Kein Buch wie dieses. Gemeint ist „Ist das ein Mensch?“ von Primo Levi. Der Holocaustüberlebende hat darin die Schrecken von Auschwitz beschrieben wie niemand anders, meint der Schreiber des „Tagebuchs eines Sturzes“, nicht Hanna Arendt, Bettelheim, Klemperer, Frankl, Celan, Appelfelt, Wiesel usw. Sie alle und viele andere haben versucht, mit dem schriftlichen Dokumentieren des einzigartigen Bösen die Hölle zu beschwören und damit hinter sich zu lassen. Primo Levi stürzte zu Hause in Turin eine Treppe hinunter und starb, nachdem er aufgezeichnet hatte, wie wichtig es war, im KZ auf Anhieb die richtigen Schuhe auszuwählen, wenn sie den Gefangenen vorgeworfen wurden. Eine Fehleinschätzung der Größe und man hatte dem ganzen Leid auch noch dasjenige hinzugefügt, nicht mehr schmerzlos laufen zu können. Ob Primo Levis Fehltritt auf der Treppe wirklich nur ein Unfall war, werden wir nie wissen.
Es ist bekannt: Die Millionen Toten traumatisieren die Überlebenden bis an ihr Lebensende. Aber wäre es weniger schlimm, wenn es nur einer gewesen wäre, sind die vielen nicht nur dazu da, andere Gräuel des 20. Jahrhunderts zu relativieren, war für den namenlosen Tagebuchschreiber – nennen wir ihn Michel, weil es fast unmöglich ist, keine autobiographischen Züge in dem 1973 geborenen Schriftsteller zu erkennen, dessen Großvater am Ende des zweiten Weltkriegs in Porto Alegre in Südbrasilien ankam – war also für Michel nicht viel entscheidender, dass er als Dreizehnjähriger daran mitschuldig wurde, dass ein nichtjüdischer Mitschüler fast zum Krüppel wurde?
In der jüdischen Schule ist João die Minderheit, der Vater will sich anpassen, legt sich finanziell krumm und ermöglicht dem Sohn ein Bar-Mizwa-Fest, zu dem alle Klassenkameraden eingeladen werden. Die hecken für den ohnehin von ihnen schon ewig Drangsalierten und Gehänselten eine besondere Fiesigkeit aus. Beim traditionellen dreizehnten „Er lebe hoch!“ fangen sie den zu fünft Hochgeworfenen nicht mehr auf. João schlägt hart auf den Boden auf und wird, monatelang im Streckverband, wieder gehen lernen müssen. Das Gefühl der Mitschuld an diesem Sturz lässt Michel die Seiten und mit João die Schule wechseln, wo er fortan die Minderheit ist, bis dass er auch dieses Kapitel abschließt, nachdem er böse mit dem bis dahin besten Freund João gebrochen hat und mit dem Vater einen fast fatalen Streit und eine lebensgeschichtlich zum Wendepunkt werdende Aussprache, die einzige mit ihm, hat.
Da ist er dreizehn, ein Jahr jünger als sein Vater, als der Großvater Selbstmord beging. Dieser hatte sich irgendwann aus allem in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und geschrieben, sechzehn Hefte von je hundert Seiten mit je einunddreißig Zeilen. Als Michels Vater sie später übersetzen lässt, kommt eine auf den ersten Blick ganz erstaunliche Lebensgeschichte zum Vorschein, die mit der Ankunft in Brasilien beginnt. Alles ist ideal, äußerst hygienisch, liebevoll, geräumig, ordentlich, gemütlich, freundlich. „Die Welt, wie sie sein soll.“ Alles, was Auschwitz nicht war. Das genaue Gegenteil der Beschreibungen Primo Levis, dessen Erfahrungen, die der Großvater geteilt haben muss, die die schreiende Leerstelle seiner Hefte sind, das Unaussprechliche, das ihn am Ende einholte, als er die Waffe nahm.
Auch Michels Vater beginnt zu schreiben, und zwar, als ihm Alzheimer diagnostiziert wird. Damit nichts verloren geht, beschreibt er „die Welt, wie sie ist“, das Gegenteil von dem, was seinen Vater zur Schrift gebracht hatte. Michel schreibt ohnehin, er ist studierter Journalist und Schriftsteller, auch er beschädigt und beziehungsunfähig, wie Großvater und Vater, weit weg von Porto Alegre in São Paulo lebend, Alkoholiker, seit er vierzehn war, gewalttätig und am Ende seiner dritten Ehe angelangt, als er, mit fast vierzig, eine Mappe mit einer Alzheimerdiagnose des Vaters in den Händen hält und beschließt, in ein Flugzeug zu steigen und sie seinem Vater in Porto Alegre zu überbringen.
Dort kann er endlich mit seinem Vater reden. Er entscheidet, seine eigene, dritte Ehe zu retten, mit dem Trinken aufzuhören, ein Kind zu bekommen, an das die letzten Absätze des Buchs gerichtet sind. Aussöhnung, Auflösung, Ausweg aus dem Circulus Vitiosus des Nichterinnernkönnens und -wollens beim Übergang von der dritten zur vierten Generation nach Auschwitz? Das Buch hatte begonnen mit einer Spurensuche. „Einige Dinge, die ich über meinen Großvater weiß“, heißt das erste Kapitel, „Einige Dinge, die ich über meinen Vater weiß“, das zweite; und konsequent das dritte: „Einige Dinge, die ich über mich weiß“. Es folgen Anmerkungen, bevor es mit „Noch ein paar Dinge…“ weitergeht. Es fehlen indessen nicht nur die Daten der Tagebucheintragungen, es fehlt überhaupt jede Chronologie. Die Fragmente kreisen um jenen entscheidenden Moment, als Michel dreizehn war, einen Fluchtpunkt, von dem aus die Welt interpretierbar, aber nicht wahr wird. Die Absätze sind beziffert, als handele es sich um einen Verhandlungstext, bei dem bei jeder Ziffer Änderungsanträge eingebracht werden könnten.
So ist der Sturz auch nicht wirklich aufhaltbar. In der idealen Welt der kleinen Familie, die Michel beschreibt, scheinen die Beschreibungen des Großvaters auf, als er notierte, die Schwangerschaft seiner Frau „sei ohne Zögern getroffen worden und in der Aussicht auf ein neues Leben, von langer Hand geplant durch den Ehemann, eingedenk dessen tiefsten Wunsches nach Fortbestand und Liebe“ (S. 51). Eine Liebe, die er nie im Geringsten vermittelte oder zu vermitteln wusste. Das Bedürfnis zu schreiben bei Vater und Großvater sei der „Unzulänglichkeit menschlicher Erfahrung an jedem Ort und zu jeder Zeit“ geschuldet. Sie bleibt bestehen. Aber das beschreibt Michel Laub brillant.
Michel Laub, Tagebuch eines Sturzes, Übersetzung: Michael Kegler, Klett Cotta 2013, 176 S., 19,95 Euro