Der Amazonas ist zwar nur vielleicht der längste[fn]Die Länge des Amazonas, ebenso wie die des Nils, ist noch immer Gegenstand von Disputen unter Wissenschaftler*innen. Nach jüngeren Berechnungen sind beide knapp über 7000 Kilometer lang.[/fn], aber mit Abstand der Strom mit dem größten Einzugsgebiet (ca. 7 Millionen Quadratkilometer, es folgt der Kongo mit 3,7 Mio. Quadratkilometern) und auch der wasserreichste (durchschnittlich 200 000 Kubikmeter pro Sekunde Abfluss, an zweiter Stelle mit 40 000 Kubikmetern pro Sekunde folgt der Kongo). Etwa ein Fünftel des Süßwassers der Erde fließen im Amazonas-Flusssystem und noch Dutzende Meilen hinter der über 250 km breiten Mündung in den Atlantik bewegt man sich in Süßwasser. Umgekehrt rollen gezeitenbedingt enorme Wasserwellen den Amazonas mehrere hundert Kilometer bis zum Städtchen Óbitos hinauf und überschwemmen die Uferregionen: die pororoca (vermutlich aus der ausgestorbenen Tupí-Sprache), deren lautes Donnern die Uferbewohner*innen vor ihrem Herannahen warnt. Seine Quellflüsse, der nördlichere und wasserreichere Marañón und der südlichere, mit seinen Oberlaufabschnitten weitaus längere Ucayali entspringen in den peruanischen Anden in über 5000 Metern Höhe. Oberhalb von Iquitos, der ersten großen Stadt am Flusslauf, vereinigen sie sich zum Amazonas, der jedoch in Brasilien auf der langen Strecke bis Manaus Rio Solimões genannt wird. Erst ab dem Encontro das Aguas, wo sich die Wasser des bräunlich-gelblichen Rio Solimões und des schwarzen Rio Negro treffen und über mehrere Kilometer nebeneinanderher fließen, bis sie sich allmählich vermischen, heißt der Strom endgültig Amazonas.
Das Einzugsgebiet des Amazonas mit seinen mehr als 10 000 Zuflüssen beziehungsweise das Amazonas-Biom (vgl. Karte) erstreckt sich über neun Nationalstaaten und umfasst etwa zwei Fünftel der Fläche des südamerikanischen Kontinents.[fn]Alle hier genannten Zahlen sind als grobe Annäherungen zu verstehen, da sich die vorhandenen Daten mal auf das hydrographische Einzugsgebiet, mal auf das Becken des Amazonas (das die Höhenlagen in den Anden ausschließt) oder auf das Amazonas-Biom (das die Guyanas mit einschließt) beziehen.[/fn] Etwa zwei Drittel davon fallen auf Brasilien, etwa 15 Prozent auf Peru, etwa 10 Prozent auf Bolivien und weitere Anteile auf Kolumbien, Venezuela, Ecuador, Guyana, Surinam und Französisch-Guyana. Überraschen mag, dass jeweils etwa zwei Drittel des Territoriums der wahrscheinlich bekanntesten „Andenländer“ Peru und Bolivien der Amazonasregion zuzurechnen sind, entsprechend ca. die Hälfte der Fläche Ecuadors. Laut der Organisation des Amazonas-Kooperationsvertrags (OTCA, Organización del Tratado de Cooperación Amazónica) umfasst die Amazonasregion gut die Hälfte der Gesamtfläche ihrer acht Mitgliedsstaaten (die genannten außer Französisch-Guyana), während die dort lebenden 34 Millionen Einwohner*innen nur elf Prozent der Bevölkerung besagter Staaten ausmachen.
Den weitaus größten Anteil am Amazonas-Biom hat der tropische Regenwald mit seiner immensen Biodiversität. Tatsächlich ist die Amazonasregion ein Mosaik verschiedener Waldarten, die jeweils einzigartige und dynamische Habitate für Flora und Fauna darstellen. Das Ansteigen des Amazonas (um bis zu neun Meter) und seiner Nebenflüsse während der Regenzeit bewirkt periodische Veränderungen der Landschaften, wie etwa die mehrere Monate im Jahr überschwemmten Várzea-Wälder entlang der sedimentreichen Weißwasserflüsse und die Igapó-Wälder entlang der nährstoffarmen, huminsäurereichen Schwarzwasserflüsse. Zur heterogenen Vegetation des Amazonasgebietes gehören auch die höher und damit außerhalb der Überschwemmungsgebiete gelegenen, humus- und nährstoffarmen Terra-firme-Wälder, Mangrovenwälder, Savannen, aber auch die Bergwälder oder Yungas an den Ost-abhängen der Anden.
