Alles fällt

Als die englische Übersetzung herauskam, wurde mein Buch als Krimi vorgestellt, was mich zunächst überraschte. Aber eigentlich haben die Engländer recht: Es ist ein Thriller, in dem Nachforschungen über die jüngste Geschichte Kolumbiens angestellt werden“, erzählt Juan Gabriel Vásquez über die Rezeption seines vor kurzem auf Deutsch erschienenen Romans „Das Geräusch der Dinge beim Fallen“ auf einer Lesung in Bochum.

Vásquez, 1973 in Bogotá geboren, hat mit seinen Büchern schon so manche Preise gewonnen, seine Werke sind in 17 Sprachen übersetzt worden. Mit dem Roman Los Informantes („Die Informanten“) gelang ihm der internationale Durchbruch. Das 2011 auf Spanisch erschienene El ruido de las cosas al caer wurde mit dem renommierten Alfaguara-Preis prämiert. Seit diesem Sommer liegt das Buch auf Deutsch vor.

Der Roman versetzt uns in die Dekade des sogenannten Narco-Terrorismus in Kolumbien von Mitte der 80er- bis Mitte der 90er-Jahre. Damals bestimmten Gewaltexzesse, Bombenattentate und Auftragsmorde den Alltag, vor allem in Bogotá und Medellín. Juan Gabriel Vásquez findet in seinem Roman eine treffende Formulierung dafür: „Das ist die Gewalt, die von einem Kollektiv ausgeht, bei dem man im Geist auch den Artikel großschreibt: Der Staat, Das Kartell, Die Armee, Die Front“ (S. 16). Diese gesellschaftliche Situation bildet den Hintergrund von „Das Geräusch der Dinge beim Fallen“.

Der Protagonist und Ich-Erzähler Antonio Yammara, ein junger Jura-Dozent, lernt beim Billardspielen den mysteriösen Ricardo Laverde kennen, der angeblich 20 Jahre im Gefängnis war. Keiner weiß jedoch, aus welchem Grund. Auch Antonio gegenüber ist Laverde recht zugeknöpft. Antonio schwankt zwischen Faszination und Unverständnis, will aber Laverdes Geheimnis herausfinden. Auch Autor Vásquez liebt es, Geschichten und Geschichte zu erforschen. „Ich schreibe über diese Jahre der jüngsten Geschichte Kolumbiens, weil sie voller Geheimnisse für mich sind. Da passierten Dinge, die ich bis heute nicht verstehe. Es gibt zwar viele Informationen über die Gewalt in dieser Zeit, Fotos von zerstörten Gebäuden, Statistiken über die Zahl der Toten bei jedem einzelnen Attentat oder sogar ein Youtube-Video von dem tödlichen Anschlag auf den Präsidentschaftskandidaten Luis Carlos Galán. Nirgends war jedoch etwas über die moralischen, emotionalen Auswirkungen dieser Jahre zu erfahren.“ 

Der junge Ich-Erzähler Antonio Yammara wird bereits im ersten Kapitel Opfer der gewalttätigen Verstrickungen. Ein schlimmes Ereignis verändert schlagartig sein Leben und wird ihn für immer prägen. Der Roman kreist deshalb auch um die Frage, inwiefern unser Leben nicht nur von eigenen Entscheidungen abhängt, sondern auch von externen Kräften und Ereignissen, und somit unserer Kontrolle entgleitet. Aufgewühlt durch den Schicksalsschlag beginnt Antonio Yammara mit Nachforschungen und eine zweite Zeitebene wird aufgemacht: die späten 60er- und frühen 70er-Jahre, die Zeit, als der Protagonist geboren wurde und die Generation seiner Eltern jung war.

