Welche Auswirkung hatte das Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten der Regierungspartei PRI, Luis Donaldo  Colosio, auf den Dialogprozeß zwischen Regierung und EZLN und auf die Situation in Chiapas?

Als die erste Dialogrunde in San Cristóbal beendet war, kehrten wir in unser Gebiet zurück, um mit den Gemeinden zu beraten, was sie von den Vorschlägen der Regierung hielten. Als erstes haben wir die Dokumente mit den Mitgliedern des Geheimen Revolutionären Indígena-Komitees (CCRI) besprochen, denn an den Verhandlungen hat ja nur eine kleine Delegiertengruppe und nicht das gesamte CCRI teilgenommen. Jede einzelne Forderung und die Antwort der Regierung darauf wurden erläutert und diskutiert, und dann begannen wir damit, alles in eine einfachere, klare Sprache zu übertragen, die in den Dörfern verstanden werden kann.

Damit sind wir also beschäftigt, als eine Reihe militärischer Manöver beginnt. Die Truppenstärke der Regierungsarmee rund um unser Gebiet wird erhöht, und auch der äußere Belagerungsring wird verstärkt. Dazu sagt die Armee, daß sie Truppen abziehe, bzw. auswechsle. Zu beobachten ist aber nur, daß neue Kräfte eintreffen, nicht jedoch, daß welche abziehen. Es kommt zu Bombardierungen in einigen Ortschaften nahe Altamirano. An den Militärkontrollstellen in Ocosingo und Altamirano gab es Festnahmen von Campesinos entsprechend einer Schwarzen Liste, die die Regierungsarmee führt. Einige festgenommene Campesinos „verschwinden“ auf diese Weise. Andererseits beginnen gleichzeitig die Angriffe der Viehzüchter, die öffentlich erklären, daß sie nicht mit den Vorschlägen der Regierung aus der ersten Verhandlungsrunde einverstanden sind. Ähnlich melden sich andere Teile der rechten Oligarchie zu Wort, wie zum Beispiel die „Coletos“, die rechten „Aristokraten“ von San Cristóbal de las Casas. Insgesamt fehlten Hinweise darauf, daß der Dialogprozeß, also der Friedensprozeß, ernsthaft vorankommen könnte. In diesem Klima wollte das Geheime Revolutionäre Indígena-Komitee davor warnen, daß es die Beratung der Ergebnisse der ersten Dialogrunde suspendieren könnte, bis die Regierung die dafür erforderlichen Bedingungen schaffe, also die aggressive Stimmung überwunden sei. Wir waren gerade dabei, ein entsprechendes Kommuniqué an die Regierung auszuarbeiten, als wir die Nachricht vom Mord an Luis Donaldo Colosio erfuhren.

Wir bewerteten dies als einen Anschlag, für den die EZLN direkt oder indirekt verantwortlich gemacht werden sollte. Direkt in dem Sinne, daß wir den Mörder instruiert oder beauftragt hätten. Das läßt sich mangels Beweisen nicht aufrechterhalten, und sowieso ist es absurd, denn wenn das Attentat an Colosio jemandem geschadet hat, dann in erster Linie den Zapatisten, denn Colosio hatte sich öffentlich verpflichtet, die Ergebnisse der ersten Dialogrunde zu akzeptieren. Es wäre wirklich völlig absurd, uns ein Interesse an diesem Mord zu unterstellen.

Die Beschuldigungen liefen dann mehr auf der indirekten Ebene, indem gesagt wurde, daß die EZLN mit ihrem Vorstoß am 1. Januar ein Klima der Gewalt geschaffen und dazu beigetragen habe, daß andere Gewalt als ein positives Mittel betrachteten, was den Mord an Colosio provoziert habe.

Auf anderer Ebene analysierten wir, daß dieses Attentat Teil einer Desavouierungskampagne gegenüber der EZLN ist, die bereits vorher begonnen hat. Sie wissen sehr gut, daß wir schlecht bewaffnet sind, daß unsere Hauptkraft das Ansehen innerhalb der mexicanischen Bevölkerung ist. Und dieses Ansehen wollen sie zerstören oder zumindest verringern, um dann einen militärischen Angriff rechtfertigen zu können.

Alles, was ich erwähnt habe, zusammengefaßt: die militärischen Manöver, die Aggressionen der Großgrundbesitzer und nun der Anschlag gegen Colosio wiesen auf die drohende Gefahr eines militärischen Angriffs hin. Deswegen haben wir in dieser Situation beschlossen, die Beratungen der Ergebnisse der ersten Dialogrunde in den Gemeinden auszusetzen. Denn die Kämpferinnen und Kämpfer, die in ihren Dörfern waren, um an den Diskussionen teilzunehmen, mußten an ihre Stellungen zurückkehren, um eventuelle Angriffe abzuwehren. Das ist schließlich der weiterhin gültige Befehl des CCRI: unser Gebiet bis zum letzten Mann und zur letzten Frau zu verteidigen. Wir können unsere Zivilbevölkerung ja nicht kampflos der Regierungsarmee ausliefern.

Seither haben wir nichts mehr von Camacho, dem Regierungsbeauftragten für den Dialog mit der EZLN, gehört. Er ist zwar vor zwei Tagen wieder nach Chiapas gekommen, aber bisher gab es keinerlei Nachricht von ihm. Überrascht hat uns das zunächst nicht, wir haben damit gerechnet, denn das Attentat auf Colosio war auch ein schwerer Schlag gegen Camacho und seine politische Position. Inzwischen ist Cedillo zum neuen Präsidentschaftskandidaten ernannt worden, aber es ist noch nicht einschätzbar, welche Auswirkungen dies auf den Friedensprozeß haben wird. Was wir mit Sicherheit sagen können ist, daß Cedillo direkt von Präsident Salinas ausgewählt wurde, daß es ein erneuter „dedazo“ war, eine eigenmächtige Entscheidung des Präsidenten auch gegenüber seiner eigenen Partei. Aber es ist noch unklar, wie Cedillo sich gegenüber Camacho und dem Friedensprozeß in Chiapas verhalten wird. Wir müssen abwarten, welche Kräfteverhältnisse aus dem internen Machtkampf innerhalb der Machtgruppe der Regierungspartei hervorgehen, welche Rolle Cedillo dabei spielt und was das für Camacho bedeutet. Gegenwärtig gibt es Gerüchte, daß er als Friedensbeauftragter abgelöst und als Botschafter nach Spanien geschickt werden soll. (Hat Camacho inzwischen dementiert – d. Red.) Insgesamt also alles Anzeichen gegen einen Fortschritt des Dialogprozesses. Wir werden wie gesagt in höchster Alarmbereitschaft abwarten. Es gibt Hinweise darauf, daß die Regierung vor Ende Mai auf eine wie auch immer geartete Lösung drängen wird, sei es auf die Unterzeichnung eines Friedensabkommens oder auf eine militärische Entscheidung. Denn im Juni und Juli wird der NAFTA-Vertrag erneut im US-amerikanischen Kongreß behandelt. Und die entscheidende Phase des mexicanischen Präsidentschaftswahlkampfes steht bevor. Im gegenwärtigen politischen und ökonomischen Krisenpanaroma Mexicos bedeutet die EZLN ein Störfaktor und eine Behinderung für die Pläne Salinas, der behoben werden muß. Aber wie gesagt, wir müssen zunächst abwarten, was weiter geschieht.

