Wie häufig bei Shakespeare geht es auch in „Der Sturm“
Sexuelle Übergriffigkeit ausgerechnet einer wegen ihrer Zauberkraft, also wegen ihrer medizinisch-psychologischen Kenntnisse, verbannten Schwarzen Frau und deren Sohn anzudichten, bedeutet entweder, dass Shakespeare ziemlich bescheuert war, oder dass er – was weitaus wahrscheinlicher ist – genau wusste, von wem tatsächlich sexuelle Gewalt in den kolonisierten Territorien ausging.
Zurück zum Stück: Durch die Lektüre schlauer Bücher und die Mithilfe Ariels, als dessen Befreier er sich wähnt, erlangt Prospero magische Fähigkeiten. Da fügt es sich, dass sein Bruder Antonio und dessen Alliierter Alonso mit ihrem Gefolge auf dem Meer unterwegs sind. Prospero nutzt die Gunst der Stunde und lässt mit Hilfe Ariels – dem er dafür die Freiheit in Aussicht stellt – deren Schiff auf „seiner“ Insel stranden. Damit hat er Antonio und Alonso in seiner Gewalt. Weil Prospero aber edel ist, nimmt er keine Rache, sondern verzeiht ihnen. Besiegelt wird die neue Freundschaft dadurch, dass sich Miranda augenblicklich in Ferdinand, den Sohn Alonsos, verliebt, denn der ist ja weiß und von adligem Geblüt.
Währenddessen plant Caliban mit zwei Matrosen vom Schiff Antonios und Alonsos eine Rebellion gegen Prospero. Doch dank seiner Zaubergaben erfährt Prospero das und vereitelt den Umsturz. Edel wie er ist, aber vor allem, weil er Calibans Arbeitskraft und die der beiden Matrosen für seine anvisierte Rückkehr nach Mailand braucht, lässt Prospero die Aufrührer am Leben. Soweit Shakespeare.
Im Jahr 1900 griff der uruguayische Autor José Enrique Rodó (1871-1917) den Stoff in seinem Buch „Ariel“
Formal ist sein Buch „Ariel“ als Vortrag eines Lehrers – „der alte Meister, den man in Anspielung auf den weisen Magier aus Shakespeares „Der Sturm“ Prospero zu nennen pflegte“ – angelegt, der einem Abschlussjahrgang bei dessen Verabschiedung einige Anregungen auf den Lebensweg mitgibt. Neben dem dozierenden „Meister“ steht eine Bronzestatue desjenigen, den er der Jugend als Vorbild empfiehlt: „Der Luftgeist Ariel verkörpert in der Symbolik des Shakespeare’schen Werkes den edlen, beflügelten Teil des Geistes. Ariel ist die Herrschaft der Vernunft und des Gefühls über die niederen Regungen der Irrationalität …“. In ihm sieht der „Meister“ den „hehren und uneigennützigen“ Gegenpol zu Caliban, „der Sinnlichkeit und Plumpheit symbolisiert“.
Er bezieht sich in seinen Ausführungen nicht nur auf Shakespeare, sondern vor allem auf den Franzosen Ernest Renan (1823-1892), der 1878 sein „philosophisches Drama“ „Caliban – Suite de la Tempête“ (Caliban – Suite des Sturms) veröffentlicht hatte. Renan war ein entschiedener Vertreter des Kolonialismus, Reaktionär und Antidemokrat. Für ihn symbolisierte Caliban die Proletarier*innen und verarmten Bevölkerungsgruppen in der französischen Hauptstadt, die es zwischen März und Mai 1871 gewagt hatten, in der Pariser Kommune den ersten Versuch einer radikaldemokratischen und sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft in Angriff zu nehmen. Wären für Renan die Kommunarden nicht des Teufels gewesen und hätte er den Massenmord an ihnen von Seiten der Regierungstruppen nicht bejubelt, wäre der Vergleich durchaus spannend: Ein Schwarzer Sklave als Vorbild und Symbol des ersten großen sozialistischen Versuchs in Europa. Aber so war es nur das Wutgeschnaube eines ob der kurzzeitig aufgeflackerten potenziellen Stärke des Proletariats erschrockenen Rassisten und Verächters der Entrechteten.
