, aber auch hier widerspiegeln. Zwei unterschiedliche Linien zeichnen sich dabei ab. Es geht um die Frage von Kontinuität oder Bruch mit der Republik, die mehr oder weniger als Fortführung des kolonialen Systems gesehen wird, und um die Frage von Freiheit.

Der Bruch ist in der Präambel der Verfassung des plurinationalen Staates von 2009 festgeschrieben, in der es heißt: „Wir lassen den kolonialen, republikanischen und neoliberalen Staat in der Vergangenheit.“ In derselben Linie argumentiert Morales, wenn er seine zehnte Rede zum 6. August damit eröffnet, dass die Unabhängigkeit vor 190 Jahren diese Bezeichnung nicht verdiene: „Die Republik (wohl im etymologischen Sinne der res publica, öffentliche Angelegenheit, Anm. d. Verf.) hat sich nie konsolidiert, die Republik hat nie existiert, Bolivien war eine Nation von Putschen, internen Oligarchien.“ Auch er erinnert an historische indigene Widerstandskämpfe und die der sozialen Bewegungen, dank derer „wir jetzt rufen können, dass wir frei sind, mit Souveränität und Würde, das gab es vorher nicht“.

Auf der anderen Seite finden sich in der Beilage einer Tageszeitung extra Titel wie „Geschichte Boliviens: 190 Jahre Freiheit“, womit die Kontinuität seit 1825 in den Vordergrund gestellt wird, und „Plurinationaler Staat Bolivien: Die Väter des Vaterlandes“, Überschrift einer Seite, auf der Simón Bolívar, Antonio José de Sucre und Andrés de Santa Cruz vorgestellt werden, deren Rolle zwar fundamental für die Gründung der Republik war, die jedoch nichts mit der Neukonzeption des Staates zu tun haben.

Ricardo Aguilar beschreibt in La Razón den Wandel im Diskurs der MAS vom radikalen Bruch hin zur Kontinuität, was sich insbesondere in der Forderung zum Zugang zum Pazifik zeigt, den es zum Zeitpunkt der Gründung der Republik 1825 gab. Die Forderung wurde zwar auch im 20. Jahrhundert immer wieder artikuliert, ist aber erst in den letzten Monaten und Jahren national wie international zu einem der wichtigsten Themen avanciert, bei dem es in keinster Weise um die Geschichte und historischen Interessen der indigenen und originären Bevölkerung geht, sondern bei dem die nationale Einheit oberstes Prinzip ist. Um international Verbündete für diese Forderung zu gewinnen, reisen im Auftrag der Regierung Expräsidenten um die Welt, logischerweise auch solche, die der Regierung innenpolitisch mitunter sehr kritisch gegenüberstehen wie beispielsweise Tuto Quiroga. Den programmatischen Wandel der MAS macht der Soziologe Fernando Mayorga insbesondere an der Agenda Patriótica 2025 fest, in der 13 Ziele festgelegt sind, die bis zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit erreicht werden sollen. Mit ihr soll der Bicentenario der so scharf kritisierten Republik gefeiert werden, aber es ist keine plurinationale, im Diskurs der Neugründung von 2009 verankerte Agenda, die die Kolonialität der Vergangenheit und die notwendige Dekolonisierung in den Vorder- grund stellt. Dennoch, so Mayorga, falle das Thema Indigenismus nicht unter den Tisch, aber der Schwerpunkt sei ein anderer, ein revolutionärer Nationalismus. Anders ausgedrückt, ist der Indigenitätsdiskurs von Morales und seiner Partei ein sehr offener, innerhalb dessen die Nation sich selbst als „indigen“ präsentiert, sodass der Nationalismus diese Form des „Indigenismus“ mit einschließt.[fn]www.la-razon.com/suplementos/especiales/Republica-sienta-presencia-Plurinacional_0_2323567677.html[/fn]

Neben der Geschichte ist die Wirtschaft ein zentrales Thema des Tages gewesen. Die Beilage des staatlichen Cambio ist mit dem Titel „Bolivien, energetisches Zentrum“ versehen. Das zu werden heißt, nicht nur Gas, sondern Strom zu exportieren. Dieses erklärte Ziel der Regierung soll mittels Vereinbarungen mit Peru, Argentinien, Paraguay und Brasilien auf den Weg gebracht werden. Im Rahmen des neuen ökonomischen Modells, geschmückt mit den Attributen sozial, kommunitär und produktiv, sollen die dadurch erzielten Staatseinnahmen der Bevölkerung direkt zugute kommen, etwa in Form der sogenannten Bonos, öffentlicher Investitionen in Infrastrukturen über das Programm Bolivia Cambia, Evo Cumple. (Bolivien verändert sich – Evo erfüllt seine Versprechen).

