Analyst menschlicher Abgründe

Jorge Zepeda Patterson wurde 1952 in Mazatlán, Mexiko, geboren. Der Journalist und Autor wurde hier bekannt durch seine Romantrilogie rund um „Die Blauen“, eine Vierergruppe einflussreicher Freund*innen um die 40, die aus der mexikanischen Mittel- und Oberschicht stammen und sich seit ihrer Kindheit kennen. In den drei Mexiko-Romanen, allesamt spannende, reißerische Politthriller, die für Netflix verfilmt werden, thematisiert er Korruption, Gewalt und Verbrechen, Terror und eine unhaltbare Menschenrechtslage. Wahrlich kein schmeichelhaftes Mexikobild, das er uns präsentiert.

Sein vierter Roman, „Das Schwarze Trikot“, hat mit Mexiko nichts zu tun. Dieser höchst spannende Thriller ist in der abgeschlossenen Welt der Tour de France angesiedelt. Ein kolumbianisch-französischer Radprofi gerät mit seinem langjährigen Teamkollegen und Freund aus den USA aneinander. Es geht um Etappensiege, gelbe Trikots, Neid, Machenschaften und Mord, Erfolgsdruck und eben die Grenzen der Freundschaft im Profisport. Der Roman wird in Frankreich fürs Fernsehen verfilmt.

Ich hatte die Romane um „Die Blauen“ mit Interesse gelesen, den ersten auch für die ila 424 besprochen, war dann neugierig auf den Roman über die „Tour“. In Frankfurt wollte ich Zepeda Patterson Mitte Juni treffen, doch der Termin wurde abgesagt. So traf ich ihn via Zoom. Mich interessierte, ob die Themen der Trilogie tatsächlich die aktuellen Probleme Mexikos aufgreifen. Ja, sagte Zepeda Patterson, die Themen beschrieben größtenteils das öffentliche Leben der heutigen mexikanischen Gesellschaft, doch seien sie vielen Gesellschaften eigen. Die Romane wurden in viele Sprachen übersetzt, und ihm sei aufgefallen, dass viele Leser*innen aus Lateinamerika, aber auch aus dem Mittelmeerraum, Strukturen ihrer Gesellschaften wiedererkannt hätten, etwa in Bezug auf Abmachungen und Machenschaften der Mächtigen.

Warum beschreibt er dann in „Das Schwarze Trikot“ eine ganz andere Welt? Nach drei Romanen über das öffentliche Leben in Mexiko, die seine „persönlichen Erfahrungen als Journalist und Herausgeber von Zeitungen“ erweitert hatten, wollte er sich „als Schriftsteller beweisen und etwas schreiben, was nichts mit meinen eigenen Erlebnissen zu tun hat, sondern eine Geschichte, die auf rein literarischer Fiktion basiert“. Er wollte ein Buch über die Freundschaft schreiben, „nicht nur über die positiven Aspekte, sondern auch über den Neid, das Dunkle und Undurchsichtige, die Graustufen in einer Beziehung“. Jene Art von Freundschaft also, die immer wieder auf die Probe gestellt wird und an ihre Grenzen stößt.

Zepeda hatte Lust, „dem europäischen, vor allem dem englischen Kriminalroman zu huldigen, der ,suspense novel‘, wo der wahrscheinliche Mörder immer unter uns ist, im gleichen Zimmer, auf einer Insel, in einem Zug oder auf einem Kreuzfahrtschiff. In meinem Fall eben die geschlossene Truppe der Tour de France.“

Er recherchierte viel für den Roman in Frankreich, lebte und schrieb am Fuße der Pyrenäen und in den Alpen, um die Besonderheiten der Regionen zu dokumentieren. Viele Radsport-Wettbewerbe in Frankreich und Spanien habe er aufmerksam beobachtet, er akkreditierte sich als Reporter, auch für die Tour de France. Der Prozess des Schreibens machte ihm ebenso viel Spaß wie die Recherche, er erlaubte es ihm einzutauchen in jenes Paralleluniversum des professionellen Radsports.

Zepeda war schon immer sportbegeistert. Im letzten Roman der Mexiko-Trilogie, „Spiele der Macht“, hatte er einen Profi-Tennisspieler porträtiert, Sergio Franco, der sich der politischen Macht andient und beinahe Opfer einer politischen Intrige wird. Wie der Protagonist in „Das Schwarze Trikot“, der Profi-Radfahrer Marc Moreau, lässt er sich aber nicht korrumpieren, wirkt etwas unbeholfen außerhalb der Sportwelt und ist bereit, gegen das Böse, gegen Macht und Verbrechen anzukämpfen. Beide halten Sportsgeist und Berufsehre hoch. Eine Figur wie Sergio, den Tennisprofi, habe er erfunden, weil er eine neutrale Person brauchte, die staunend und voller Unschuld von außen auf die Machenschaften der Mächtigen in Politik und Wirtschaft schaut.

