Es war ein denkwürdiger Augenblick in der jüngeren argentinischen Geschichte. 60 Jahre nach Kriegsende wurde am 8. Juni 2005 in Anwesenheit von Präsident Néstor Kirchner und Außenminister Rafael Bielsa in einem symbolischen Akt das Circular 11, eine geheime Direktive aus dem Jahre 1938, welche die Einwanderung jüdischer Flüchtlinge nach Argentinien unterbinden sollte, für null und nichtig erklärt. Die einzige Kopie der Verfügung war von der Historikerin Beatriz Gurevich im Archiv der argentinischen Botschaft in Stockholm gefunden und von dem Journalisten Uki Goñi in seinem Buch Odessa veröffentlich worden. 

Die auf Initiative Goñis erfolgte Annullierung der Direktive stellte einen Höhepunkt in der aktuellen vergangenheitspolitischen Debatte des Landes dar, in der die Beziehungen Argentiniens zum Nationalsozialismus neu thematisiert werden. Obwohl in Argentinien zwischen 1933 und 1945 30 000 bis 40 000 jüdische Flüchtlinge Zuflucht gefunden hatten, kommt Diana Wang, die als Vertreterin der Vereinigung Generaciones de la Shoá der Zeremonie beiwohnte, im Lichte der neueren Forschungen zu dem Schluss: „Was die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge vor, während und nach dem Krieg betrifft, ist es absurd, von Argentinien in positiven Worten zu sprechen.“ Einem Großteil von ihnen gelang es nur aufgrund der Bestechlichkeit von Konsuln und Regierungsbeamten, durch illegalen Grenzübertritt aus den Nachbarländern oder durch Verschweigen ihrer jüdischen Herkunft argentinischen Boden zu betreten. Der Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus korrespondierten in Argentinien Jahre konservativer Herrschaft. Mit dem Militärputsch gegen Präsident Hipólito Yrigoyen war 1930 die liberale Ära zu Ende gegangen. Es folgte die Década Infame, das „schändliche Jahrzehnt“. Eine Reihe von Militärs und durch Wahlbetrug in den Sessel gehievte Präsidenten wechselte sich an der Macht ab, bis 1943 durch den Putsch der Obristen die peronistische Ordnung eingeläutet wurde. „Die Macht fiel in die Hände eines antiliberalen Konglomerats aus glühenden Nationalisten, die der Nazi-Mythologie anhingen, jungen Obristen, die über die Korruption empört waren, und betagten Bischöfen, die die Einheit von Kirche und Staat beschworen. Zu dieser Mischung gehörte auch eine spezifisch argentinische Variante des Antisemitismus“ (Goñi). 

Nach Kriegsbeginn verfolgte Argentinien hinter der Fassade strikter Neutralität eine achsenfreundliche Politik. Der Lateinamerikareferent des Auswärtigen Amtes, Otto Reinebeck, erinnerte sich in einem Nachkriegsverhör durch US-amerikanische Offiziere an die engen Beziehungen des Auslandsgeheimdienstes der SS zu offiziellen Vertretern Argentiniens und führte weiter aus: „Die Beziehungen zu Argentinien waren außerordentlich gut. Deutschland war wirtschaftlich stark im Land engagiert, und Argentinien sorgte für die diskrete Tarnung des Nazi-Spionagerings, der auf seinem Territorium operierte. Seine Finanzkanäle dienten als Pipeline, um amerikanische Dollars zu waschen, und kriegswichtiges Material wie Platin, Industriediamanten, Insulin, Eisen, Stahl und andere Produkte wurden in stetem Fluss von Argentinien nach Deutschland geschmuggelt.“  Erst auf massiven Druck der Alliierten brach Argentinien am 26. Januar 1944 seine diplomatischen Beziehungen zu den Achsenmächten ab. Als letzter Staat der Welt erklärte es – taktischen Überlegungen folgend – Deutschland am 26. März 1945 den Krieg. 