Nicht nur die bio- und ökologische Vielfalt des Amazonasgebietes ist herausragend, sondern auch die kulturelle und linguistische Diversität, deren einstiges Ausmaß, vor dem Einfall der Europäer in die Amerikas, kaum noch zu rekonstruieren ist. Noch vor 20 Jahren war so wenig über die amazonischen Sprachen bekannt, dass das Amazonasgebiet als eine „linguistische Black Box“ bezeichnet wurde. Heute geht man davon aus, dass in der Region etwa 350 indigene Sprachen gesprochen werden, rund die Hälfte davon von nur einigen hundert oder weniger Sprecher*innen. Dabei war und ist Multilingualismus weit verbreitet, was ein Hinweis auf regelmäßigen Kontakt und Austauschbeziehungen zwischen Angehörigen verschiedener indigener Gruppen ist. Die Sprachen lassen sich in etwa 20 Sprachfamilien (die größten sechs sind Tupí-, Ge-, Karib-, Arawak, Pano-, Tucano-Sprachen) gruppieren, darüber hinaus existieren einige Dutzend isolierte Sprachen.
Sowohl die Biodiversität als auch die indigene Bevölkerung des Amazonasgebiets sind in den letzten Jahrzehnten zunehmend durch vielfältige massive Eingriffe bedroht, die auf die Ausbeutung des Ressourcenreichtums der Region abzielen und die stückweise Zerstörung eines Jahrtausende bestehenden dynamischen Gleichgewichts von Mensch und Umwelt zur Folge haben. Dabei ist das Interesse an den Ressourcen des Amazonasgebietes kein neues, erst mit der Kolonialisierung oder der kapitalistischen Ausbeutung entstandenes Phänomen. Schon in den vorwiegend im Andenhochland verorteten präkolumbischen Gesellschaften wie Wari und Inka waren etwa bunte Federn, Chili oder Koka-Blätter, die nur im Tiefland vorhanden waren, begehrte Güter. Zwar gelang es ihnen nicht, sehr weit in diese Gebiete vorzudringen (wobei die Ostabhänge der Anden, das Antisuyu, einer von vier Teilen des Inka-Staates Tawantinsuyu war), dennoch waren die Beziehungen zwischen den Hochland- und Tiefland-Bewohner*innen in dieser „Dazwischen-Zone“ am Fuße der Anden intensiver und vielfältiger als lange Zeit angenommen.
Zentraler Grund für die Expeditionen der europäischen Kolonisatoren in die für sie nur schwer zu durchdringenden Waldregionen waren die dort vermuteten Ressourcen, so etwa für die Gonzalo-Pizarro-Expedition. Deren Suche nach dem legenden-umwobenen „Zimtland“ und dem „Goldland“ El Dorado unter der Leitung von Francisco de Orellana war eine gefährliche und verlustreiche Reise durch das kaum anders als auf dem (später Amazonas genannten) Fluss zu durchdringende Amazonasgebiet. Die Vorstellung, es handele sich hier um weitgehend „unberührten“ oder „unbewohnten“ Wald, ist ein inzwischen widerlegter Mythos, worauf auch schon die Berichte der genannten Expedition hindeuten (vgl. den Beitrag „Wie der Amazonas zu seinem Namen kam“).
Zahlreiche Forschungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass menschliche Gesellschaften seit über 10 000 Jahren maßgeblich zum Werden der amazonischen Landschaften beitragen haben (vgl. den Beitrag zu der Amazonas-Archäologie in dieser ila). Zu gewisser Bekanntheit haben es in diesem Zusammenhang bereits die sogenannten Schwarzen Erden, terras pretas und terras mulatas, gebracht: Böden, deren Formation und Eigenschaften nachhaltig durch menschliches Handeln entstanden sind, weshalb sie für die Archäolog*innen ein wichtiger Hinweis auf frühere Besiedlung sind. Durch die zugeführten organischen Substanzen sind diese anthropogenen Böden besonders kohlenstoff- und nährstoffreich, weshalb sie bis heute von Landwirt*innen geschätzt werden, da hier höhere Erträge von Kulturen wie Maniok, Süßkartoffeln oder Mais erzielt und eine große Vielfalt essbarer und nützlicher Früchte angebaut werden können. Die Amazonaswälder stellen also keinen Gegensatz zur menschlichen Zivilisation dar, sondern sind, im Gegenteil, Ergebnis des Zusammenwirkens von menschlichen und nichtmenschlichen Einflüssen, wobei mal diese, mal jene dominanter waren.