Werden in einer möglichen zweiten Verhandlungsrunde wiederum nur EZLN und ein Abgesandter der Regierung teilnehmen, oder sind die Zapatisten daran interessiert, daß andere Teile der mexicanischen Gesellschaft vertreten sind, beispielsweise VertreterInnen der Bauern- und Indígenaorganisationen? Auch die Viehzüchter fordern ihre Beteiligung an weiteren Verhandlungen.

Wir sind der Auffassung, daß eine mögliche zweite Verhandlungsrunde notwendigerweise die nationalen Aspekte behandeln muß, die die Regierung in der ersten Verhandlungsphase ausgeklammert hat. Wir sind nicht damit einverstanden, daß unsere Forderungen nur auf die lokale Ebene bezogen werden, oder gar nur auf bestimmte Gemeinden, von denen die Regierung glaubt, daß es dort Zapatisten gebe. Wir bestehen auf der nationalen Dimension der Problematik. Deswegen haben wir auch zur Beratung der Regierungsvorschläge aus der ersten Dialogrunde auf nationaler Ebene eingeladen und inzwischen viele Kommentare, Vorschläge und Briefe aus verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren erhalten. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen bitten uns, ihre Forderungen in die nächsten Verhandlungen mit aufzunehmen. In all diesen Briefen wird gebeten, die Forderungen nach Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit als nationales Anliegen zu behandeln.

Wir meinen, daß die Bauern- oder anderen Organisationen gegebenenfalls der EZLN das Mandat zur Verhandlung ihrer Anliegen gegenüber der Regierung übertragen, oder tatsächlich mit eigenen Delegierten teilnehmen können. Über die genaue Verfahrensweise berät das Geheime Revolutionäre Indígena-Komitee noch und wird dazu auch die anderen Organisationen konsultieren.

Wollt ihr die Viehzüchter auch am Verhandlungstisch haben?

Nein. Soweit wir das übersehen können, sind die Viehzüchter in zweierlei Hinsicht besorgt. Zum einen wegen ihrer Ländereien innerhalb der von uns kontrollierten Zone. Aber das ist nicht der Hauptpunkt. Denn sie wissen genau, daß wir ihr Land nicht anrühren. Gleichwohl behaupten sie es, um Druck auf die Regierung auszuüben. So weit es zu Landbesetzungen in Chiapas kam, geschah dies in nicht von uns kontrollierten Gebieten und außerdem in Verantwortung anderer Organisationen. Zum anderen, und weit mehr, besorgt sie der Verlust ihres Feudalen-Status. Denn die Forderungen der Indígenas gegen die rassische Diskriminierung, die Demütigung, den fehlenden Respekt vor ihren Traditionen und ihrer Kultur usw. zielen auf eine Gleichberechtigung mit dieser „Aristokratie“. Diese Familien sind nicht in einem Geiste erzogen worden, der so etwas erlauben würde. Seit den Zeiten der Eroberung hat die herrschende Klasse in Mexico zweifellos Modernisierungs- und Internationalisierungsprozesse durchlaufen. Aber in Chiapas war das nicht so. Wenn du in Chiapas mit einem Viehzüchter sprichst, sprichst du mit einem Feudalherrn. In den ländlichen Gebieten von Chiapas kann man nicht einmal davon reden, daß die Regierung dort die Macht ausübt, höchstens vielleicht in den zentralen Gemeinden. Aber im übrigen Gebiet herrschen die Großgrundbesitzer und ihre bewaffneten Banden, die „Weißen Garden“, wie kleine Feudalherren mit eigener Armee und ihren Leibeigenen, den Indígenas. Was also könnten diese Leute uns am Verhandlungstisch vortragen? Daß wir nicht fordern sollen, was wir verlangen, oder daß sie unsere Probleme lösen wollen?

Besteht nicht die Gefahr, daß mögliche Abkommen der EZLN mit der Regierung in der Umsetzung an diesen Leuten scheitern werden?

Es gibt einfach Dinge, die können nicht verhandelt werden, die müssen praktisch durchgesetzt werden. Wir können unmöglich mit den Großgrundbesitzern über Gleichheit verhandeln, die müssen wir ihnen abtrotzen. Das Problem der aggressiven Unbelehrbarkeit der Landherren ist ein Problem der Regierung. Denn die Regierung hat sie wachsen lassen, hat sie begünstigt, ihnen Waffen gegeben, sie trainiert, ihnen Macht überlassen, und nun hat sie sie nicht mehr unter Kontrolle. Oder will sie nicht kontrollieren. Dieses Problem muß die Zentralregierung Mexicos lösen, wenn sie wirklichen Frieden will. Aus diesem Grunde schließen wir ausdrücklich unsere eigene Entwaffnung im Zuge des Friedensprozesses aus. So lange die Landaristokratie ihre Machtstellung behält und die „Weißen Garden“ weiterbestehen, wird es in Chiapas keinen Frieden geben.

Wann wird in den Gemeinden der EZLN die Beratung der Ergebnisse der ersten Dialogrunde fortgesetzt werden?

Möglicherweise nach dem 10. April, falls es günstigere Rahmenbedingungen für die Fortsetzung des Friedensprozesses gibt. Das ist aber noch völlig unsicher. (Bisher wurde die Konsultation noch nicht wieder aufgenommen – d. Red.) Dafür benötigen wir ernsthafte Beweise des Friedenswillens, mit einfachen Absichtserklärungen werden wir uns nicht zufriedengeben. Beispielsweise erklärt die Armeeführung öffentlich, daß sie Truppen abziehe. Aber das ist nicht wahr, sie verlegen die Truppen nur.