Im letzten Roman aber geht es nicht um politische Intrigen, sondern um die Verbrechen während der Tour de France. Die Figur des Franko-Kolumbianers Marc Moreau habe er aus einem anderen literarischen Bedürfnis heraus geschaffen: Er wollte aufzeigen, wie Ehrgeiz, Neid und Missgunst eine lange und enge Freundschaft zerstören können. Moreau sieht sich als eigentlich gutmütiger und uneitler Athlet aufgrund der sportlichen Umstände im französischen Radsportteam gezwungen, sich mit harten Bandagen gegen die Intrigen seines langjährigen amerikanischen Freundes und Kollegen zur Wehr zu setzen.

Besonders gefalle ihm, aus literarischer Sicht, dass es im Sport epische, fast heroische Momente gebe, die den Menschen an physische Grenzen bringen. Es gebe „keinen anderen Leistungssport, der dem Athleten mehr abverlangt als der Profiradsport, gerade auf der Tour der France“, so Zepeda. „Drei Wochen nur Wettbewerb, 21 Tagesetappen, nur wenige Ruhetage.“ Dem Sportler werde fast täglich eine Art Marathon abverlangt, für den es übernatürliche Kräfte und einen starken Willen brauche, ähnlich wie im Science-Fiction-Roman, in dem der Autor seinem Protagonisten übermenschliche Fähigkeiten verleihe.

Sein Protagonist sollte einen lateinamerikanischen Hintergrund mitbringen. Mexiko kam dafür aber nicht in Frage, weil es unwahrscheinlich gewesen wäre, einen Mexikaner als Radprofi auszuwählen. Dieser Sport sei dort nicht populär, sehr wohl aber in Kolumbien, wo er so beliebt sei wie in Argentinien oder Brasilien der Fußball. Es gebe kolumbianische Athleten, die die Amerikaner oder Europäer herausfordern oder sich in europäischen Teams engagieren.

Die realistisch-politische Romantrilogie um „Die Blauen“ geht auf Zepedas Wunsch zurück, ein anderes als das journalistische Werkzeug auszuprobieren, um ätzende Gesellschaftskritik zu formulieren. Er sei als Journalist, Kommentator und Analyst ein zutiefst politischer Mensch. Doch die journalistischen Mittel und Genres seien begrenzt. Wenn man „Farben, Aromen, Gesten“ beschreiben wolle, klappe das im Roman viel besser, weil man mehr Möglichkeiten habe und freier sei. „Es gibt keinen besseren soziologischen Essay, um die Armut der Arbeiterklasse im London des 19. Jahrhunderts zu beschreiben, als einen Roman von Dickens. Er bringt seine Figuren zum Tanzen, wir riechen förmlich das Elend, die Ausbeutung und die Hoffnungslosigkeit“, so Zepeda. Eine weitere Motivation: Er habe immer gerne und viel gelesen. „Die besten Momente meines Lebens verdanke ich der Lektüre von Romanen. Ich wollte auch mal die Seiten wechseln und mit meinen 58 Jahren damals einen interessanten Beitrag zur Literatur leisten. Belletristik zu schreiben ist eine sehr ausfüllende und zufriedenstellende Aufgabe.“

An die Verfilmung seiner Romane denke er beim Schreiben nicht. Dass die Leser*innen die Szenen als sehr plastisch und anschaulich erlebten, gelinge ihm wohl unbewusst, ohne Vorsatz; dies sei aber sicherlich eine Folge jahrzehntelanger Kinobesuche. Er sei ein Filmnarr, was wohl auch dafür sorge, dass die Romanszenen in seinem Kopf sprießen und gedeihen.

Seit „Das Schwarze Trikot“ hat er noch einen weiteren Roman geschrieben, der bereits in spanischer Ausgabe erschienen ist. Er behandelt den Rassismus in den USA, die Abschottung gegen Lateinamerikaner*innen und den Kampf eines rechtspopulistischen Politikers um die Rückkehr ins Weiße Haus. Naheliegend, dass diese Figur an Donald Trump erinnert. Er versuche in „El Dilema de Penélope“ („Das Dilemma der Penelope“) jene boshafte, fast karikaturhafte, unmoralische Manipulation der Gesellschaft zu beschreiben und wünsche sich, dass auch dieser fünfte Roman in viele Sprache übersetzt werde. Ein Wunsch, dem ich mich gerne anschließe.