Dass sich ein Liberaler wie Rodó ausgerechnet auf ihn bezieht und ihn immer wieder zitiert, verwundert etwas, zumal sich Rodó von Renans Verachtung der Demokratie absetzt. Zwar proklamiert auch der „Meister“ die Herrschaft des Adels des Geistes und warnt davor, „dass die Demokratie notwendig zur Begünstigung des Mittelmaßes führt, wenn sie ihren Geist nicht unter dem Einfluss einer starken ideellen Ausrichtung veredelt“ (S. 113), aber er lehnt anders als Renan eine aristokratische Elite qua Geburt ab. Vielmehr habe der Staat durch ein offenes Bildungssystem dafür Sorge zu tragen, dass sich die Besten herausbilden, die dann die Macht ausüben und die Staatsgeschäfte führen sollten. Alle anderen hätten nach dieser Vorstellung still zu sein und sich von den Besten beherrschen zu lassen. Wenn er von „männlicher Anstrengung“, derer es bedürfe, und dem „männlich-heldenhaften“ Grundzug der Gesellschaften spricht, ist klar, dass die Offenheit des Bildungssystems nicht so weit gehen sollte, dass auch Frauen zu den „Besten“ gehören könnten.
Jenseits seiner elitären Ideen von Demokratie ist das große Thema von „Ariel“ die Zukunft und Einheit Lateinamerikas – und zwar in Abgrenzung zu Europa und, was ihm noch wichtiger ist, zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika.
Hier kommen Shakespeares Ariel und Caliban ins Spiel. Ariel als Verkörperung der Herrschaft des Geistes müsse die Symbolfigur eines vereinten Lateinamerika sein. Der spanisch beziehungsweise spanisch-portugiesisch, auf jeden Fall „lateinisch“ geprägte Süden Amerikas bezöge seine intellektuelle und ästhetische Grundlage aus dem Geist der griechischen Antike und des Christentums, wobei erstere bei ihm für Ästhetik und intellektuellen Reichtum steht, während er in der Idee der Gleichheit eine Errungenschaft der christlichen Tradition sieht. Deshalb könne und müsse sich das geeinte Südamerika eine Ordnung geben, die auf Idealen und ethischen Grundsätzen basiere. Dann sei es den Vereinigten Staaten im Norden überlegen, die einzig von der Idee des Utilitarismus, also des Nützlichkeitsdenkens, geprägt seien, wo nur das Geschäft zähle und der Geist keine Rolle spiele. Sogar die Religion sei dort, in Gestalt des Puritanismus, dem Utilitarismus zu Diensten.
Dann vollzieht Rodó das geistige Kunststück, ausgerechnet Caliban zum Symbol des US-amerikanischen Utilitarismus und Kapitalismus zu erklären. Das ist doppelt befremdlich, weil schwarze Menschen in den USA, zumindest in deren Süden, bis in die 1860er-Jahre nur als Sklav*innen leben konnten und ohne Wahlrecht ganz sicher nicht diejenigen waren, die den Utilitarismus in der Gesellschaft durchsetzten. Zudem verrät der „Meister“ nicht, wie sich die Caliban angedichtete „Sinnlichkeit“ mit dem Puritanismus verbinden ließe, dem er „asketische Strenge“ attestiert und an dem er beklagt, dass deswegen selbst „die keusche Nacktheit“ antiker Statuen verhüllt würde.
Jenseits dieser eigenwilligen Zuschreibungen fällt vor allem auf, dass Rodó vollständig die Gewaltverhältnisse ignoriert, auf denen sowohl die gesellschaftlichen Strukturen Südamerikas als auch der Vereinigten Staaten aufgebaut waren. Beide basierten auf der brutalen Ausrottung der indigenen Urbevölkerung und der Zwangsarbeit von Afroamerikaner*innen. Diese Gruppen erwähnt Rodó in seinem Plädoyer nicht einmal. Man könnte zu Recht sagen, dass es ein Wesensmerkmal des Liberalismus sei, die ihm zugrunde liegenden Gewaltverhältnisse zu leugnen. Aber gerade im 19. Jahrhundert haben liberale Schriftstellerinnen wie die US-Amerikanerin Harriet Beecher Stowe oder die Peruanerin Clorinda Matto in – sehr paternalistischen – Romanen die Sklaverei in den USA beziehungsweise die Entrechtung der Indigenen in Peru (und damit die Gewalt der weißen Eliten) literarisch bearbeitet. Ihre Bücher hat Rodó, der ununterbrochen gelehrte Männer aus Europa zitiert, wohl übersehen.