Zeichnet sich vielleicht bereits ein erstes Meinungsbild der EZLN-Basis bezüglich der Angebote der Regierung aus der ersten Dialogrunde ab?

Ja. Unsere 34 Forderungen, die wir der Regierung vorgelegt haben, verstehen wir als nationale Anliegen. Was wir beispielsweise bezüglich der Rechte der Indígenas fordern, soll für alle Indígenas Mexicos gelten. Was wir für die Bauern fordern, bezieht sich ebenfalls auf das gesamte Land. Ebenso die übrigen Forderungen. Was die Regierung in der ersten Dialogrunde gemacht hat, ist, den nationalen Aspekt auszuklammern und zu versuchen, die Probleme auf lokaler Ebene zu lösen. Dafür versuchten sie, uns zu gewinnen in der Annahme, daß sie es mit Leuten zu tun haben, die kein nationales Bewußtsein oder keine nationale Perspektive haben. Sie glauben wirklich, daß die Probleme unserer Leute unverzüglich zum Beispiel durch den Bau einer Straße, einer Schule oder eines Krankenhauses gelöst werden könnten, und daß dann Ruhe sei. Aber die Mitglieder der EZLN-Delegation haben klar zum Ausdruck gebracht, daß es zu Änderungen auf nationaler Ebene kommen muß, damit Änderungen auf regionaler, lokaler Ebene möglich werden. Es ist ein Trugschluß anzunehmen, daß nur Chiapas sich ändern könnte und der Rest des Landes weitermacht wie bisher. Diesem Irrtum sind die Leute schon vorher aufgesessen. Soweit eine erste Bewertung, also daß die vorgetragenen Probleme nicht lokal gelöst werden können.

Ein zweiter Punkt ist folgender: Was bisher vorliegt, ist ein Stapel Papier, in dem die Regierung sich zu dem Versprechen verpflichtet, möglicherweise die Einrichtung von Kommissionen in Betracht zu ziehen, die Lösungsvorschläge ausarbeiten könnten… Alles wird lange hinausgeschoben, aber von uns wird erwartet, daß wir sofort einen Friedensvertrag unterzeichnen und auch noch die Waffen abgeben sollen. Wieder einmal greift die Regierung zum Mittel bloßer Versprechungen in der Absicht, zu kooptieren und zu bremsen. Aber die Regierung steht Leuten gegenüber, die lange Erfahrungen mit solchen Lügenmethoden hinter sich haben. Das sind keine Menschen ohne politische Erfahrungen. Diese Leute haben lange Jahre legalen und gewaltlosen politischen Kampfes hinter sich, bei dem sie immer wieder betrogen wurden. Als wir am 1. Januar den Krieg begannen, geschah dies mit der Bereitschaft zu sterben. Die Regierung hat also mit Menschen zu tun, die zu allem bereit sind, und die nicht ihre Würde, für die sie in den Kampf gezogen sind, für einen Stapel Papier eintauschen wird.

Nach der ersten Dialogrunde, in der es darum ging, die Positionen darzulegen und anzuhören, steht jetzt an, in wirkliche Verhandlungen einzusteigen. Dabei werden wir unsererseits darauf bestehen, daß auf unsere nationalen Forderungen nationale Antworten gegeben werden. Auf die grundlegenden Forderungen nach Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit erwarten wir konkrete Antworten, denn darauf hat die Regierung bisher sehr vage reagiert.

Wie ist das „Revolutionäre Frauengesetz“ entstanden? Es ist tatsächlich revolutionär in Anbetracht der untergeordneten Rolle der Frauen in den Indígena-Gemeinschaften.

Als die Zapatistische Armee ihre Arbeit in den Bergen aufnahm, entschieden wir, daß es keine besonderen Aufnahmekriterien geben sollte. Junge, Alte, Kinder ab einem bestimmten Alter, Männer wie Frauen konnten sich integrieren. Einige der ersten Mitglieder luden Familienangehörige, Schwestern zum Beispiel, dazu ein, sich anzuschließen. Sei es, daß die Familie sehr groß war oder daß sie nicht wußten, wovon sie leben sollten, oder daß sie bereits sehr politisiert waren. Das kam gerade bei Familienangehörigen der Gründungsmitglieder vor, die heutzutage eine Art indianischer Elite darstellen, die in jeder Hinsicht gut ausgebildet ist. So kamen die ersten Indígena-Frauen zu den Zapatisten.

Bei den Zapatisten lernen die Frauen vieles, was ihnen in den Dörfern verschlossen blieb. Zum Beispiel lernen sie Spanisch, lesen und schreiben, Grundkenntnisse in Mathematik, Geographie, Geschichte. Sie lernen Waffen zu tragen und zu handhaben und, was das Außergewöhnlichste ist, sie lernen Kommando zu führen, auch über Männer. In der Zapatistischen Armee war das problemlos, denn das entsprach unserer Logik. Wir unterscheiden nicht zwischen Männern und Frauen, sondern alle sind Kämpfer. Als wir in Beziehung zu den Dorfgemeinschaften traten, beobachteten die jungen Frauen der Dörfer, daß Indígena-Mädchen wie sie, die ihre Maya-Sprache sprechen, aber gleichzeitig Spanisch beherrschen, Waffen tragen und über Männer befehlen. Das hat tiefen Eindruck bei den Mädchen hinterlassen. Wie das so ist, wenn Frauen untereinander reden, sprechen sie auch über Männer, über Beziehungen. Es wurde gefragt, wie das denn so sei bei den Zapatisten, ob sich da was zwischen Männern und Frauen abspiele oder ob das verboten sei. Unsere Frauen erzählten, daß die Männer sich annähern könnten, und wenn du willst, willst du, aber wenn nicht, müssen sie es akzeptieren. Keiner kann dich zwingen. Vor allem aber, die Frauen können den Mann ansprechen, der ihnen gefällt, und müssen nicht warten, bis er vielleicht kommt. Flirten auch von Frauen ist erlaubt! So etwas von ihresgleichen zu hören, war für die Mädchen der Dörfer ein heftiger Schlag, deren Aussicht nicht etwa ist, den Mann zu heiraten, der ihnen gefällt, sondern den, der daherkommt und sie von ihrem Vater kauft. Von da an drängten mehr Mädchen und Frauen darauf, zu uns in die Berge zu kommen. Die Familien lassen sie gehen, weil bereits ihr Bruder, ihr Onkel oder Vetter bei den Zapatisten ist. Und das gleiche wiederholt sich in größerem Maßstab: diese Frauen besuchen ihre Familien, ihre Dörfer, können jetzt spanisch sprechen, lesen, schreiben, rechnen, mit der Waffe umgehen. Weitere Frauen bestehen darauf, sich uns anzuschließen. Das wiederholt sich und wiederholt sich. Schließlich beginnen die Frauen, die nicht fortgehen können, Druck auszuüben: Warum gilt für die Frauen in den Bergen dieses und jenes und für uns nicht? Auch wir sind Zapatisten, auch wenn wir nicht in die Berge gehen können. Die Frauen aus den Bergen erzählen ihnen, daß sie dort Gleichberechtigung genießen und daß dies auch in den Dorfgemeinschaften gelten müßte. Auf diese Weise beginnen die Frauen, in den Dörfern Druck auf die Männer auszuüben und zu verlangen, bei Dingen mitreden zu können, die bisher nur Männer unter sich besprochen haben. Natürlich waren die Männer dagegen. Allein das Recht der Frau, ihren Partner auszusuchen, ist ein schwerer Schlag gegen die patriarchale Herrschaft der Männer. Ebenso der Anspruch der Frauen darauf, die Anzahl ihrer Kinder zu bestimmen. Hier kommen zwei Aspekte zusammen, der der sexuellen Dominanz und ein ökonomischer. Bei der Kinderzahl geht es nicht nur um den Wunsch der Männer, ihre Zeugungskraft zu beweisen, sondern je mehr Kinder da sind, desto mehr Arbeitskräfte für die Landwirtschaft stehen der Familie zur Verfügung. Letztlich ist das natürlich ein Trugschluß, denn das Land reicht nicht aus, um es später auf viele Kinder aufzuteilen, und alle werden im Endeffekt ärmer. Für die Frauen geht es dabei noch um mehr: sie tragen schwer an der hohen Kindersterblichkeit. Von zwölf, vierzehn Kindern sterben fünf oder sechs mit Sicherheit. Sie fragen sich also, warum soll ich so viele Kinder gebären, nur damit ich sie hinterher sterben sehen muß? Ich will keine Kinder für den Tod zur Welt bringen.