Es ist davon auszugehen, dass sich die meisten indigenen Bewohner*innen des Amazonasgebietes des Einflusses ihrer Anbaupraktiken auf das Ökosystem durchaus bewusst sind. Das mag am Beispiel der im Grenzgebiet von Ecuador und Peru lebenden Achuar, Sprecher*innen einer Jívaro-Sprache, verdeutlicht werden, bei denen der französische Anthropologe Philippe Descola lange Zeit geforscht hat. Er beschreibt, dass sie sich im Schnitt alle zehn bis fünfzehn Jahre an einem anderen Ort niederlassen, wo sie auf ausgedehnten Rodungen Häuser von begrenzter Lebensdauer errichten. Ein Areal von gestampfter Erde um das Haus herum, wo einzelne Büsche und Kräuter gepflanzt werden, bildet einen Übergang zum „Garten“, in dem sie eine Vielfalt an Pflanzen wie Süßkartoffeln, Maniok und Bananen anbauen. Deren Varietätenreichtum lässt auf eine lange Erfahrung der Achuar mit „Kulturpflanzen“ schließen, die darüber hinaus eine zentrale Rolle in ihrer Mythologie einnehmen. In den „Gärten“ werden auch Fallen für (gerne verzehrte) Nagetiere aufgestellt, sie sind gleichzeitig Jagdgebiet der Jungen und heben sich doch vom umliegenden Sammel- und Jagdgebiet, dem „Wald“, ab. In den Gärten kultivieren die Achuar sowohl Pflanzen, deren Reproduktion vom Menschen abhängt, als auch „wilde“ Arten wie Obstbäume und Palmen, die lediglich umgepflanzt werden. Doch die Achuar unterscheiden nicht zwischen domestizierten und wilden Pflanzen, sondern zwischen aramu („das, was in die Erde getan wurde“) und ikiamia („waldartig“, „vom Wald kommend“). Der Kategorie aramu gehören all jene Pflanzen an, die vom Menschen manipuliert wurden und auf den gerodeten Flächen wachsen. Sie verweist damit auf die besondere Beziehung zwischen den Pflanzen und den Menschen in den von ihnen angelegten Gärten. Die außerhalb der gerodeten Areale wachsenden ikiamia dagegen werden von Shakaim kultiviert, einem Geist, dessen Rat und Wohlwollen die Achuar vor jeder Waldrodung einholen. Die tropische Struktur des Waldes, das heißt der Pflanzungen von Shakaim, dem „Gärtner des Waldes“, finden sich in Miniatur in der etagenförmigen Vegetation der Gärten der Achuar wieder.
Das Gebiet in einem Umkreis von ein bis zwei Stunden Fußmarsch um die Rodung herum ist der regelmäßig durchstreifte und daher vertraute Sammelgrund, eine Art „Baumgarten“. Erst dahinter beginnt das eigentliche Jagdgebiet, das die Jäger aufs Genaueste kennen. Die Unterscheidung zwischen von Menschen und von Geistern angebauten Pflanzen setzt sich bei den Tieren fort. Die nahe der Häuser, in gewisser Weise mit den Achuar lebenden Tiere, etwa junge Wildtiere oder Vögel, sind tanku, „gezähmt“ oder „an den Menschen gewöhnt“. Sie haben eine Art Übergangsstatus, denn sie wurden in den ihnen eigenen Habitaten von den Geistern gezähmt, während sich die Achuar vorübergehend um sie kümmern, ohne jedoch in die Reproduktion dieser Tiere einzugreifen. Hingegen sind die Tiere des Waldes die tanku (als Substantiv etwa „Haustier“) der Geister. Diese von den Achuar gejagten Tiere sind nahezu menschliche Wesen, die die Jäger verführen und das Einverständnis der sie schützenden Geister einholen müssen. Auch in diesem von Shakaim angelegten großen Garten errichten die Achuar von kleineren Pflanzungen umgebene Hütten, die in regelmäßigen Abständen für ein paar Tage mit der ganzen Familie aufgesucht werden, Wochenendurlaub sozusagen. Der „Wald“ ist also alles andere als wild, sondern vielmehr ein sozialisierter „Garten“ und damit „jenseits von Natur und Kultur“, so der Titel des sehr zu empfehlenden Buches von Descola, dem diese Ausführungen zugrunde liegen.[fn]Originaltitel: Par-delà la nature et culture, Paris, Éditions Gallimard, 2005, dt. Erstausgabe: Jenseits von Natur und Kultur, Berlin, Suhrkamp, 2011[/fn]
Das Bild von im Regenwald lebenden „Naturvölkern“ oder „Edlen Wilden“ erscheint so in einem ganz anderen Licht, wodurch auch deutlich wird, wie unpassend unsere Begriffe sind, um die Lebenswelten am Amazonas (und anderswo) zu beschreiben. Die so oft postulierte Harmonie zwischen den Indigenen im Amazonasgebiet, die uns noch immer als beste Verteidiger des Regenwaldes erscheinen, mit der „Natur“, mit der sie „im Einklang leben“, basiert gerade auf ihren Vorstellungen von Welt, die vor allem zeigen, dass der uns so selbstverständlich erscheinende Gegensatz von Natur und Kultur und zahlreiche weitere Dichotomien wie wild/domestiziert, Tier/Mensch, Körper/Geist, objektiv/subjektiv nicht universell gültig sind.