Die konservativ-nationalistische Wende in Argentinien ging einher mit der Beendigung seiner bisher weitgehend restriktionsfreien Einwanderungspolitik. Ein neues Gesetz, welches am 1. Januar 1933 in Kraft trat, beschränkte die Immigration auf Familiennachzug und Kolonisten in landwirtschaftlichen Ansiedlungen. Als vor dem Hintergrund des anwachsenden Flüchtlingsstroms nach der Annexion Österreichs durch NS-Deutschland vom 6.–15. Juli 1938 im idyllischen französischen Kurort Evians-les-Bains am Genfer See eine Internationale Flüchtlingskonferenz stattfand, war unter den 32 teilnehmenden Nationen auch Argentinien vertreten. Die Konferenz erwies sich als kompletter Fehlschlag. Anstatt den verfolgten Juden Zuflucht zu gewähren, versicherten sich die Länder wechselseitig, dass sie schon genug Flüchtlinge aufgenommen hätten, und auch die Vereinigten Staaten, auf deren Initiative die Konferenz zustande gekommen war, zeigten sich nicht bereit, ihre jährliche Aufnahmequote zu erhöhen. 

Die spätere israelische Ministerpräsidentin Golda Meir, die als Beobachterin für Palästina an der Konferenz teilgenommen hatte, schrieb: „Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich Leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. […] Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ,Zahlen’ menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?“ Die Reaktion der argentinischen Regierung war keine Erleichterung, sondern eine Verschärfung der Einwanderungspolitik. Noch vor Beendigung der Konferenz unterzeichnete der argentinische Außenminister José María Cantilo am 12. Juli 1938 das oben erwähnte Circular 11. Die geheime Anordnung wies die argentinischen Diplomaten in der ganzen Welt an, „allen Personen ein Visum – auch ein Touristen- oder Transitvisum – zu verweigern, von denen anzunehmen ist, dass sie ihr Herkunftsland verlassen haben oder verlassen wollen, weil sie als unerwünschte Personen angesehen werden, oder des Landes verwiesen wurden, ganz unabhängig vom Grund ihrer Ausweisung“. Ohne das Wort „Juden“ zu benutzen, war im diplomatischen Jargon der Zeit vollkommen klar, wer mit diesen „Unerwünschten“ gemeint war. Kurz darauf wurden mit dem Präsidentenerlass Nr. 8972 die Einreisebedingungen weiter verschärft. 

Die Entscheidung über die Erteilung von Einreisegenehmigungen wurde nun in der Einwanderungsbehörde in Buenos Aires zentralisiert. Dies bedeutete de facto die Entmachtung der argentinischen Konsuln, denen die Vollmacht, nach eigenem Gutdünken Visa auszustellen, entzogen wurde und die gegenüber den Antragstellern nur noch eine Kontroll- und Datensammelfunktion einnahmen. Gegenüber den Protesten einzelner Parlamentarier betonte Cantilo als Leitlinie die Unterscheidung zwischen Immigranten und – unerwünschten – Flüchtlingen. Es „sei nicht der Politische, der Flüchtling, der Verfolgte, der Ausgewiesene“, welcher die „Größe des Landes“ bewirkt habe, sondern der italienische und spanische Einwanderer. In das gleiche Horn stieß später der argentinische Botschafter in Holland, Carlos Brebbia, als er verkündete: „Argentinien kann nicht das Vaterland derer sein, die keines besitzen, noch ein Zufluchtsort für Menschengruppen, die andere Länder nicht akzeptieren.“  Die kombinierte Wirkung des Zirkulars 11 und des Dekrets 8972 war katastrophal. Die Zahl der Einwanderer halbierte sich 1939 im Verhältnis zum Vorjahr, und die Zahl legaler jüdischer Einwanderer fiel sogar von 4919 auf 1873. Zwischen Dezember 1938 und Dezember 1939 wurde zudem insgesamt 200 jüdischen Passagieren auf 23 Schiffen die Ausschiffung in Buenos Aires verweigert. 