Auf diesen Druck der Frauen reagieren die Dorfgemeinschaften unterschiedlich. Das hängt auch von der Ethnie ab. Manche widersetzen sich stärker, in anderen hat die Frau traditionell eine stärkere Rolle. Jedenfalls gibt es heftige interne Kämpfe. Und im Moment, als der Krieg beschlossen wurde – das war im Oktober 1992, noch ohne genaue zeitliche Festlegung – wurde auch über die Gesetze entschieden, die in den zapatistischen Gemeinden gelten sollen. Es wurde der Vorschlag für das Agrargesetz präsentiert, für das Kriegssteuergesetz und so weiter. Bei dieser Gelegenheit bildeten die Frauen ein Führungsgremium, das später in das Geheime Revolutionäre Indígena-Komitee (CCRI) eingehen sollte, und begannen danach eine Konsultation in den Dorfgemeinschaften über die wichtigsten Forderungen und Bedürfnisse der Frauen. Im Januar 1993 erteilte das CCRI den Befehl zur Vorbereitung des Krieges für 1993, im März fand eine Sitzung des Komitees zur Revision der Revolutionären Gesetze statt, die im April in Kraft treten sollten. Zu diesem Zeitpunkt wußte niemand etwas von dem „Revolutionären Frauengesetz“, weil die Frauen das heimlich, still und leise vorbereitet haben. Als sie es dann dem CCRI vorstellten, haben die Männer es natürlich erst mal abgelehnt. Daraufhin verweigerten die Frauen ihre Zustimmung zum Agrargesetz. Auf diese Weise konnten sie die Männer zwingen, sie ernstzunehmen, und schließlich wurde das Frauengesetz angenommen. Außerdem wurde beschlossen, daß es nicht erst ab Kriegsbeginn, sondern ab sofort – günstigerweise war gerade der 8. März – in den Gemeinden gelten sollte. Natürlich gab es Probleme damit. Ein Beispiel: Wenn zwei junge Leute in einer Indígena-Gemeinde unverheiratet miteinander schlafen, wird das damit bestraft, daß beide auf dem Basketball-Platz an die Torpfosten angebunden oder sie ins Gefängnis gesteckt werden. So ist die Tradition. Nun kennen die Jugendlichen das neue Gesetz, lieben sich unverheirateterweise und werden erwischt. Man will sie nach alter Sitte bestrafen, und die Jugendlichen sagen: Moment mal, jetzt gilt das neue Gesetz. Wenn ihr es nicht respektiert, wie soll dann das Agrargesetz gelten, wieso sprecht ihr überhaupt von einer Revolution? Die Gemeindesprecher wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten, und wandten sich an uns. Wir erklärten, daß das Angelegenheit des CCRI sei und die neuen Gesetze gelten würden und sie tatsächlich nichts gegen die jungen Leute unternehmen könnten, da wir sonst verpflichtet seien, sie herauszuholen. Daß sie nicht einem Gesetz zugestimmt haben können, um es anschließend zu brechen. Das war ein Präzedenzfall. Seither hat der Druck etwas nachgelassen. Aber darum mußte gekämpft werden, das ist niemandem in den Schoß gefallen. Es gab und gibt viel Widerstand. Das ist ein sehr wichtiger und interessanter interner Kampf, bis heute.

Wird dieser Kampf mehr von den jungen Frauen getragen oder auch von den älteren unterstützt?

Eher von den jungen Frauen, aber für die älteren ist es schwierig, dagegen zu sein. Denn die jungen fragen sie, ob sie wirklich wollen, daß es ihnen so geht wie ihnen, nämlich daß sie mit 35 so aussehen, als wären sie sechzig. Oder daß sie sich mit vierzehn verheiraten und mit fünfzehn Geburten verbrauchen sollen für einen Mann, den sie erstmals in der Hochzeitsnacht kennenlernen konnten. Dem können die älteren Frauen natürlich nicht zustimmen, wohl aber der Feststellung, daß sich für die Frauen etwas ändern muß.

Wie ich bereits sagte, gibt es Ethnien, in denen die Frauen eine gewisse kämpferische Tradition haben, und andere, in denen die Frauen härter um die Überwindung ihrer Marginalisierung kämpfen müssen.

Die verschiedenen Maya-Ethnien leben also nicht gemischt in den Dörfern, sondern geographisch getrennt?

Ja, in dieser Gegend hier leben nur Tzeltal. In der Gegend von Las Margaritas leben die Tojolabal. Im Norden leben die Chol und im Hochland die Tzotzil. Auch in dem von uns kontrollierten Gebiet leben die Ethnien getrennt. Wo sie zusammenkommen, ist im Geheimen Revolutionären Indígena-Komitee.