Nach diesen Kosmologien wird die Welt von unterschiedlichen menschlichen und nicht-menschlichen Subjekten oder Personen (Tiere, Pflanzen, Geister, bestimmte Gegenstände) bewohnt, die die Welt und die sie bewohnenden Wesen von ihrem jeweiligen Standpunkt aus wahrnehmen. Üblicherweise sehen Menschen die Menschen als Menschen, Tiere als Tiere und Geister (falls sie sie sehen) als Geister. Dagegen sehen (Jagd-)Tiere und Geister Menschen als (Beute-)Tiere, die wiederum Menschen als Geister oder als (Jagd-)Tiere sehen. Tiere und Geister sehen sich selbst als Menschen, ihre Gewohnheiten und Eigenschaften entsprechen der Ordnung der „Kultur“. Etwa sieht der Jaguar Blut als Maniok-Getränk, der Aasgeier Würmer als gebratenen Fisch, das Tapir ein Schlammloch als zeremonielles Haus. Schlangen und Jaguare sehen Menschen als Tapire oder Wildschweine, weil sie, gleich Menschen, Tapire und Wildschweine essen. Fell, Federn, Krallen und Schnäbel der Tiere sind Bekleidung, Schmuck oder Werkzeuge, ihr Sozialsystem ist das einer menschlichen Gesellschaft. Tiere sind also Personen mit menschlichem Bewusstsein, verfügen über Subjektivität und Intentionalität; das Erscheinungsbild einer jeden Spezies ist eine Hülle, die die menschliche Form verbirgt, die nur für Angehörige derselben Spezies und transspezifische Wesen wie rituelle Spezialisten („Schamanen“) sichtbar ist.
Das Grundprinzip dieses „amerindischen Perspektivismus“ (den Begriff prägte der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro[fn]Zentraler Text auf Deutsch: „Die kosmologischen Pronomina und der indianische Perspektivismus“ im Bulletin der Schweizerischen Amerikanisten-Gesellschaft, Nr. 61 (1997)[/fn] ist das Menschsein aller Wesen als gemeinsame ursprüngliche Verfassung. Die Mythen erzählen davon, dass am Anfang alle Wesen, in deren Formen, Namen und Verhalten menschliche und tierische Eigenschaften vermischt sind, menschlich waren, daher verbindet sie eine gemeinsame „Kultur“. Bei der Differenzierung in Menschen und Tiere haben letztere einige der menschlichen Eigenschaften verloren und vor allem ihre Erscheinungsformen oder „Naturen“ geändert. Deswegen unterscheiden sich die Perspektiven dieser Ex-Menschen von denen der Mensch Gebliebenen. „Kultur“ und „Natur“ sind in diesem Denken keine separaten ontologischen Bereiche, sondern sie deuten auf relationale Kontexte und veränderbare Perspektiven hin.
So gesehen dürfte die Motivation indigener Aktivist*innen, sich Holzfällern, Bergbauunternehmen und Militärs in den Weg zu stellen, weniger Umweltschutz per se oder der Erhalt eines für das Weltklima unersetzlichen Naturguts sein, sondern sie kämpfen um die Anerkennung garantierter Rechte auf ihre Territorien, damit die darin gewachsenen Beziehungen verschiedener Wesensformen weiter geknüpft werden können, was die Grundlage ihrer Lebensweisen darstellt.