Noch am selben Morgen fährt eine Buskarawane die Anhöhe zum Denkmal hinauf. Die traditionelle Kleidung und die Flaggen lassen unschwer erkennen, dass es sich um Misak-Indigene handelt, die überwiegend in den Autonomiegebieten des benachbarten Departements Cauca leben. Als Zeichen der Entkolonialisierung einer fünfhundertjährigen Unterdrückungsgeschichte haben sie den Kolonialherrn mit Seilen im Morgengrauen niedergerissen, so die spätere Presseerklärung. Sie sind gekommen, um ein Reinigungsritual durchzuführen. Doch es dauert nicht lange, bis die Sondereinheit der Anti-Riot-Cops auftaucht. Sie postiert sich um die Statue und beschützt den gefallenen Eroberer. Die Symbolkraft dieser Szenerie könnte kaum größer sein. Nachdem Steine fliegen und die Polizei Tränengas einsetzt, ziehen sich die Misak, die mit Kind und Kegel gekommen waren, zurück. Sie haben ihr Ziel erreicht. Im Laufe des Tages rechtfertigt ein Sprecher der Misak: „Wir haben Sebastián de Belalcázar im Gedenken an unseren Kaziken Petecuy gestürzt, der gegen die spanische Krone kämpfte. Wir als seine Enkel kämpfen weiter, um das kriminelle Regierungssystem abzuschaffen, weil es die Rechte der Mutter Erde verletzt.“
Der Ikonoklasmus (Bildersturm) setzte sich während der folgenden Protesttage fort: In Neiva fiel wenige Tage später die Statue von Diego de Ospina y Medinilla. Er lebte von 1567 bis 1630, war Leiter der Justicia Mayor, Gouverneur mehrerer Städte und vor allem Besitzer mehrerer Bergwerke, in denen aus Afrika stammende, versklavte Menschen zu Tode geschunden wurden. Das Denkmal des Sklavenhändlers Julio Arboleda Pombo in Popayán fiel ebenfalls. Seine Familie handelte nicht nur mit Sklav*innen, sondern beutete in ihren Haziendas und Bergwerken persönlich Hunderte von Menschen aus. Popayán liegt im Südwesten Kolumbiens im Departement Cauca, wo die gut organisierten Nasa und Misak in zahlreichen Autonomiegebieten leben. Die stark indigen geprägte Region ist sensibel für die jahrhundertelange Unterdrückungs- und Vernichtungsgeschichte. Am Zugang zum Autonomiegebiet Toribio in der Zentralkordillere der Anden haben die Nasa Plakate aufgestellt. „529 Jahre Kampf und Widerstand für die Verteidigung des Lebens und den Aufbau von Frieden“ ist darauf zu lesen. Unter diesem Motto haben die Nasa eine eigene Schutzeinheit organisiert, um ihr Territorium vor bewaffneten Akteuren des Konflikts zu verteidigen. Alle Generationen nehmen daran teil. Zu erkennen sind sie an einem Holzstab mit bunten Kordeln an beiden Enden, der um ihren Körper hängt. Das ist ihr einziges Verteidigungsmittel. Effektiv bei der Vertreibung und Festnahme von bewaffneten Akteuren sind sie vor allem dann, wenn sie zahlreich in der Nacht ausschwärmen, um Camps zu stürmen. Auf diese Weise wurde bereits vor Jahren ein Militärbataillon geräumt und wurden die Soldaten entwaffnet. Ihre spirituelle Kraft und das Vertrauen in ihre Aktionen schöpfen sie aus dem gemeinschaftlichen Zusammenhalt und der Überzeugung, den Kampf ihrer Ahnen und Vorväter gegen die Kolonialherrschaft fortzusetzen.
Der Sturz der Statuen in Kolumbien ging während des Generalstreiks weiter. Während der landesweiten Proteste am 1. Mai kippten Demonstrierende Antonio Amador José de Nariño vom Sockel. Der Politiker und Militäroberst lebte von 1765 bis 1823 und wird in der kolumbianischen Geschichtsschreibung bis heute als „Mann des Gesetzes“ geehrt. Neben Simón Bolívar gilt er in Kolumbien als Volksheld und Gründer der Nation. Was viele bisher nicht wussten: Beide „Helden“ verübten mehrfach Massenmorde an den Bewohner*innen Pastos. Einen Tag nach der Nariños fiel konsequenterweise dann auch die erste Statue von Nationalheld Bolívar zu Boden. In Kolumbien existieren noch hunderte von ihm.
Am selben Tag fiel auch Gilberto Alzate Avendaño in Manizales. Der 1910 in Bogotá geborene Schriftsteller und Politiker wird für seine nationalsozialistische Ideologie kritisiert. Er war Führer einer Fraktion der Konservativen Partei und der Gruppe Nationalistische Volksaktion. Er ermutigte die Verfolgung von Juden und Jüdinnen und rief in Bogotá, parallel zur Reichskristallnacht in Deutschland, zu Lynchmorden und Angriffen gegen die jüdische Bevölkerung auf.