Mit der Zeit des Drogenterrorismus in Kolumbien wird vor allem ein Name in Verbindung gebracht: Pablo Escobar, der für seine Grausamkeiten berühmte exzentrische Drogenbaron vom Medellín-Kartell, der mit seinen Attentaten und Morden der kolumbianischen Regierung den Krieg erklärt hatte. Am 2. Dezember 1993 wurde er schließlich in einer spektakulären Aktion gejagt und hingerichtet. Pablo Escobar bestimmt auch das Geschehen des Romans, allerdings indirekt. Die Erzählung hat ihren Ausgangspunkt bei ihm bzw. bei einem seiner Nilpferde: Der Drogenzar hatte auf seiner gigantischen Hacienda Nápoles im Flusstal des Río Magdalena einen Privatzoo mit Tieren aus allen Teilen der Welt unterhalten. 2009 büxten ein paar von ihnen aus und sorgten für Ärger in der Umgebung. Mit Erlaubnis der kolumbianischen Regierung jagte und erledigte eine Gruppe von Jägern Mitte 2009 den ersten der entlaufenen Dickhäuter. Juan Gabriel Vásquez, der zu dem Zeitpunkt in Spanien lebte, erfuhr davon, als er in einem kolumbianischen Magazin blätterte. „Dieses Bild löste etwas in mir aus. Damals hatte ich ein Jahr lang und über 100 Seiten über die Figur von Ricardo Laverde geschrieben, war jedoch an einen toten Punkt gelangt: Die Geschichte, die Anfang der 70er-Jahre spielt, als die ersten Piloten mit Drogenladungen in die USA flogen, war zu weit weg von mir selbst. Das Bild des toten Nilpferds hatte frappierende Ähnlichkeit mit dem Bild des toten Drogenbosses Pablo Escobar, dessen massiger Leib von seinen Jägern umringt auf einem Dach von Medellín liegt. Heute hat diese Parallele etwas unfreiwillig Komisches; damals katapultierte mich diese Assoziation jedoch in die Zeit des Drogenterrorismus in Kolumbien zurück.“

Einer der ersten Höhepunkte der Erzählung spielt sich in einem Literaturcafé in der Altstadt Bogotás ab. Dort konnten sich LiteraturliebhaberInnen an Hörstationen ihre Lieblingswerke, original eingelesen von den Autoren selbst, anhören. Der melancholisch-düstere Ricardo Laverde möchte jedoch keiner Poesie lauschen, sondern sich eine Kassette anhören, die lediglich mit den vier Lettern BASF beschriftet ist. Später werden wir erfahren, dass sich auf der Kassette die Aufzeichnung einer Flugzeugblackbox befindet – einer Maschine, die an den Bergen zerschellt und abgestürzt war; darauf sind die letzten 30 Minuten vor dem tödlichen Unfall festgehalten. Juan Gabriel Vásquez erzählt, wie er auf diese dramaturgisch raffinierte Idee gekommen ist: „In einer etwas merkwürdigen Bibliothek in Brüssel bin ich auf die Transkription einer Blackbox-Aufzeichnung einer American Airlines-Maschine gestoßen, die 1995 tatsächlich in Kolumbien abgestürzt ist. Ich wusste sofort, dass ich eines Tages etwas damit machen würde. So arbeite ich. Das ist vielleicht etwas unpraktisch: Jahre lang sammle ich Dokumente und füge sie irgendwann neu zusammen. Eigentlich ist der Roman voll mit Flugzeugen und Dingen, die fallen – daher auch der Titel. Beim Schreiben merkte ich dann, dass die Bedeutung auch weiter gefasst und metaphorisch gelesen werden kann: ein individuelles Schicksal, das fällt, eine Familie, die fällt, und ein ganzes Land – Kolumbien in den 80er- und 90er-Jahren –, das unter dem Gewicht des Drogenkriegs zusammenbricht.“

Nach dem dramatischen Einschnitt in Antonio Yammaras Leben ist es schwierig für ihn, in den Alltag zurückzukehren – dabei ist er gerade Vater geworden. Seine Frau und Tochter müssen ebenfalls unter den Folgen seines schlimmen Erlebnisses leiden. Eines Tages kommt Yammara nach Hause und eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter wühlt ihn auf: eine Nachricht von Maya Fritts, der Tochter von Ricardo Laverde. Direkt am nächsten Tag fährt er zu ihr hin, nach La Dorada im Flusstal des Río Magdalena. Von Anfang an scheint es ein unsichtbares Band zwischen den beiden zu geben. Was Antonio spürt, spricht Maya aus: „Ich glaube, Sie verstehen mich. (…) Muss wohl mit unserer Generation zu tun haben. Die wir in den Achtzigern aufgewachsen sind, nicht wahr? Wir haben eine ganz eigene Beziehung zu Bogotá, keine normale, scheint mir“ (S. 112). Die beiden gehören einer Generation an, die sich beim Aufwachsen die gleiche alltägliche Frage stellen musste: „Wann wird es mich treffen?“ Diese Generation teilt die gleiche „Erinnerung an die Angst“.

