Im Jahr des 100. Geburtstags des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire (1921-1997) erscheint der Sammelband „Begegnung verändert Gesellschaft“ mit mehr als 40 Aufsätzen über eine von Freire inspirierte Bildungspraxis. Freire ist eine*r der bedeutendsten Pädagog*innen des 20. Jahrhunderts gewesen. In seiner „befreienden Pädagogik“ stellte er die Erfahrung und das Wissen der Lernenden in den Mittelpunkt und hat damit die Beziehung zwischen Lernende*r und Lehrende*r neu bestimmt.

Diese Neubestimmung und der damit angestrebte Dialog ziehen sich als roter Faden durch die Buchbeiträge. Sie bildeten auch die Grundlage für die Entstehung des Buches, denn die Artikel sind im ständigen Dialog zwischen Herausgeberinnen und Autor*innen entstanden.

Die drei Herausgeberinnen Ilse Schimpf-Herken (1946-2021), Annette Nana Heidhues und Mariana Schmidt Quintero kommen selbst aus der Freire-geprägten Bildungsarbeit. Ilse Schimpf-Herken hat sich mehr als 20 Jahre lang einem pädagogischen Austausch und einer Weiterentwicklung der Freire-Pädagogik beiderseits des Atlantiks gewidmet.

Die Autor*innen aus Chile, Peru, Kolumbien, El Salvador, Guatemala, Honduras und Deutschland schreiben über ihre Bildungspraxis aus unterschiedlichen Perspektiven (Schule, Universität, Sozialarbeit, Friedenspädagogik, soziale Bewegungen, educación popular). Die Beiträge beziehen sich auf aktuelle gesellschaftliche Debatten und drücken auf sehr persönliche Weise aus, wie die Autor*innen durch die Beschäftigung mit Freire ihre Sicht auf die Gesellschaft und ihre eigene pädagogische Arbeit verändert haben. Der Band umfasst Themenbereiche wie Bildung und Transformation, Erinnerungsarbeit, Gender und kritische Bildungsarbeit.

Einen sehr guten Einstieg in das Thema der educación popular gibt der Soziologe César Osorio Sánchez aus Kolumbien. Für Sánchez liegt die Bedeutung der educación popular darin, Gemeinschaften bei der Schaffung des Wissens den ihnen zustehenden Platz einzuräumen. Dadurch kann es gelingen, eine Pädagogik und eine Forschung zu praktizieren, die eine ethische und politische Haltung einschließen. Er fordert, dass Bildung die kritische Reflexion des eigenen Umfeldes anregen und gemeinschaftliches Handeln in seinem transformativen Potenzial stärken sollte. Vor dem Hintergrund aktueller sozialer Konflikte in Lateinamerika stellt er die Bedeutung des alltäglichen Lebens als Lernraum dar und sieht in der emanzipatorischen Bildung auf der Grundlage von Freire eine Voraussetzung für die Entwicklung von Zukunftsvisionen.

Was in Sánchez‘ Artikel theoretisch beschrieben wird, bekommt in anderen Artikeln einen praktischen Bezug. Die chilenische Kunstpädagogin Marcela Pino Arraño reflektiert beispielsweise ihre Arbeit in einem Frauengefängnis in Santiago. Wie den Frauen durch Bildung zu etwas mehr Freiheit verholfen wird, haben sie nicht nur den Alphabetisierungskursen nach Freire zu verdanken, sondern der pädagogischen Arbeit Arraños, die von Empathie und Neugier gegenüber dem Leben ihrer Schülerinnen geprägt ist.

Sehr lesenswert sind drei Beiträge von Lateinamerikanerinnen (Baqueros Torres, Tribin, Molina Espinoza), die in Deutschland leben und in verschiedenen Bildungskontexten (Schule, Universität, außerschulisch) arbeiten. Baqueros setzt sich mit ihrer Stellung an einer deutschen Universität kritisch auseinander und geht der Frage über die Rolle von Bildung bei der Reproduktion von gesellschaftlicher Ungleichheit nach.

So vielfältig die Herkunft der Autor*innen ist, so divers sind auch die Artikel in ihrer Herangehensweise an pädagogische Fragen unserer Zeit. Etliche hervorragende Beiträge geben Impulse für eine Bildungsdebatte, andere wiederum bleiben auf der Ebene des persönlichen Erzählens. Diese Vielfalt ist interessant, erschwert es jedoch, ein eindeutiges Zielpublikum des Buches auszumachen.

Dennoch ist die Lektüre für Bildungspraktiker*innen empfehlenswert. Die Beiträge geben nicht unbedingt Antworten, zeigen aber Perspektiven und setzen wichtige Impulse in Hinblick auf eine dekoloniale Bildungsarbeit. Zudem gibt das Buch erhellende Einblicke in soziale Realitäten Lateinamerikas, ermutigende Anregungen, wie in einem Klima von Unsicherheit, Gewalt und sozialer Ungerechtigkeit Bildung an der Basis Hoffnung geben kann, und stellt inspirierende Fragen für eine emanzipatorische und empathische Bildung. Ganz nach Freire, der Bildungsprozesse in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Analyse und Reflexion von Macht- und Unterdrückungsverhältnissen gebracht hat, zeigen die unterschiedlichen Aufsätze die politische Bedeutung von Bildung.