In seiner Ansprache an die Nation beziffert Morales die ökonomischen Erfolge, die Bolivien in ein wertgeschätztes, respektiertes Land verwandelt haben und von denen er selbst, wie er sagt, immer noch überrascht ist: 3,2 Prozent durchschnittliches Wachstum des BIP zwischen 1997 und 2005, danach 5 Prozent, Pro-Kopf-Einkommen 2005 1000 Dollar, 2014 3000 Dollar, öffentliche Investitionen 629 Millionen Dollar im Jahr 2005, geplant für dieses Jahr sind über 7000 Millionen, Anstieg des Mindestlohns von 440 Bolivianos (2005) auf 1656 Bolivianos (2014). 42 Prozent der Bevölkerung profitieren von den verschiedenen Sozialhilfeprogrammen der Regierung.

In dem Zusammenhang verkündet Morales die Verabschiedung eines Dekrets, mit dem schwangere Frauen von nun an unabhängig von ihrer Beschäftigungssituation Recht auf staatliche Unterstützung haben, womit sich die Zahl der Profitierenden versechsfachen werde. Dass er das mit den Worten: „Ich weiß nicht, womit mir die Frauen das bezahlen werden“, kommentiert, offenbart, dass Morales seinen Machismo noch immer nicht abgelegt hat. Daran erinnernd, dass Frauen die Hälfte jeder Revolution ausmachen, beantwortet Julieta Paredes ihm die Frage wenige Tage später: „Schluss damit, Bruder und Compañero Evo! Sie schenken uns nichts, was wir uns nicht verdient haben.“ Trotz dieser und anderer Kritik ist Morales zentrale Figur der aktuellen Prozesse in Bolivien, seine Beliebtheit enorm, wenn man den Statistiken glaubt. Eine in rot, gelb und grün getünchte Anzeige des Ministerio de Comunicación, die in verschiedenen Zeitungen geschaltet wurde, titelt: „Evo Morales, der beliebteste Präsident mit größter Unterstützung in Lateinamerika und der Welt“ und fasst Ergebnisse verschiedener Statistiken zusammen. Daneben eine Fotocollage, die Morales zwischen Túpac Katari, Simón Bolívar, Túpac Amaru, Bartolina Sisa und anderen NationalheldInnen positioniert; darunter eine Ansprache von Morales, in der sich die angesprochenen Punkte wiederfinden. PolitikerInnen aus dem Regierungslager betonen, dass sich das Land in den zehn Jahren der „Demokratischen und Kulturellen Revolution“ grundlegend verändert habe, so zum Beispiel Marianela Paco, Ministerin für Kommunikation: „Was wir gemacht haben, ist, die Patria wiederzuerlangen, die nationale Identität im Rahmen der Diversität zu konsolidieren, wir haben es geschafft, die Wirtschaft und Gesellschaft zu stabilisieren, wir haben eine politische Stabilität erreicht, die es uns erlaubt, unser Land so zusammenzuhalten, dass wir die Fähigkeit haben, im internatio- nalen Kontext Einfluss nehmen zu können und unser Recht auf einen souveränen Zugang zum Meer einfordern zu können.“ Heute sei Bolivien ein anderes Land, so die Präsidentin der Abgeordnetenkammer Gabriela Montaño, sehe die Welt Bolivien als Vorbild und auch die Art, wie BolivianerInnen sich selbst sehen, folge einer anderen Logik.

Dennoch, trotz aller ökonomischen Erfolge, des immer noch starken Rückhalts des Präsidenten und der daraus resultierenden vergleichsweise großen politischen Stabilität existieren Widersprüche und Konflikte, über die auch die Feierlichkeiten nicht hinwegtäuschen können. Zentral ist dabei der Widerspruch zwischen vivir bien, dem Schutz der pachamama und den per Verfassung garantierten Rechten indigener Gruppen einerseits und andererseits der massiven Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Erst kürzlich haben Guaranies der Capitanía Takovo Mora mit Straßenblockaden dagegen protestiert, dass in ihrem Territorium Erdöl gefördert werden soll und sie nicht vorab konsultiert worden seien. Von offizieller Seite hört man nicht viel mehr, als dass das betreffende Gebiet in privater Hand sei. Ein anderer, seit Juli ausgetragener und noch nicht beendeter Konflikt ist der zwischen dem Comité Cívico Potosinista und der Zentralregierung, weswegen in diesem Jahr in Potosí ein von dem Komitee organisierter Marsch der Würde die Paraden zum Nationalfeiertag ersetzte.