Auch Juan Gabriel Vásquez gehört dieser Generation an. Auf die Frage, inwiefern der Roman autobiografisch sei, antwortet der Autor: „Ich erinnere mich an diese faszinierende Eigenschaft, die alle menschlichen Gesellschaften unter solchen Umständen entwickeln: sich daran zu gewöhnen, eine gewisse Routine zu entwickeln, weiterzumachen, trotz allem. ‚Das Leben muss weitergehen‘ – wie oft haben wir diesen Satz von unseren Eltern gehört! Wir haben gewisse Strategien entwickelt: öffentliche Orte zu meiden, immer Münzen dabei zu haben, um schnell zuhause anrufen und ein Lebenszeichen von sich geben zu können, wenn eine Bombe hochgegangen war; oder die Fensterscheiben mit Klebeband in Kreuzform abzukleben, da sie so im Fall einer Explosion in größere, ungefährlichere Stücken zerbrechen. Die Leute meiner Generation aus Bogotá halten es kaum aus, warten zu müssen. All das wirkt sich auf dein Sozialverhalten und deine Beziehungen zu anderen aus. Wir hatten uns beispielsweise daran gewöhnt, bei wildfremden Leuten zu übernachten. Schließlich gab es oft Ausgangssperren und man konnte nicht mehr nachhause zurück.“

Eine der interessantesten Verknüpfungen des Romans besteht darin, den Anfang des internationalen Drogenhandels in Kolumbien mit den Freiwilligeneinsätzen der US-amerikanischen Peace-Corps in Verbindung zu bringen. Was beim Lesen zunächst unerhört gewagt erscheint, wird durch die Erläuterungen des Autors zum Aha-Effekt: „Einigen Leuten hat dieser Aspekt des Romans überhaupt nicht gefallen. Das ist aber gut so, denn das ist eines der fabelhaften Dinge, die die Literatur darf: ärgern und lästige Themen ansprechen. Der Roman erzählt davon, dass einige Freiwillige der Peace Corps Ende der 60er-Jahre aus einer Jugend-Subkultur in den USA kamen, der Hippie-Bewegung. Sie waren in Mexiko oder auf Jamaica gewesen und wussten, wie man Marihuana anbaut. Als sie nach Kolumbien kamen, waren sie dann der Ansicht, dass sie dies auch den dortigen Kleinbauern beibringen könnten, um deren Einnahmen und Lebensniveau zu verbessern. Darüber gibt es keine wissenschaftlichen Aufsätze oder Bücher. Doch im Zuge meiner Nachforschungen stieß ich auf Erklärungen, Interviews mit damals aktiven Politikern, Zeugenaussagen. Das ist der Vorteil der Literatur: Man kann über das schreiben, worüber Historiker oder Journalisten nicht schreiben können, weil ihnen umfassende Belege dafür fehlen. Ein Romanautor kann mögliche historische Umstände ausloten und weiterspinnen.“

An einigen Stellen spiegelt der Roman sehr treffend die – in der Tat belegten (!) – Lebensumstände wider und erfasst prägnant die internen Faktoren, die den Drogenanbau zu einer attraktiven Alternative werden lassen: die Armut auf dem Land, die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit, etwas zu verändern und Verbesserungen durchzusetzen. So beklagt sich die Peace-Corps Freiwillige Elaine darüber, dass die KolumbianerInnen glauben würden, die Freiwilligen seien im Lande, um „all das zu tun, wozu sie selbst keine Lust hatten oder was ihnen zu beschwerlich war. ‚Das ist die Mentalität der Kolonie’, sagte sie zu Ricardo (…). ‚All die Zeit, in der sie sich daran gewöhnt hatten, dass andere die Dinge für sie erledigen, lässt sich nicht so einfach wegwischen‘“ (S. 196).

Juan Gabriel Vásquez sagt es selbst: Er ist ein leidenschaftlicher Sammler von Anekdoten, die er gerne unorthodox neu zusammenfügt. Das gelingt ihm hervorragend, auch mit diesem packenden, mitunter verblüffenden Roman, der gekonnt Stadt und Land, Nord und Süd, 70er- und 90er-Jahre sowie Mikro- und Makro-Ebene miteinander verknüpft, und zwar überhaupt nicht collagenhaft, sondern süffig und elegant, mit vielen treffenden Bildern und knappen Anspielungen. Das tröstet über den leicht enttäuschenden Schluss hinweg, der etwas unvermittelt daherkommt; letztlich vielleicht auch nur, weil sich die Leserin noch etwas mehr Erforschung der Vergangenheit gewünscht hätte.