Die Gedanken waren bis zum Ende klar, doch der Körper wollte nicht mehr. Kurz vor seinem 103. Geburtstag starb in Mexico-Stadt Gilberto Bosques. Mehr als 50 Jahre ist es her, daß seinem Einsatz Tausende europäischer AntifaschistInnen, darunter viele Deutsche, ihr Leben verdankten. Da war Bosques mit seinen fast 40 MitarbeiterInnen als mexicanischer Generalkonsul im Marseille der Vichy-Regierung. Sein Präsident, General Lázaro Cárdenas, hatte ihn zum 1. Januar 1939 zur Übernahme des Konsulats nach Paris geschickt. Doch einmal dort, kam vieles anders als geplant. Die Spanische Republik verlor im Frühjahr den Krieg gegen Franco. Eine halbe Million Menschen drängte über die Grenze nach Frankreich. Lázaro Cárdenas machte den geschlagenen RepublikanerInnen ein generelles Asylangebot. Von Paris aus konnte die mexicanische Konsularbehörde nur wenige Monate helfen. Frankreich kapitulierte im Juni 1940 vor den Nazis, das Konsulat zog ins „freie“ Frankreich um. Bosques und seinen HelferInnen war klar, „daß wir uns nicht lediglich auf eine offizielle oder eine humanitäre Pflicht zurückziehen konnten, daß wir nicht nur einfach amtlich handeln durften“. So bezeichnete es der Generalkonsul in einem langen Interview, das die ila im Februar 1994 (ila 172) veröffentlichte.

Das nicht-amtliche Handeln beschränkte sich nicht auf die spanischen Flüchtlinge. Menschen aus ganz Europa, die es bis ins unbesetzte Frankreich geschafft hatten, bekamen vom Konsulat ein mexicanisches Visum. Selbst wenn sie gar nicht ausreisen wollten, bedeutete das Visum für viele einen Schutz: „Denn für die Behörden, für die Polizei, die Gestapo, auch die Polizei Francos, die in Frankreich operierte, war der Paßinhaber auf dem Weg, das Land zu verlassen. Er stellte also kein Problem mehr dar.“ (ila Nr. 172, S. 40) Das Konsulat weitete seine Arbeit von 1940 bis 1942 ständig aus, organisierte Verpflegung, Unterkunft, Papiere und vieles mehr. Zwei Schlösser wurden angemietet, um möglichst viele Menschen aufnehmen zu können. Eine Arbeitsvermittlung verhinderte, daß Flüchtlinge zu Zwangsarbeiten eingezogen und von dort nach Deutschland deportiert wurden. Natürlich konnte das nicht immer legal im Sinne der Vichy-Regierung ablaufen. So gelang Paul Merker, Mitglied des Politbüros der KPD, als „Sigmund Ascher“ die Ausreise mit mexicanischem Visum. Die SchriftstellerInnen Anna Seghers, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin, Friedrich Wolf, Ernst Weiß und Rudolf Leonhard, die Publizisten Konrad Heiden, Emil Julius Gumbel und Alfred Kantorowicz, die KPD-Funktionäre Franz Dahlem und Erhard Eissler bekamen ebenfalls das begehrte Ausweisdokument. Nicht alle erreichten Mexico, viele nutzten die Ausreise, um in einem anderen Land Asyl zu finden. Doch ohne den Einsatz von Bosques wäre ihnen diese Möglichkeit versperrt gewesen. Anna Seghers hat die Arbeit von Bosques in ihrem Roman „Transit“ festgehalten. Er und seine MitarbeiterInnen leisteten sie so gut, daß ihnen die mißtrauischen Behörden und die Nazispitzel nichts nachweisen konnten. Entgegen internationaler Abkommen wurde die gesamte mexicanische Belegschaft des Konsulats nach Deutschland deportiert, als Mexico 1942 den Nazis offiziell den Krieg erklärte. Vorher war es Bosques noch gelungen, alle wichtigen Dokumente verbrennen zu lassen. Im Rheinhotel Dreesen in Bad Godesberg wurde die mexicanische Mission bis 1944 interniert und dann gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht. Fritz Pohle berichtet in der ila Nr. 172, daß mehrere tausend spanische Flüchtlinge am Bahnhof Buenavista in Mexico-Stadt acht Stunden auf die verspätete Ankunft des Zuges warteten, in dem Gilberto Bosques und seine MitarbeiterInnen von New York aus ankamen.

Es würde dem Leben von Bosques jedoch nicht gerecht, nur auf seine Zeit in Frankreich zu verweisen. Der „Generalkonsul“ war nicht nur Diplomat, sondern auch Pädagoge, Politiker und Journalist. Als 17jähriger schloß er sich 1909 der mexicanischen Revolution an. 1916 von seinem Heimatbundesstaat Puebla als Bundesabgeordneter vorgeschlagen, wurde ihm diese Funktion aus Alterdgründen verwehrt. Nachdem er in Puebla politische Ämter innehatte, war er später dann doch zweimal im Bundesparlament. Die bisweilen revolutionäre Reformpolitik unter dem Präsidenten Cárdenas begeisterte ihn, der immer zum linken Flügel der Partei gehörte. Noch 1944 kehrte er unter Präsident Avila Camacho als Botschafter nach Portugal zurück, wo er trotz der Diktatur von Oliveira Salazar weiteren spanischen Flüchtlingen helfen konnte. Einer Zwischenstation als Botschafter in Schweden folgte die Entsendung nach Cuba. Dort konnte er den Sieg der cubanischen Revolution erleben.

1964 beendete er mit 74 Jahren sein Berufsleben im Staatsdienst. Der Abschied war mit Bedacht gewählt: Es begann die Amtszeit von Präsident Díaz Ordaz, der vier Jahre später für das Massaker an den StudentInnen auf dem Platz von Tlatelolco verantwortlich sein sollte. „Ich kannte ihn und sein Verhalten sehr gut“, begründete Gilberto Bosques noch im vergangenen Jahr seine Entscheidung. Überhaupt sah er die Zeit nach Lázaro Cárdenas als Rückschritt an: „Mexico erlebt heute eine Konterrevolution, die mit Avila Camacho begann.“ Kurz vor den Wahlen 1994 äußerte er sich gegenüber der Journalistin Cristina Pacheco über die Aufstandsbewegung der EZLN in Chiapas: „Ich glaube, sie hat das Interesse und die Sympathie des Volkes vom ersten Moment an erobert, weil die Indígenas und die Campesinos – die nach wie vor für Land und Freiheit kämpfen – sich mit einer Armee identifizieren, die in ihrem Namen den eines authentischen Kämpfers trägt: Emiliano Zapata.“

Gilberto Bosques ist in Mexico nicht vergessen. Zahlreiche Zeitungsartikel nach seinem Tod legen davon Zeugnis ab. Die Tageszeitung „La Jornada“ veröffentlichte unter anderem einen längeren Text der staatlichen mexicanischen Nachrichtenagentur Notimex. Darin wird auf die ila und das von ila-Mitarbeiter Gert Eisenbürger herausgegebene Buch „Lebenswege“ verwiesen, das auch das Interview mit Gilberto Bosques enthält. Bosques selber hat neben anderen Veröffentlichungen Teile seiner Lebensgeschichte aufgeschrieben. Cristina Pacheco trifft es vielleicht am besten in ihrem Nachruf. Sie schreibt: „Vielleicht sein bestes Werk ist sein beispielhaftes Leben. Es zu erinnern, das heißt, es wiederzulesen, wird immer eine Lektion von Liebe und Hoffnung sein.“ Mehr als hundert Jahre aufrechter Gang. Ein beneidenswertes Leben.