Auf dem gleichen Feld wie Shakespeare, nämlich dem Theater, setzte sich 1969 der martinikanische Dichter, Philosoph und Politiker Aimé Césaire (1913-2008) mit den Figuren Ariel und Caliban auseinander, und zwar in seinem Drama „Une tempête“ (Ein Sturm), mit dem Untertitel „Bearbeitung von Shakespeares ,Der Sturm‘ für ein schwarzes Theater“
Bei Césaire ist völlig klar, dass sich Prospero die Insel rücksichtslos angeeignet und zu einer Kolonie gemacht hat. Auch bei ihm werden – deutlich knapper als bei Shakespeare – die Händel und Versöhnung von Prospero, Antonio und Alonso dargestellt, aber das sind für den Autor nur Konflikte innerhalb der herrschenden Elite, deren gemeinsames Ziel in der Aufrechterhaltung des Status quo besteht.
Viel interessanter sind bei ihm die Figuren Ariel und Caliban, die zwei unterschiedliche Strategien verkörpern, mit dem Kolonialismus und seinen Repräsentanten umzugehen. Im ersten Bild des zweiten Aktes gibt es einen Dialog der beiden, für den es bei Shakespeare keine Vorlage gibt. Ariel betont dabei, dass sie doch „Brüder im Leiden und der Sklaverei“seien, und erklärt: „Beide wollen wir die Freiheit, nur gehen wir verschiedene Wege.“ Er trete für eine Zusammenarbeit mit Prospero ein, und es zeige sich, dass sein Weg richtig sei: „Eins habe ich immerhin schon erreicht, er hat mir die Freiheit versprochen. Zu gegebener Zeit zweifellos, doch es ist das erste Mal, dass er sie mir versprochen hat.“ Worauf Caliban entgegnet: „Einen Dreck! Tausendmal wird er sie dir versprechen und dich tausendmal übers Ohr hauen. Außerdem, morgen interessiert mich nicht. Was ich will, das ist (er schreit) ‚Freedom Now‘.“ (S. 22) Darauf entspannt sich eine längere Diskussion über die Frage, wie die Freiheit zu erreichen sei. Ariel meint, angesichts der Stärke Prosperos sei es selbstmörderisch, auf den offenen Kampf zu setzen. Der könne nur mit einer Niederlage enden. Dem widerspricht Caliban vehement und erklärt, mit Ungerechtigkeit und Demütigungen müsse endlich Schluss gemacht werden, Freiheit werde nicht erbettelt. Caliban sieht den Kampf nicht nur als Mittel, um die anvisierten Ziele zu erreichen, sondern auch und vor allem, um die eigene Würde und Selbstachtung zurückzugewinnen. Damit verneigt sich Césaire vor Frantz Fanon, einst sein Schüler, als er noch ein junger Lehrer am Lycée Schoelcher in Fort-de-France, der Hauptstadt Martiniques, war. Der 1961 nur 36-jährig an Leukämie verstorbene Fanon war der wahrscheinlich wichtigste und radikalste karibische Denker im 20. Jahrhundert. In seinem Buch „Les damnés de la terre“ (Die Verdammten dieser Erde)
Das Drama endet bei Césaire anders als bei Shakespeare. Für Caliban ist klar, dass Prospero niemals nach Mailand zurückkehren würde, um dort wieder als Herzog zu amtieren: „Ich weiß genau, dass du nicht fortgehen wirst! … Deine „Mission“, das bringt mich zum Lachen, deine „Berufung“! Deine Berufung ist, mich zu bescheißen! Und deshalb wirst du auch bleiben, wie alle diese Typen, die Kolonien gemacht haben und anderswo gar nicht mehr leben können.“
Tatsächlich stechen alle Beteiligten in See, nur Caliban und Prospero bleiben auf der Insel zurück. Prospero fühlt sich von Tag zu Tag unsicherer, Caliban ist dagegen guten Mutes, weil er weiß, dass der Tag nicht fern ist, an dem er wieder Herr seiner Insel sein wird. Ein Stück historischer Optimismus, der 1969 real erschien, 50 Jahre später leider nicht mehr.