Vielleicht sprechen wir ein wenig über das Verhältnis der Zapatistas zu anderen Bauernorganisationen. Schon lange gibt es starke und vielfältige Organisationen der Bauernbewegung in Chiapas, die allerdings immer untereinander nach politischen und ethnischen Linien gespalten waren. Die EZLN scheint die erste Kraft in Chiapas zu sein, die es geschafft hat, diese historischen Spaltungslinien zu überwinden. Wie ist das gelungen?

Unser Vorgehen bestand darin, zu unterscheiden, was uns verbindet und was uns trennt, und die internen Strukturen der anderen Organisationen zu respektieren. Wir hatten nie die Absicht, die Führung der anderen Organisationen zu übernehmen, sondern wir haben einen Krieg vorbereitet, weil wir der Auffassung waren, daß anders die Lebensbedingungen nicht geändert werden können. Wir wollen weder die ARIC, noch die OCEZ noch CIOAC (Namen von Bauernorganisationen bzw. Zusammenschlüssen von Organisationen – d. Red.) leiten. Sie alle haben ihre eigene Struktur, einschließlich der CNC, die wir nicht anrühren wollen. Aber was wir immer sagten, war, daß wir die Waffen erheben müßten, um Änderungen zu erreichen. Wir gingen davon aus, daß der legale politische Kampf entlang der organisationseigenen Strukturen geführt und die militärischen Aspekte von der Zapatistischen Armee behandelt werden. Unsere Forderungen sind so allgemeingültig, daß es quasi unmöglich ist, nicht damit einverstanden zu sein. Von daher gab es eine Art gegenseitigen Grundverständnisses. Wir erheben nicht eine Forderung, die spalten oder lediglich spezifische Interessen einer bestimmten Ethnie oder einer bestimmten Bewegung vertreten würde. Alle finden sich in unseren Forderungen wieder. Und wie gesagt, machen wir niemandem die politische Führung streitig. Davor herrscht immer die größte Furcht innerhalb der Organisationen, daß man die Führung ablösen will. Unsere Position dazu war und ist, daß die Leute sich organisieren sollen, wie sie wollen, mit den Führern, die sie wollen. Die militärischen Konfrontationen allerdings leiten wir. Von daher könnte man sagen, daß die Zapatistische Armee weniger eine Organisation ist als eher ein Zusammenfluß von Organisationen. So erklären sich auch das große Einflußgebiet und die Anerkennung, die die Zapatisten unter den Indígenas von Chiapas genießen, wie auch die Unmöglichkeit, sie zu zerstören.

Im Januar wurde CEOIC, der Zusammenschluß der Bauern- und Indígenaorganisationen von Chiapas gegründet, eine Koordination von 280 Organisationen. Wie schätzt ihr die Tragfähigkeit dieses heterogenen Bündnisses ein? Hat die CEOIC eine Zukunft?

Wenn sie den Schlüssel findet, kann sie auf der politischen Ebene genausoviel bewirken wie die EZLN auf militärischem Gebiet. Ihre Mitgliedsorganisationen wirken schließlich im ländlichen Bereich im ganzen Staat. Aber man muß natürlich berücksichtigen, daß sie alle eine lange Vergangenheit haben, die mit Verrat, Mißgunst, Rachegefühlen und allen diesen unschönen Dingen belastet ist. Und in bestimmten Momenten können diese Faktoren die Oberhand gewinnen. Die Leute kennen sich ja schon seit langem. Da werden leicht alte Rechnungen präsentiert. Aber, wie schon gesagt, wenn sie den richtigen Schlüssel finden, also sich auf die Forderungen nach Land und Freiheit konzentrieren, hat dieses Bündnis sicher eine Zukunft. Wenn es gelingt, interne Streitereien und Abwerbemanöver zu überwinden, sich voll und ganz auf die heute wie vor 75 Jahren gültigen zapatistischen Forderungen einzulassen, kann die CEOIC auf politischem Gebiet gemeinsam mit der EZLN auf militärischer Ebene diesen Staat vernünftig regieren. Wir stellen für sie eine Schutzmacht dar. Wir haben ihnen unsere Dienste als Schutzmacht angeboten für Fälle, in denen sie bedroht werden. Und da wir nicht nach der politischen Macht streben, einige Leute der CEOIC aber sehr wohl, gibt es mit uns auch keinen Streit. Der hat höchstens interne Ursachen. Einzelne Mitgliedsorganisationen der CEOIC haben den Kontakt zu uns gesucht, um Gespräche gebeten. Das CCRI hat dies aber abgelehnt, mit der Begründung: entweder mit allen oder mit keinem. Es kann nicht darum gehen, Kontakte zu einzelnen Organisationen zu pflegen, das schafft nur Spaltung. Mit einer gemeinsam getragenen Kommission jederzeit. Ich denke, daß diese Entscheidung korrekt ist. Denn man darf nicht vergessen, mit welcher Absicht die CEOIC gebildet wurde. Salinas und Setzer (der kurzfristig eingesetzte Interimsgouverneur von Chiapas) verfolgten von Anfang an damit das Ziel, eine Gegenkraft gegen die EZLN aufzubauen. Die Rechnung ist aber nicht aufgegangen. Die meisten Organisationen haben sich auf unsere Seite geschlagen und lassen sich nicht zum Instrument der Regierung machen. Das war für uns überlebenswichtig, und das werden wir auch nie vergessen. Viele sagen, daß wir allein deshalb überleben, weil dieser Plan nicht funktioniert hat.

Was geschah und geschieht mit Leuten, die nicht mit dem Krieg der Zapatisten einverstanden sind, aber in eurem Einflußgebiet leben?

Von diesen Leuten verlangen wir nur, daß sie nicht für die Gegenseite arbeiten, indem sie Informationen weitergeben oder Personen denunzieren, denn in den Dörfern kennen sich alle und wissen gegenseitig, wer Zapatista ist und wer nicht. In den befreiten Gebieten sind jetzt wir die Regierung. Diese Leute können sich bewegen, wohin sie wollen, aber wir erwarten, daß sie darüber Auskunft geben, so wie sie es vorher der Regierung gegenüber taten. Wenn sie nicht gegen uns arbeiten, schränken wir sie in keiner Weise ein oder zwingen sie auch zu nichts. Was vorgefallen ist während der Kriegshandlungen, ist, daß einige Mitglieder der Zapatistischen Armee Nicht-Zapatisten zur Teilnahme zwingen wollten. Sie haben sie verbal bedroht, nicht physisch, in der Weise, daß sie ihnen drohten, es werde ihnen schlecht ergehen, wenn sie nicht mitmachten. Sie haben ihnen Angst gemacht für den Fall, daß sie sich nicht anschlössen. Das ist vorgekommen, und wir haben das durch die Presse erfahren, die Gelegenheit hatte, mit solchen Leuten zu sprechen. Das CCRI hat die Verantwortlichen dafür geahndet und damit Schluß gemacht, als sie davon erfuhren. Aber unsere allgemeine Politik war immer ein „Nicht-Angriffs-Pakt“ mit solchen Leuten.

