Die/der geheimnisvolle Autor*in mit dem Pseudonym „L. Hayuco“ hat einen neuen Roman vorgelegt. Wie schon im mutmaßlichen Erstling „Die Fahne“, den wir in der ila 441 vorgestellt hatten, erfahren die Leser*innen nur: „Die Person, die dieses Buch verfasst hat, lebt in Montevideo. Mehr ist über sie nicht bekannt. Sie möchte, dass es so bleibt.“

Das zentrale Personal des neuen Buches „Der Deutsche“ ist zunächst dasselbe wie bei „Die Fahne“: Die uruguayische Journalistin Marcela und der deutlich ältere argentinische Historiker Esteban. Wenn man unbedingt ein Etikett braucht, könnte man auch diesen Roman als einen auf sorgfältigen Hintergrundrecherchen basierenden Politthriller bezeichnen, auch wenn er ohne Leiche auskommt.

Weil er seine Lehrtätigkeit an der Universität Buenos Aires während der Pandemie als unbefriedigend empfand, hat sich der wohlhabende Esteban für ein Jahr beurlauben lassen und ist ins benachbarte Montevideo umgesiedelt, um dort über die Beziehungen uruguayischer Firmen und Banken zu Nazideutschland zu forschen. Während die engen Verbindungen seines Heimatlands Argentinien zur NS-Diktatur in zahlreichen Veröffentlichungen thematisiert wurden, hatten es die Eliten des in internationalen Konflikten stets als „neutral“ auftretenden Uruguay nach 1945 vermocht, über ihre Geschäfte mit deutschen Unternehmen in den 1930er-Jahren einen Mantel des Schweigens auszubreiten.

Da Esteban für bestimmte Recherchen und Einordnungen jemanden benötigt, die/der Uruguay und seine Gepflogenheiten und Codes kennt, erinnert er sich an Marcela. Er bietet ihr an, auf Honorarbasis für ihn zu arbeiten. Sie ist zunächst skeptisch, denn ihre frühere Kooperation verlief keineswegs konfliktfrei. Aber da sie wegen des Auflagenrückgangs ihre Anstellung bei einer linksliberalen Tageszeitung verloren hat und sich nun als freie Journalistin mehr schlecht als recht durchschlägt, willigt sie ein.

So beginnen die beiden, bald unterstützt von einem deutschen Wirtschaftshistoriker, mit ihren Nachforschungen. Fast alle uruguayischen Geschäfte mit Nazideutschland liefen über die Deutsche-Bank-Tochter „Banco Alemán Transatlántico“, die bis zum Zweiten Weltkrieg in Montevideo operierte. Marcela und Esteban stoßen auf die Namen von drei Buchhaltern, die bei allen relevanten Transaktionen auftauchen. Bald fokussieren sie sich auf einen der drei, der offensichtlich eine Schlüsselrolle bei den Geschäften spielte. Nachdem es zunächst schwierig ist, mehr über ihn zu erfahren, weil er seinen Namen leicht verschlüsselt hatte, finden sie einiges heraus, unter anderem, dass er nach der Abwicklung der „Banco Alemán Transatlántico“ Uruguay verließ und nach dem Krieg in Argentinien auftauchte, wo er bei der „Banco Nacional“ tätig war. Das legt den Verdacht nahe, dass er auch am Verstecken und Waschen von Nazigeldern beteiligt war. Bis dahin sind Marcela und Esteban der Meinung, eine historische Forschung zu betreiben, deren Ergebnisse sie irgendwann in einer wissenschaftlichen Publikation für kleines Publikum veröffentlichen würden. Doch dann erhält Marcela Drohungen und muss abtauchen. Ganz offensichtlich schrecken ihre Recherchen Leute auf.

Weil es in Uruguay gefährlich zu werden scheint und weil der letzte bekannte Wohnort des besagten Buchhalters das argentinische Mendoza war, beschließen Marcela und Esteban, sich dorthin zu begeben. Sie finden mehrere noch lebende Zeitzeugen, doch je mehr sie erfahren, desto widersprüchlicher wird das gesamte Panorama. Gleichzeitig merken sie, dass verschiedene Geheimdienste, namentlich der britische und der deutsche, aber auch argentinische Stellen ihre Arbeit interessiert verfolgen, sie entweder überwachen oder versuchen, sie mit sensiblen Informationen zu locken und zu einer Zusammenarbeit zu bewegen.

So können die Leser*innen eine spannende Recherche verfolgen und die Versuche verschiedenster Akteure, diese in bestimmte Richtungen zu lenken, durch falsche Fährten zu torpedieren und vor allem ihre Ergebnisse abzugreifen. Anders als manche Mythen nahelegen, zeigt der Roman, dass Geheimdienste vor allem Institutionen sind, die Informationen sammeln und kategorisieren, um sie für politische Manöver und Erpressungen einzusetzen oder dafür in der Hinterhand zu haben. Dass sie dabei auch Journalismus und historische Forschung nutzen und instrumentalisieren, versteht sich von selbst und muss von Beteiligten an investigativen Recherchen immer bedacht werden, wenn sie sich nicht zu nützlichen Idioten irgendwelcher Dienste machen wollen.

Wie schon „Die Fahne“ ist auch „Der Deutsche“ aufklärerische Literatur im besten Sinne. An einigen Stellen hätte ich mir ein etwas strengeres Lektorat gewünscht. So wird mitunter doch zu viel erklärt oder das Klischee des überheblichen, selbstverliebten Porteño (männlicher Bewohner von Buenos Aires), das zweifellos existiert und in Uruguay liebevoll gepflegt wird, etwas zu oft bemüht. Aber das ändert nichts daran, dass auch Hayucos zweiter Roman eine unterhaltsame und unbedingt lohnende Lektüre ist.