Obwohl Césaire ein karibischer Autor war, wurde sein Stück eher in Afrika, der afrikanischen Diaspora in Europa und von afroamerikanischen Kämpfer*innen in den USA aufgegriffen. In Lateinamerika wurde es weniger zur Kenntnis genommen. So wird dort die Interpretation Calibans als afroamerikanischer Freiheitskämpfer eher mit dem Cubaner Roberto Fernández Retamar (1930-2019) verbunden, der 1979 in Havanna die Aufsatzsammlung „Calibán y otros ensayos. Nuestro América y el Mundo“ (dt. Kaliban. Essays zur Kultur Lateinamerikas)
Nicht Ariel könne das Symbol der um Freiheit kämpfenden Lateinamerikaner*innen sein, sondern allein Caliban, der kein Arrangement mit dem Kolonialismus und Imperialismus anstrebte, sondern eine wirkliche Unabhängigkeit, wirtschaftlich, politisch und kulturell. Obwohl Fernández Retamar Rodó einen „Kolonial-Schriftsteller“ nennt, lobt er dessen Ablehnung des US-amerikanischen Modells. Zwar sei Rodó nicht so hellsichtig und klar wie sein cubanischer Zeitgenosse José Marti gewesen, aber er habe immerhin erkannt, von woher Lateinamerika die größte Gefahr drohe. Anders als Rodó habe Martí gesehen, dass Lateinamerika nicht nur ein europäisches, sondern auch ein indigenes und ein afrikanisches Erbe in sich trage und dass genau das den Reichtum und die Stärke seiner Kultur ausmache.
Fernández Retamar war nicht nur ein engagierter Intellektueller, sondern auch ein cubanischer Staatsfunktionär. Als Direktor des Kulturinstituts Casa de las Américas, das vor allem in den siebziger Jahren eine wichtige Funktion für die vom Norden unabhängigen Diskussionen der lateinamerikanischen Intellektuellen hatte, war er der höchste Repräsentant der Auswärtigen Kulturpolitik Cubas. Aus seinem richtigen Plädoyer für eine lateinamerikanische Literatur, die die Probleme des Subkontinents in den Mittelpunkt stellen und nicht permanent auf die Debatten und Märkte in den Metropolen schielen solle, zieht er ein intellektuell sehr dürftiges Fazit: Literatur und intellektuelle Debatten seien dann vom imperialistischen Denken emanzipiert, wenn sie vorbehaltlos die cubanische Revolution (womit er die Regierungspolitik meinte) unterstützten, während jede Kritik an der Entwicklung Cubas ein Einverständnis mit beziehungsweise eine Unterwerfung unter die Politik der USA und des Westens bedeute. Den Rest des Textes widmet er der Polemik gegen die Intellektuellen, die sich nach seiner Lesart an den Imperialismus verkauft hätten.
In literaturwissenschaftlichen und feuilletonistischen Beiträgen werden vor allem Rodós „Ariel“ und Fernández Retamars „Caliban“ als wichtige Beiträge im Ringen um eine „lateinamerikanische Identität“ betrachtet. Natürlich ist damit nur die Identität weißer, mittelständischer Intellektueller gemeint, die sowohl in Europa als auch in den beiden Amerikas die Angewohnheit haben, ihre eigenen Fragestellungen zu den großen Themen der gesamten Menschheit zu erklären. Sicher stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zur europäischen Tradition für indigene und afroamerikanische Intellektuelle schon anders dar. Und für die große Mehrheit der lateinamerikanischen Bevölkerung stehen ohnehin ganz andere Probleme im Mittelpunkt. Doch sowohl historisch betrachtet als auch in der heutigen globalisierten Welt stellt sich für alle jene, die nicht zu herrschenden Machtgruppen gehören, die Frage, wie mit den jeweiligen Dominanzkulturen oder den vorherrschenden politisch-kulturellen Strömungen umzugehen ist. Sie übernehmen, weil sie sich ohnehin durchsetzen? Sich ihnen konsequent verweigern oder das zumindest versuchen? Oder sie sich ansehen und das nutzen, was für die eigenen Emanzipationsbestrebungen nützlich ist?
Sehr klar hat das Aimé Césaire in einem seiner politischen Texte beantwortet. Im Jahr 1956 erklärte er in einem offenen Brief an Maurice Thorez, den damaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF), warum er die Partei verlasse, die er seit 1946 als Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung vertrat. Wie viele andere in jener Zeit (die allerdings im Unterschied zu Césaire später zu Antikommunisten wurden) weist er auf die fehlende Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus und die Haltung der Partei zur Niederschlagung des Aufstands in Ungarn hin. Aber ebenso fragwürdig war für ihn die unklare Haltung der PCF in der Kolonialfrage und ihre ambivalente Haltung gegenüber den Befreiungskräften in den französischen Kolonien, die ihn zu folgendem Satz veranlassten: „… ce que je veux, c’est que marxisme et communisme soient mis au service des peuples noirs, et non les peuples noirs au service du marxisme et du communisme.“ (Was ich möchte ist, dass Marxismus und Kommunismus den schwarzen Völkern dienen und nicht die schwarzen Völker dem Marxismus und Kommunismus).