Etwas zur internen Struktur der EZLN. Sind ihre Mitglieder professionelle Kämpfer oder führen sie innerhalb ihrer Dörfer auch ein ziviles Leben?

Ein Teil der Mitglieder der EZLN lebt seit 10 Jahren untergetaucht in den Bergen. Dort wurden wir schon seit Beginn mit Nahrungsmitteln versorgt von den BewohnerInnen der Dörfer. Der andere Teil, die übergroße Mehrheit, sind Bauern, die sich ihrem Stück Land widmen, aber hin und wieder auch militärische Ausbildung bekommen, zu irgendwelchen Aktionen herangezogen werden, je nach den gerade anstehenden militärischen Plänen. Es sind Bauern und Kämpfer, ganz nach dem Muster der Zapata-Armee von damals. Seit dem Kriegsausbruch lösen sie sich gegenseitig ab. Manche kommen in die Reihen der Armee, manche scheiden vorübergehend aus, um sich dem Acker zu widmen, je nach Turnus. Die Familien derer, die die militärischen Positionen halten, werden von den anderen jeweils mitversorgt. Das haben wir schon seit langem so organisiert.

Wird aus den Dörfern immer ein bestimmtes Kontingent rekrutiert, oder ist der Eintritt in die Reihen der EZLN freiwillig?

Freiwillig. Der Militärdienst ist freiwillig. Es gibt Dörfer, die überhaupt keinen Kämpfer entsenden, andere, die nur einige wenige entbehren können, und solche, die geschlossen der Miliz beitreten. Das hängt immer von den Entscheidungen auf Dorfebene ab. Und diejenigen, die sich entschlossen haben, als aktive Kämpfer beizutreten, können jederzeit wieder ausscheiden. Sie werden die EZLN dann auf eine andere Weise unterstützen. Es gibt keine Strafaktionen oder gar Exekutionen wegen Desertieren. Zumindest noch nicht!

Die landwirtschaftliche Produktion wird trotz des Kriegszustandes aufrechterhalten?

Ja. Sie ist ebenso kärglich wie vorher auch. Das ist natürlich von langer Hand vorbereitet. Wir waren uns selbstverständlich darüber im klaren, daß die Arbeitsbedingungen nicht die gleichen sein würden wie vorher. Also mußten die anfallenden turnusmäßigen Aufgaben gut verteilt werden. Besonders reiche Ernten wegen des Aufstandes sind ja nun leider nicht zu erwarten. Uns geht es genauso dreckig wie vorher auch.

Eine Frage, die wir uns auch in Deutschland sehr häufig gestellt haben: Wie verträgt sich das grundlegend demokratische Selbstverständnis der EZLN mit der zwangsläufig hierarchischen Struktur einer Armee, mit Befehlsgehorsam und Disziplin und all den bekannten militärischen Untugenden. Wie löst ihr diesen Widerspruch?

Natürlich hat es diesen Widerspruch von Anfang an gegeben. Die EZLN ist eine politisch-militärische Organisation, und so etwas ist das Undemokratischste der Welt. Alles läuft von oben nach unten, einer befiehlt, die anderen müssen gehorchen. Als wir mit dieser Struktur in Kontakt traten mit den demokratisch strukturierten indianischen Dorfgemeinschaften, prallten diese Gegensätze natürlich aufeinander. Dies geschah aber auf der Ebene der Basis, und hier dominiert deutlich der indianische Sektor. Will die politisch-militärische Kommandoebene überleben, muß sie sich diesem Sektor unterordnen, muß sie die Strukturen akzeptieren, die die Dorfgemeinschaften vorschlagen. Will die Armee als solche wachsen, und nicht eine kleine Guerillagruppe bleiben, wie wir das aus der lateinamerikanischen Guerillageschichte kennen, will sie wirklichen Rückhalt in der Bevölkerung bekommen, so muß sie diese andere Struktur akzeptieren. So löst sich dann auch der Widerspruch: Es gibt Entscheidungen, die demokratisch herbeigeführt werden, und solche, die rein militärisch auf der Kommandoebene getroffen werden. Die großen Entscheidungen, z.B. über den Zeitpunkt des Kriegsbeginns, des Kriegsendes, zur Aufnahme des Dialogs, über unser Banner, über die Gründe des Kampfes, die Bündnispolitik, mit wem Gespräche geführt werden, alle diese Entscheidungen müssen auf demokratische Weise gefällt werden. Demokratisch wird darüber abgestimmt, daß der Krieg begonnen wird, und ich erhalte dann den Befehl: Wir fangen an, gib die nötigen Befehle zur Umsetzung dieser Entscheidung! Da diese Entscheidung aber unten getroffen wurde, ist die Umsetzung in notwendig militärisch-hierarchischer Form von oben sehr viel leichter.

Die grundlegenden Befehle erteilen also die Dorfgemeinschaften nach langen internen Beratungen, ich setze diese dann operationell um. Alle, Kinder, Alte, Frauen und Männer haben darüber abgestimmt, daß der Krieg begonnen werden soll. Über den genauen Zeitpunkt wollten sie sich lieber nicht festlegen, auch aus Vorsicht. Über den genauen Ablauf und die nötigen Vorbereitungen sollte ich entscheiden, bzw. die Kommandoebene. Wer zu welcher Uhrzeit wo losschlagen soll, das sind militärische Entscheidungen.

Über das Kriegsende entscheiden also auch die Dorfgemeinschaften?

Ja, ebenso wie sie über den Beginn des Krieges entschieden haben, werden sie auch über sein Ende die Entscheidung treffen. Das ist keine Sache der kämpfenden Einheiten, ist keine Sache der militärischen Struktur.

Nehmen wir mal an, ein Kombattant begeht irgendein Unrecht in irgendeiner Dorfgemeinschaft. Wer wird bestrafen? Die EZLN oder die Dorfgemeinschaft?