In den Folgejahren kam die legale jüdische Einwanderung nach Argentinien praktisch vollständig zum Erliegen. Und auch nachdem 1944 nach der Gründung des War Refugee Board durch die Vereinigten Staaten die Frage der Flüchtlinge neu aufgeworfen wurde, konnte der US-Botschafter in Buenos Aires am 21. April 1944 nur resigniert an das State Department berichten, „dass – solange das gegenwärtige Regime an der Macht ist – keinerlei Zugeständnisse in Flüchtlingsangelegenheiten zu erwarten sind“. Wie zynisch die argentinische Politik war, belegt auch das Beispiel des argentinischen Diplomaten Tomás Le Breton. Dieser hoch angesehene Politiker, der für seine liberalen Ansichten bekannt war, hatte sein Land auf der Konferenz in Evian vertreten und bekleidete von 1940–42 den Posten des Botschafters in London. Im Mai 1941 weigerte er sich, 20 deutsch-jüdische Kinder aus England, die sich ihren Familien in Argentinien anschließen wollten, aufzunehmen. Le Breton argumentierte, dass „bereits zu viele Juden in Argentinien leben würden“ und dass die Kinder „genau zu dem Personenkreis gehören würden, den die argentinische Regierung nicht im Land zu haben wünsche“. Er unterbreitete schließlich das ungeheuerliche „Angebot“, sie könnten nur zugelassen werden, wenn sie zuvor sterilisiert worden wären. 

Aufgrund der guten deutsch-argentinischen Beziehungen hatte Argentinien wie kein anderes Land die Möglichkeit, durch entsprechenden Druck bedrängten Juden in Europa zu helfen. Das galt insbesondere für die eigenen Staatsangehörigen. Nur wenige Diplomaten und Konsuln machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Und wenn sie es taten, erhielten sie in der Regel keine Rückendeckung seitens des Außenministeriums in Buenos Aires. Eduardo Labougle, der von 1932 bis 1939 als Diplomat in der Berliner Gesandtschaft – zuletzt als Botschafter – tätig war und als nazikritisch galt, verhielt sich ausgesprochen zurückhaltend, wenn es darum ging, seinen jüdischen Mitbürgern diplomatischen Schutz zu gewähren. Er bediente sich dabei der Unterscheidung zwischen „gebürtigen“ (nativos) und „eingebürgerten“ (naturalizados) Argentiniern. Letztere würden sich nur auf ihre Staatsangehörigkeit besinnen, wenn ihnen dies zum Vorteil gereiche oder sie rassistischer Verfolgung ausgesetzt seien. Die Konsuln sollten sich nicht engagieren, um diese „Staatsangehörigen, die auf ihre Pässe spekulieren“, zu unterstützen. Spätestens ab Oktober 1941 war die Lage der europäischen Juden absolut lebensbedrohlich. Noch waren argentinische Juden als Staatsbürger eines neutralen Landes von der Deportation ausgenommen, doch auch dieser „Schutz“ wurde zunehmend prekärer. Wiederholt trat der „Judenreferent“ des Auswärtigen Amtes, Eberhard von Thadden, an den argentinischen Botschaftssekretär in Berlin, Luís H. Irigoyen, heran, um ihn zu einer Repatriierung der argentinischen Juden aus Deutschland zu bewegen. Im März 1943 teilte er ihm mit, es sei „erwünscht, dass die im gesamten deutschen Machtbereich ansässigen argentinischen Staatsangehörigen jüdischer Rasse freiwillig ausreisen“. Von Thadden gewann den Eindruck, dass hieran auf argentinischer Seite keinerlei Interesse bestände. Jedenfalls geschah nichts, um die argentinischen Juden zu retten. 

