Vor einigen Jahren drehte sich das Gespräch mit den DJ-KollegInnen um Reggaeton: „Super tanzbar, aber die Texte sind leider alle sexistisch“, meinte sie. „Kennst du nicht Calle 13 aus Puerto Rico? Geile Texte und auch ziemlich politisch“, klärte der Uruguayer die Deutsche auf. „Ich brenne sie dir mal“, bot er an. Und der ahnungslosen Europäerin – Calle 13 sind in Lateinamerika schon seit 2005 in aller Munde, während sie hierzulande erst seit kurzem auf ein größeres begeistertes Publikum stoßen – eröffnete sich ein wundervoller, bunter Mix aus Reggaeton- und Cumbia-Stücken, die in der Tat mit äußerst amüsanten und ironiegesättigten Texten aufwarten konnten.
Apropos brennen: Im Intro ihrer neuesten CD Entren los que quieran (Alle, die wollen, können reinkommen) propagieren Calle 13 ungeniert den Download ihrer Musik. Schließlich schulde ihnen Sony, bei denen sie unter Vertrag stehen, auch noch Geld – das sie nach Auszahlung in den Armenvierteln von San Juan verteilen würden. Diese beiden netten Robin-Hoods wurden 2005 quasi über Nacht bekannt, weil sie damals zum richtigen Zeitpunkt das passende Lied parat hatten. Am inoffiziellen Unabhängigkeitstag Puerto Ricos, am 23. September 2005, wurde Filiberto Ojeda Ríos, Führungsfigur der Guerilla Macheteros, von einem FBI-Kommando erschossen. René und Eduardo schrieben empört ein Stück über den Mord, drehten ein Video und stellten es ins Internet: Querido F.B.I. hieß ihre gerappte Stellungnahme und traf den Nerv der PuertoricanerInnen. Die kurz darauf erschienene erste CD von Calle 13 verkaufte sich dementsprechend gut.
Band- und Künstlernamen von Calle 13 nehmen Bezug auf ihre Herkunft: René Pérez alias Residente lebte einst in der Calle 13 in einer Wohnanlage, wo sich sein Halbbruder Eduardo Cabra als Visitante – Besucher – beim Pförtner melden musste.
Die beiden Mittelschichtjungs spielen mit den Stereotypen des überaus populären Reggaeton: Übliche Topoi wie Sex und Anmache kommen in ihren Stücken durchaus vor, so auch in ihrem ersten Tanzhit, dem Cumbia-Reggaeton-Hybrid Atrévete (Trau’ dich); immer wieder ist auch von nalgas – Pobacken – die Rede. Aber da die beiden nichts und niemanden, vor allem sich selbst nicht ernst nehmen, macht ihr Herumgeprolle Spaß statt Verdruss. René Residente scheint einiges, das er während seines Kunststudiums über Dadaismus gelernt hat, für seine lyrics produktiv zu nutzen.
Die Sounds sind im Laufe der Jahre immer bunter geworden. Waren schon auf früheren CDs diverse Stilrichtungen, auch Anleihen aus dem reichhaltigen lateinamerikanischen Folkmusikfundus zu hören, so sind auf dem neuesten Album fast alle Weltregionen vertreten. Am dichtesten ist die Synthese beim arabisch-indisch-ostigen Hit Baile de los Pobres (Tanz der Armen), dessen Reime auf Spanisch großes Vergnügen bereiten: Wer arm ist, tanzt geiler, dafür braucht man auch keine Kohle, so die Quintessenz. Und die Oberschichtlady lässt sich für einen heißen Tanz gerne „vier soziale Klassen runterziehen“.
Reggaeton ist allerdings kaum noch zu hören. Stattdessen gibt es unkitschige Liebeslieder, die sich überraschend sanftmütig in den Gehörgang einschmeicheln: La Vuelta al mundo oder Muerte en Hawai. Getoppt wird das Ganze von Latinoámerica: Ein lyrisches Manifest gegen die Ausbeutung Lateinamerikas, das von drei Diven der lateinamerikanischen Folkmusikszene vorgetragen wird: Susana Baca aus Peru, Totó la Momposina aus Kolumbien und María Rita aus Brasilien.
Der Merengue-Knaller Vamo’ a portarnos mal (Lasst uns uns daneben benehmen) erinnert ein bisschen an Pippi Langstrumpf: „Uns gefällt die Unordnung, wir brechen die Regeln, wir sind undiszipliniert, alle ungezogen …“ Bei Todo se mueve sorgt Fela Kutis Sohn Seun Kuti für Afrobeat-Einsprengsel; bei El Hormiguero geht’s noch mal politisch richtig zur Sache. „Du willst Krieg?“, wird in verschiedenen Sprachen ein sogenannter Cowboy gefragt und die untergründige Macht eines rebellischen Ameisenheeres heraufbeschworen; gegen Ende des Stückes sind die Stimmen von revolutionären lateinamerikanischen Größen zu hören, die u.a. die Einheit Lateinamerikas beschwören, Subcomandante Marcos ist mit von der Partie, ebenso Fidel Castro.
Trotz – oder gerade wegen? – teilweise ziemlich verbalradikalen Aussagen spielen sie mittlerweile ganz oben mit: Bei der Verleihung des Grammy Latinos 2009 heimsten Calle 13 gleich fünf Preise für ihr Album Los de atrás vienen conmigo ein. Und sie nutzen ihre Medienpräsenz aus, um kritische Positionen zu verbreiten: Millionen von FernsehzuschauerInnen sahen René Residente als Gastmoderator bei der Preisverleihung von MTV Lateinamerika 2009. Vorher hatte er bei seinen Fans per Twitter nachgefragt, welche „kurzen und klaren“ Botschaften sie dem Publikum mitzuteilen hätten. Die Renner, die Residente dann auch auf T-Shirts präsentierte: Uribe Paramilitar, Viva Puerto Rico Libre oder „Chávez: bester nominierter Popkünstler“. Herrlich albern und mitunter ganz schön pubertär – so auch die Abbildung der beiden im CD-Booklet mit Vermummung und Molotowcocktail – damit kommen Calle 13 vor allem bei Jüngeren hervorragend an.
Robin Hood, Pippi Langstrumpf oder Fidel Castro: Welche Role-Models hätten sie denn gern? Alle bitte!
Calle 13, „Entren los que quieran“, Sony 2010