Im Zentrum der Hauptstadt Bogotá zerstörte am 7. Mai eine Gruppe der Misak das Denkmal von Gonzalo Jiménez de Quesada. Laut offizieller Geschichtsschreibung gründete er 1583 Bogotá. Die Misak erklärten der Presse, auch diese Aktion diene zur Berichtigung der Geschichtsschreibung und zur Wiedergutmachung aller indigenen Völker Kolumbiens. Zudem sollte die Aktion all den Frauen Gerechtigkeit verschaffen, die Opfer der Übergriffe der Konquistadoren waren. Zuletzt fiel noch am 14. Mai in Popayán unter Jubel der Menschenmenge Francisco de Paula Santander, ein spanischer Militär. Im Laufe der Proteste ist es bereits das zehnte niedergerissene Denkmal. Der Bürgermeister der Stadt verurteilte die Angriffe auf das historische Erbe der Stadt.
Das massive Niederreißen von spanischen Konquistador*innen, die in den Geschichtsbüchern als Held*innen gefeiert werden, ist in Kolumbien neu. Noch nie zuvor wurden Herrschaftssymbole der Nachkommen spanischer Eliten zur Disposition gestellt – abgesehen vom Sturz Belalcázars im September 2020, wiederum in Popayán. Die Debatten um die Nationalmythen und die Dekolonialisierung der kolumbianischen Geschichte hat damit gerade erst begonnen. Und es kratzt gehörig am Selbstbild vieler Kolumbianer*innen. Mehrheitlich sehen sie sich gern als ein „multikulturelles Volk“. Schwarze Nachfahren afrikanischer Sklav*innen und Indigene trügen zur kulturellen Vielfalt bei. Das bleibt meist auf Folklore beschränkt. Ihre Herkunft und Geschichte als Opfer der spanischen Ausbeutung und des Massenmords bleiben nach wie vor unsichtbar. Sie passen nicht in die nationale Erzählung der Zivilisation Amerikas durch die weißen Eroberer. Der Streik und Protest der Unter- und Mittelschichten werden damit historisch aufgeladen. Herrschaft und Unterdrückung werden in all ihren symbolischen Ausdrucksformen in Frage gestellt.
Unterdessen ist in Cali eine hitzige Debatte darüber entbrannt, was mit der 1937 eingeweihten Bronzestatue des gestürzten Belalcázar passieren soll, die sich mittlerweile in einem Militärbataillon befindet. Rechte Politiker und die weiße Oberschicht verlangten zum 485. Jubiläum der Stadtgründung am 25. Juli vom Bürgermeister den Wiederaufbau ihres Herrschaftssymbols. Dieses Anliegen blieb bisher unbeantwortet. Die Stadtverwaltung werde kein Geld in die Restaurierung stecken. Die Verantwortung liege bei der Versicherungsgesellschaft. Juan Martín Bravo Castaño, Mitglied im Stadtrat von Cali, bedauert: „Wir begehen die 485-Jahrfeier der Stadtgründung an einem leeren Sockel aufgrund des Vandalismus der Misak.“ Der Terminus Vandalismus ist politisch brisant. Die rechte Regierung von Iván Duque bezeichnete die Protestierenden während des Streiks als Vandalen und Terroristen, womit sie den überharten Polizei- und Militäreinsatz rechtfertigte, der zahllose Todesopfer gefordert hatte.
Letztendlich versammelte sich ein Grüppchen von etwa 30 Personen händehaltend um eine dreidimensionale Replik des Originals aus Pappe um den Sockel, um auf ihre Art das Jubiläum zu begehen. Stolz gab ein Mitglied der Initiative bekannt, dass Anwohner*innen und Freund*innen aus anderen Vierteln Geld gesammelt hatten, um die Pappfigur zu finanzieren. Noch am selben Tag regnete es am Nachmittag in Strömen, was dem Nachbau ein jähes Ende bereitete. Während die einen den Wiederaufbau fordern, wollen andere die Statue durch Freiheitskämpfer*innen gegen die Sklaverei ersetzen. Der Historiker und Kunstkritiker der Europa-Universität von Madrid, Carlos Jiménez, hatte schon vor dem Sturz Belalcázars als Reaktion auf den Ikonoklasmus der Kolonialherren in anderen Ländern damit provoziert, dass sie durch Casilda Cundumí Dembelé ersetzt werden solle. „La Negra Casilda“ ist eine aus Afrika verschleppte Sklavin, die Mitte des 18. Jahrhunderts vor ihrem Besitzer einer Zuckerrohr-Hacienda floh und sich laut mündlicher Überlieferung an der Sklav*innenbefreiung in der Region um Cali beteiligte. Es gibt nicht wenige, die mit einem solchen Vorschlag sympathisieren, zumal Cali nach Salvador da Bahia die zweitgrößte Millionenstadt Lateinamerikas mit dem größten Anteil an Schwarzer Bevölkerung ist. Eine Gruppe aus Akademiker*innen hat eine Initiative ins Leben gerufen, um sich mit der Geschichte Belalcázars zu befassen und symbolisch umzudeuten. Denn nur auf diese Weise könne Cali seiner multikulturellen Bevölkerung gerecht werden und verschiedene Erzählungen in die Stadtgeschichte integrieren. Welche Taten daraus folgen, wird weiterhin Gegenstand des symbolischen Deutungskampfes bleiben.