Das Komitee, denn da sind beide Elemente beteiligt. Es vereinigt die zivile und die militärische Autorität.

Wie ist der zivile Sektor strukturiert?

Der zivile Sektor ist demokratisch strukturiert. Das oberste Organ ist die Dorfversammlung, und die bestimmt die Führung. Wenn diese nicht die Beschlüsse der Versammlung befolgt, wird sie abgesetzt. Und so setzt sich das fort, auf regionaler Ebene, auf der Ebene der Anbauregion werden ebenfalls Delegierte ernannt, und so weiter, bis zum angrenzenden Gebiet anderer ethnischer Gruppen, die ihrerseits auch ihre Führungskollektive haben. Aus diesen wird schließlich das Comité Clandestino Revolucionario Indígena (CCRI) gebildet, in dem alle Ethnien vertreten sind.

Die Mitglieder der EZLN sind z.T. sehr jung. Besteht da nicht das Risiko, daß diese Jugendlichen militarisiert statt sozialisiert werden? In El Salvador konnte man dieses Problem beobachten, daß Jugendliche, die mit 11 Jahren zur Guerilla stießen, später enorme Schwierigkeiten hatten, sich ein anderes als das militärische Leben vorzustellen. Mit einer Waffe waren sie wer, hatten Macht, aber ohne…?

Na ja, wir sind halt auch sehr sympathisch, da liegt schon ein Unterschied. Nein, die Mehrheit der Kombattanten ist zivil, und die Zivilisten werden auch immer in der Mehrheit bleiben. Der militärische Teil ihres sozialen Lebens ist minimal, das Wichtige sind die sonstigen sozialen Beziehungen. Die Waffen werden sie auf jeden Fall nicht abgeben, wenn du darauf hinauswillst…

Das war nicht die Frage…

Aber ich will es trotzdem nebenbei sagen, die Waffen waren zehn Jahre lang vergraben. Gegen irgendwelche Versprechen werden wir die Waffen nicht austauschen.

Und sie sind auch schnell wieder eingegraben?

Das kommt immer drauf an. Wir hängen schließlich nicht an den Dingern. Wenn sich eine Lösung des Konflikts anbahnt, wenn Traktoren angeboten werden, wird es sicher nicht schwer sein, die Leute zur Auslieferung der Waffen zu bewegen. Es gibt viele unter uns, die absolut nicht den Wunsch haben, eine militärische Laufbahn zu machen. Die wollen eher Arzt, Ingenieur, Astronaut, Rocksänger oder was auch immer werden.

Es war zu hören, daß ihr den Zugang zu der von euch kontrollierten Region verminen wollt.

Das ist bereits geschehen.

Eine häßliche Sache…

Noch häßlicher sind die Panzer.

Stellen die Minen nicht gerade eine Gefahr für die Zivilbevölkerung dar?

Nein, nein. Das sind keine selbstzündenden Minen, wie sagt Ihr doch gleich: keine Body-Traps. Die werden nur aktiviert, wenn akute Gefahr besteht, und sie werden auch nicht einfach an x-beliebigen Orten ausgelegt, wo man sie nachher nicht mehr wiederfindet, sondern nur an den potentiellen Panzerstraßen. Die Infanterie macht uns keine Sorgen. Mit der nehmen wir es gerne auf, denn da findet eine reeller Kampf statt, und zwar auf unserem Gelände. Gegen die Panzer hingegen können wir nicht viel ausrichten, wenn die hereinkommen, sind wir alle erledigt.

Wie reagiert ihr auf die stattfindende Umzingelung durch die Bundesarmee? Besteht da nicht die Gefahr der mittel- und langfristigen isolierten Austrocknung eurer Region?

Natürlich. Sie spielen mit der Geduld des Komitees. Es kommt irgendwann der Zeitpunkt, wo das Komitee sagen wird: Wir sind es leid, hier festzusitzen, wir werden wieder angreifen müssen, um den Belagerungsring aufzubrechen, und das kann mehrmals geschehen. Nur diesmal mit noch viel größeren Opfern. Im Moment macht uns die Belagerung nicht so viel aus, aber wir werden auch nicht ewig darauf warten, daß sie aufhört. Du mußt bedenken, daß die Bauern hier immer schon in einer Art Belagerungszustand gelebt haben, total isoliert und abgeschnitten von den üblichen Errungenschaften der Gesellschaft. Aus dem Grund haben sie ja auch angefangen zu kämpfen.

Ihr werdet also nicht wie die Widerstandsdörfer in Guatemala zulassen, daß die Armee nach und nach die Kontrolle über die Region ausweitet.

Nein, hier hat die Armee nichts zu sagen, die einzigen, die hier kontrollieren, sind die Zapatistas.

Um noch einmal auf den nationalen Kontext zurückzukommen: Keine andere bewaffnete Bewegung auf dem lateinamerikanischen Kontinent hat es geschafft, daß nach einem zwölftägigen Kampf eine Feuerpause beschlossen wird und die Regierung an den Verhandlungstisch bittet. Warum ist so etwas in Mexico möglich? Ist Mexico doch demokratischer, offener als andere Staaten Lateinamerikas, oder woran liegt das?

Es ist verlogener. Der Medienapparat spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Salinas de Gortari hatte es geschafft, das Land mit einem gigantischen Lügennetz zu überspannen. Als im Ausland die ersten Meldungen über die kriegerischen Auseinandersetzungen kamen, haben sich die Leute erstmal gefragt: Chiapas, wo liegt das eigentlich? Und dann erschienen die enormen Armutsstatistiken, und die Leute sagten sich: Nanu, ich dachte, in Mexico ist die Armut abgeschafft. Also, das bedeutete schon einen hohen politischen Prestigeverlust für die Regierung. In den nationalen Medien geschah ähnliches. Angesichts der Bilder bricht das ganze Lügengebäude zusammen, wonach es sich bei den Aufständischen um Ausländer, Drogenkriminelle, Castro-Anhänger etc. handele. Niemand bezweifelt mehr, daß es sich bei den Aufständischen um mexicanische Indígenas handelt. Die Forderungen der EZLN finden Verbreitung, und immer mehr Leute sagen sich: Die haben ja recht, wir wollen das Gleiche.