Im Juli 1943 wurde das Auswärtige Amt informiert, dass sich in Krakau, dessen jüdische Gemeinde fast vollständig ausgelöscht worden war, noch 49 Juden mit argentinischem Pass befänden. Die Pässe von 16 von ihnen wurden nach Berlin geschickt und Irigoyen vorgelegt. Dieser erklärte die Ausweispapiere kurzerhand für gefälscht, und von Thadden gab zu Protokoll, dass „die argentinische Botschaft natürlich kein Interesse an den Besitzern dieser unechten Dokumente“ habe, was einem Todesurteil gleichkam. 
Insgesamt wurde kein energischer Versuch unternommen, die argentinischen Juden zu retten. Mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen am 26. Januar 1944 spitzte sich ihre Lage dramatisch zu. Bereits am folgenden Tag ordnete der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Ernst Kaltenbrunner, an, sämtliche Juden und Jüdinnen argentinischer Staatsangehörigkeit festzunehmen, ihr Vermögen zu beschlagnahmen und sie unter Bewachung in das Konzentrationslager Bergen-Belsen zu deportieren. Dort wurden sie im sogenannten „Neutralenlager“ inhaftiert. Unter ihnen befand sich der Jeschiwa-Lehrer Burak aus Antwerpen. Im Januar 1945 starb er an Unterernährung und Kälte. Rückblickend hielt das Auswärtige Amt fest, dass „die Frage der Heimschaffung der Juden argentinischer Staatsangehörigkeit aus dem deutschen Machtbereich bereits mehrfach früher mit Herrn Irigoyen von der argentinischen Botschaft besprochen worden“ sei. Als „einziger Staat der Welt“ habe Argentinien – angeblich aus „Mangel an Heimschaffungsmöglichkeit“ – eine solche Aktion „nicht mit Nachdruck“ verfolgt. 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Wahl Juan Domingo Peróns zum Präsidenten Argentiniens wurde die Einwanderungspolitik des Landes neu bestimmt. Auf dem Hintergrund des wirtschaftlichen Booms förderte das Land die Massenimmigration. Allerdings sollte die Einwanderung streng gesteuert werden und bevölkerungspolitischen Kriterien Genüge leisten. Das 1946 gegründete Instituto Etnico Nacional sollte hierfür die wissenschaftliche Grundlage liefern. Was stattfand, war eine „Ethnisierung der Immigration“ (Leonardo Senkman), welche die Einreise vor allem romanischer Einwanderer katholischen Glaubens förderte, weil ein eingebildeter „homo mediterranus“ angeblich den Kern der „raza argentina“ darstelle. Wieder einmal galten Juden, die Überlebenden des Holocaust, die als Displaced Persons im vom Krieg verwüsteten Europa auf Ausreise warteten, als indeseables: unerwünschte Einwanderer. Auch im „Neuen Argentinien“ war für sie kein Platz vorgesehen. Zudem war mit Santiago Peralta von Dezember 1945 bis Juli 1947 ein ausgewiesener Judenhasser Direktor der Einwanderungsbehörde. Peralta, der in Deutschland Anthropologie studiert hatte, war Verfasser mehrerer antisemitischer Traktate und hatte u.a. geschrieben: Die Juden „wohnen wie eine Zyste im Körper des Volkes, inmitten dessen sie sich niederlassen, und die einzige Beziehung, die sie aufbauen, ist der kommerzielle Kontakt, um es auszubeuten“. Peralta unternahm alles Erdenkliche, um die jüdische Einwanderung zu blockieren. Als im Mai 1946 die MS Jamaica mit 70 jüdischen Passagieren an Bord im Hafen von Buenos Aires einlief, die im Besitz von in Europa ausgestellten Visa waren, verweigerte Peralta ihnen die Einreise. Obwohl ein Sturm der Entrüstung losbrach, bestätigte Perón Peralta in seinem Amt. Erst aufgrund wachsenden internationalen Druckes wurde er ein Jahr später entlassen, blieb aber bis zu seiner Pensionierung 1948 Direktor des Instituto Etnico Nacional. 

In den ersten fünf Jahren nach Kriegsende gelang nur etwas mehr als tausend Holocaustüberlebenden die legale Einwanderung nach Argentinien. Weitere 3330 reisten heimlich ein und konnten erst nach einer Amnestie Peróns im Jahre 1949 ihren Status legalisieren. Auch Diana Wang wanderte 1946 unter der falschen Angabe, Katholikin zu sein, in das Land ein, da ihren Eltern klar war, dass dies „eine conditio sine qua non der Einreise“ war. „Wir kamen nach unsäglichen Schrecken in Argentinien an, wundersamerweise hatten wir überlebt. Wir alle konnten das Land nur betreten, indem wir unsere jüdische Herkunft verleugneten“, resümierte Wang. Unter den Hunderttausenden Einwanderern der Nachkriegsjahre waren auch zahllose Nazis und Kollaborateure des NS-Regimes, unter ihnen Hunderte von Kriegsverbrechern. Zur Kategorie der „Unerwünschten“ zählten sie freilich nicht.

Uki Goñi: Odessa – Die wahre Geschichte – Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher. Übersetzung: Theo Bruns und Stefanie Graefe, Assoziation A, Berlin/Hamburg 2006, 400 Seiten, 22,- Euro