Acteal – Ein Staatsverbrechen

Im Zusammenhang mit dem Massaker von Acteal gab es Ende 2010 gute Nachrichten: Der Fall wurde zur Verhandlung vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zugelassen. Dieser sah ausreichend Anhaltspunkte dafür, dass der mexikanische Staat damals grundlegende Menschenrechte verletzt hat.

Diese staatliche Verantwortlichkeit aufzuzeigen, ist ein zentrales Ziel des nun in Deutsch erschienenen Buches „Acteal. Ein Staatsverbrechen“ des mexikanischen Schriftstellers und Journalisten Hermann Bellinghausen. Seit 1994 berichtet er aus Chiapas und hat somit die Ereignisse rund um den brutalen Mord an 45 Menschen, Mitgliedern der widerständigen, pazifistischen Organisation Las Abejas, durch Paramilitärs am 22.Dezember 1997 aus nächster Nähe miterlebt.

Der Autor macht in seinem Buch unmissverständlich deutlich, dass dieses Verbrechen sich über Monate abzeichnete, und dass dahinter Strategie und Verantwortlichkeit hoher AmtsträgerInnen standen. Über eine Neuzusammenstellung der damaligen Berichterstattung seiner Zeitung La Jornada beschreibt er detailliert Ereignisse und AkteurInnen vor und nach dem Massaker – insbesondere auf der lokalen Ebene des Landkreises Chenalhó.

Zunächst untermauert er anhand vieler Beispiele seine These, dass der Landkreis für Regierung und Militär seit Anfang 1997 ein Versuchsfeld für die Paramilitarisierung im Rahmen der Aufstandsbekämpfung gegen die Zapatistas war. Durch die Fülle der Indizien wird klar: Die Behörden setzten gezielt eine Gewaltspirale in Gang und förderten diese immer wieder. So wurde ein derartiges Verbrechen immer wahrscheinlicher. Dieser Massenmord, so zeigt er dabei auch, war aber nur die schlimmste Konsequenz des „Krieges niederer Intensität“: Die Paramilitarisierung zerstörte schon zuvor das sozio-kulturelle Geflecht der indigenen Gemeinden. In immer schlimmerem Ausmaß hatte diee Bevölkerung Vertreibung, Zerstörung ihrer Häuser und Ernährungsgrundlage, tausendfaches Flüchtlingselend und dutzende Morde zu erleiden. Die Strategie war aufgegangen: Jetzt hieß es nicht mehr Indígenas gegen Regierung, sondern Indígenas gegen Indígenas. Die ebenfalls dargestellten Versuche der Abejas und Zapatistas, dies abzuwenden, waren angesichts der durch Straflosigkeit und behördliche Komplizenschaft angestachelten Paramilitärs erfolglos.

Diese Darstellung belegt auch, dass das Verbrechen hätte verhindert werden können. Aber daran hatten die Behörden kein Interesse. Deren nur noch mit Absicht zu erklärendes Versagen setzte sich während und nach dem Massaker fort. Die Schilderungen dieser Phase fügen sich zu einem klaren Bild zusammen: Trotz Alarmierung der Behörden und Stationierung in Hörweite, griffen Polizei und Armee nicht ein. Trotz heftiger nationaler und internationaler Empörung, wurde die Aufstandsbekämpfung fortgesetzt. Trotz des Versprechens, für Aufklärung und Bestrafung zu sorgen, war die Aufarbeitung vor allem durch Vertuschung und Straffreiheit gekennzeichnet. Nur ein Teil der direkten Täter wurde verurteilt. Einige untere Amtsträger mussten ihren Hut nehmen.

Aber, so der Autor, die wahren Schuldigen saßen in der mexikanischen Bundesregierung. Wie er beklagt, blieb der damalige Präsident und damit Hauptverantwortliche Ernesto Zedillo bis heute völlig unbehelligt. Es sei daher weiterhin wichtig, der Version der Mächtigen die eigene Wahrheit entgegenzustellen. Deshalb beschäftigt er sich auch intensiv mit den von Behörden und rechten Intellektuellen vorgebrachten Interpretationen, die Täter und Verantwortliche freisprechen sollen.

Diese zu widerlegen, gelingt Bellinghausen mit seinem engagierten und klar Position beziehenden Buch. Die Fülle der Indizien ist überzeugend. Der Text nennt Namen und Verantwortlichkeiten. Durch die nah an der damaligen Berichterstattung orientierte, detailreiche Schilderung der Ereignisse bekommen die LeserInnen einen lebhaften Eindruck der Situation. Die immer wieder eingeschobenen Analysen und Schlussfolgerungen helfen, Zusammenhänge zu erkennen. Sehr gut ist die Kontextualisierung für deutsche LeserInnen durch Einleitung, Epilog und umfangreiches Glossar.

Allerdings wird die These, dass das Massaker ein Staatsverbrechen war, nicht systematisch genug herausgearbeitet. Dem Text ist zu stark anzumerken, dass für seine Entstehung zeitgenössische Artikel verwendet wurden. Manchmal stehen Beispiele und Analysen wie unverbundene Puzzleteile nebeneinander. Das dadurch entstehende unmittelbare und dichte Panorama entfaltet zwar durchaus Wirkung, einer stringenten Analyse ist es so aber eher abträglich.

Insgesamt vermittelt das Buch gut die schlimmen Folgen der Aufstandsbekämpfung. Auch die dahinter liegenden Prozesse, Absichten und Verantwortlichkeiten werden deutlich. Schade, dass es nicht gelingt, diese beiden Stärken in Einklang zu bringen, was durch eine konsequentere (Neu-)Strukturierung möglich gewesen wäre.

In kompakter und doch detaillierter Form arbeitet das Buch eine wichtige Episode mexikanischer Zeitgeschichte auf. Eine Episode, die bis heute nicht abgeschlossen ist: Die juristischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen – von denen das Buch ein Teil ist – gehen in eine neue Runde. Darüber hinaus geht die Aufstandsbekämpfung in anderer Form weiter. Die Repression nimmt aktuell wieder zu. Daher ist das Buch auch eine wichtige Mahnung, unser Möglichstes zu tun, dass ein weiteres Acteal nicht geschieht und dass ihr mutiger Widerstand den Menschen endlich ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben in Frieden bringt. Es sei daher allen engagierten und an Mexiko und Lateinamerika interessierten Menschen zur Lektüre empfohlen.

Hermann Bellinghausen, Acteal. Ein Staatsverbrechen, hg von Peter Clausing, Luz Kerkeling und Thomas Zapf, Band 1 der Reihe Studien zur globalen Gerechtigkeit, Unrast-Verlag: Münster 2010, 120 Seiten, 13,- Euro