Sie verstehen die Gründe für diesen Krieg und sagen zu der Regierung: Die Schuld an diesem Krieg hast du, nun löse den Konflikt auch, und zwar ohne Schüsse! Die Regierung fühlt sich also wegen des internationalen Images und wegen des nationalen Drucks gezwungen, das Feuer einzustellen. Außerdem kann sie nicht wirklich einschätzen, welche Kraft hinter der EZLN steht. Insofern dient ihr der Dialog auch, um herauszubekommen, welche Dimensionen der Kampf tatsächlich hat. Sie wußte ja nicht einmal, wen sie vor sich hat. Manche Leute glaubten auch, daß es sich um einen abtrünnigen Flügel der PRI selbst handele. Es sind also nichtmilitärische Umstände, die zur Feuerpause geführt haben. Ich habe mehrfach gesagt: Es ist weder die Stärke der EZLN noch die Großzügigkeit der Regierung, sondern der Druck der zivilen Gesellschaft in Verbindung mit den Kommunikationsmedien, die zu einer friedlichen Lösung des Konflikts zwingen. Die Gründe des Kampfes stellt niemand mehr in Zweifel. Die Schuld trägt die Regierung, entweder weil sie Bescheid wußte, oder weil sie nichts wußte. In beiden Fällen macht sie sich schuldig.

Habt ihr mit einer so breiten Unterstützung der Zivilgesellschaft gerechnet, oder kam das für euch überraschend?

Nein, uns hat der Befehl zur Feuereinstellung überrascht. Wir waren gerade auf dem Rückzug, mit der Verminung der Brücken und Zugangswege beschäftigt. Ich fragte mich: Wie ist das möglich? Wir sind dabei, uns in die Berge zurückzuziehen, nicht auf dem Vormarsch auf Tuxtla Gutiérrez (Hauptstadt von Chiapas – die Red.), was steckt dahinter? Wir waren auf eine viel längere Zeitspanne eingerichtet, auf Monate oder im schlechtesten Falle auf Jahre, bis ein solcher Befehl erfolgt. Denn wir dachten, daß die Regierung die Kontrolle über die Presse sehr viel restriktiver handhaben werde. Und genau das gelang ihr nicht, vor allem nach den Ereignissen in Ocosingo. Seitdem glitt ihr die Zensur aus den Händen. Wir haben schon darauf vertraut, daß die Leute früher oder später die Berechtigung für unseren Kampf verstehen würden, in dem Maße, in dem sie von den unwürdigen Lebensverhältnissen hier Kenntnis erhalten. Jetzt sind viele Menschen erstaunt, daß der bewaffnete Aufstand nicht schon viel früher stattgefunden hat, daß wir so lange gewartet haben.

Von den Bombenanschlägen Mitte Januar in der Hauptstadt und an anderen Orten habt ihr euch distanziert. Wie verfahrt ihr mit Gruppen, die auf diesen Zug aufspringen wollen?

Wir haben immer gesagt, daß wir von terroristischen Aktionen nichts halten. Wir kämpfen gegen eine Armee und eine Polizei, die bewaffnet sind. Wir kündigen unsere Angriffe auch an und beobachten die entsprechenden Reaktionen. Wir billigen aber auf keinen Fall Angriffe auf zivile Objekte, so rechtsgerichtet sie auch sein mögen, denn damit würden wir uns auf die Ebene der Regierung begeben, die allerdings die Zivilbevölkerung drangsaliert. Es hat eine Weile gedauert, bis wir uns davon distanziert haben, weil wir auch erst viel später von den Anschlägen erfahren haben.

Zuletzt natürlich die obligatorische Frage: Was können wir zur Unterstützung von außen tun? Wohlgemerkt von außen, ohne uns in unziemlicher Weise einzumischen.

Eine wichtige Sache ist sicherlich die Verbreitung von Informationen über das, was hier vor sich geht. Wir können allein nicht mit dem Apparat der Regierungspropaganda, auch im Ausland, konkurrieren. Wir können keine zapatistische „Europalia“ veranstalten wie die Regierung, die mit diesem Festival ein Mexico-Bild verbreitet hat, das nur sie gezeichnet hat. Insofern ist jede Zeitschrift, Zeitung, jedes Programm, das auch das andere Mexico zeigt, für uns von Bedeutung. Die Absicht der Regierung ist es, uns auch auf internationaler Ebene zu isolieren und uns als intolerante Starrköpfe zu präsentieren. Daher bitten wir die AusländerInnen immer als erstes, daß sie in ihrem Land darüber informieren, was sie wirklich gesehen haben. Das heißt gar nicht notwendig, daß sie für uns Partei ergreifen müssen, sondern lediglich, daß sie die Tatsachen sprechen lassen, die sie wahrgenommen haben. Eine weitere wichtige Sache ist die humanitäre Hilfe. Du siehst ja, was gebraucht wird. Wir sind eingekesselt. Es ist schwierig, Medizin zu bekommen, Kleidung und manche Lebensmittel. Wenn jemand von uns nach Ocosingo kommt, wird er beseitigt, verschwindet einfach. Es gibt eben Sachen, die dir die Erde nicht gibt. Sie gibt dir kein Salz oder Seife z.B., wohl Mais, Bohnen, Chile, und das langt zum Essen, aber eine Machete, oder Schuhe oder Kleidung mußt du kaufen, und das geht jetzt nicht mehr.

Aus Deutschland kommen viele Touristen nach Mexico. Wie steht ihr zum Tourismus? Soll er weiter stattfinden oder wollt ihr Chiapas von Touristen freihalten, weil sie doch nur die Kassen der Reichen füllen?

Das würde hauptsächlich die Hotel- und Restaurantbesitzer treffen, und die haben sich bisher eher rausgehalten, weil sie von den vielen Journalisten profitieren. Sie und die Autovermieter sind glücklich über die Zapatisten und würden den Dialog am liebsten möglichst in die Länge ziehen, damit alle diese Leute bleiben. Mit diesem Sektor haben wir nie Probleme gehabt, und sie auch nicht mit uns. Die Probleme haben wir mit den Grundbesitzern und den Großhändlern.

Ein Aufruf zum Tourismusboykott würde also keinen Sinn machen?

Ich glaube, zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Das könnte darauf hinauslaufen, daß wir isoliert werden. Positiv wäre in jedem Falle eine andere Art von Touristen. Z.B. mehr jüngere Leute der Linken, oder was weiß ich, wie das heute dort genannt wird, Progressive, aber nicht ausschließlich. So etwas wie die Friedenskarawane, die Sachen mitbringt, ist sicher sehr nützlich, gibt uns immer wieder neuen Mut. Wenn in den Zeitungen steht, daß die deutschen Jugendlichen mit unserem Kampf um Würde solidarisch sind, hat das auch Auswirkungen auf die mexicanische Regierung und ihre Methoden.

Ich glaube, damit hätten wir’s.

Gut. Einverstanden.