Fast könnte man in diesen Tagen den Eindruck haben, sich in den Straßen der Hauptstadt eines friedlichen Landes zu bewegen, wenn da nicht die gelegentlich in voller Kampfmontur patrouillierenden Soldaten wären. Dass dieses Land seit langer Zeit Schauplatz eines blutigen bewaffneten Konflikts ist, dass Millionen von Menschen vertrieben worden und nicht wenige von ihnen in Bogotá gestrandet sind, dass paramilitärische Gruppen trotz ihrer vermeintlichen Demobilisierung weitermorden und die Guerilla noch immer hunderte von Geiseln in ihrer Gewalt hält – all das scheint wenig präsent zu sein in den 19 Märztagen, in denen das riesige Iberoamerikanische Theaterfestival in der kolumbianischen Hauptstadt stattfindet. Seit 1988 wird Bogotá alle zwei Jahre zur ciudad teatro del mundo, der Welttheaterstadt.

Viele sagen, das Festival de Teatro Iberoamericano von Bogotá sei das größte der Welt. Und in der Tat sind die Zahlen beeindruckend: 700 Aufführungen, über drei Millionen ZuschauerInnen, fette Sponsoren und ein Budget von rund 20 Mrd. kolumbianischen Pesos (rund sieben Millionen Euro). Gründerin, Leiterin und Ikone des Festivals ist die knallrotgelockte argentinische Schauspielerin Fanny Mikey. Sie wird in der ganzen Stadt verehrt und scheint in diesen Tagen omnipräsent zu sein. Kritik gibt es dennoch an ihrer Großveranstaltung: „Es gibt auf der Welt zwei Arten von Festival: Vitrinenfestivals und Begegnungsfestivals“, sagt die kolumbianische Schauspielerin und Dramaturgin Patricia Ariza in der Straßenzeitung La Calle. „Das iberoamerikanische Theaterfestival ist ein absolutes Vitrinenfestival. Es hat den Menschen hier in Kolumbien eingeimpft, dass nur das wichtig ist, was von außen kommt. Das ist eine furchtbar kolonisierte Mentalität.“ Bei ihrer Kollegin Adela Donadío klingt das so: „Wir wollen, dass dieses Festival ein Dialog ist zwischen dem, was dieser Kontinent zu zeigen hat, und dem, was die anderen Kontinente zu zeigen haben.“ Adela Donadío ist Vizedirektorin des Iberoamerikanischen Festivals, Patricia Ariza die Direktorin des Festival de Teatro Alternativo, das im Jahr 2008 zum siebten Mal stattfindet. In der Tat wird eine Menge Geld für die Einladung unterschiedlichster Produktionen von allen fünf Kontinenten ausgegeben, insbesondere aus Europa. Und so sind während der Festivaltage in Bogotá die britischen Performer von Forced Entertainment ebenso zu sehen wie die Royal Shakespeare Company, Peter Brookes Pariser Théâtre des Bouffes du Nord und das Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses.

Doch auch die vielfältige kolumbianische Theaterszene ist präsent, nicht nur beim ungleich kleineren (und ungleich prekärer finanzierten) alternativen Theaterfestival, auch bei Fanny Mikey. Angesichts der kriegerischen Realität im Land fällt auf, dass sich wenige kolumbianische Inszenierungen direkt auf den bewaffneten Konflikt beziehen. Wenn sie dies tun, dann meist auf Umwegen. Europäische Klassiker wie die „Electra“ von Euripides oder kolumbianische Weltliteratur wie García Márquez’ „Hundert Jahre Einsamkeit“ sind schöne, aber recht traditionell gehaltene Inszenierungen, die vagen Andeutungen über die aktuelle Bedeutung der klassischen Vorlagen finden sich eher im Programmheft. Das erstaunt nicht in einem Land, in dem viele ihre Kritik an dem einen oder anderen bewaffneten Akteur mit dem Leben bezahlen mussten. Allein, es gibt sie schon, die kolumbianischen Theaterleute, die mit ihren Arbeiten expliziter Stellung beziehen. Wahrnehmbar sind diese Tendenzen auf Fanny Mikeys Festival allerdings wenig.

Ganz so vitrinenmäßig ist das Iberoamerikanische Festival nun aber auch wieder nicht. Das riesige Programm in den Theaterhäusern und -sälen wird (wie könnte es anders sein) von einem ebenso gigantischen Straßentheaterprogramm begleitet. Die Aufführungen finden über die ganze Stadt verteilt auf Plätzen und in Parks statt, der Eintritt ist frei. Es kommen Tausende, um sich kolumbianische, französische oder polnische Straßeninszenierungen anzusehen. Im Publikum finden sich insbesondere die, die sich die Karten für das Programm in den Theaterhäusern der Stadt nicht leisten können, auch sie sind auf ihre Weise am Festival beteiligt. Zu sehen bekommen sie großartige Straßenspektakel mit Trommeln, Feuer, Stelzen und fliegenden Streichorchestern.

Aufregend wäre es gewesen, wenn die so klare Trennung zwischen Vitrine und Asphalt auf dem Iberoamerikanischen Festival gelegentlich überwunden worden wäre. Wie hätte das Publikum wohl reagiert, wenn Akram Khans wundervoll poetisches Tanzstück „bahok“ (bengali für Brücke) – ein transkulturelles Meisterwerk über die Möglichkeit und Unmöglichkeit menschlicher Begegnung in neoliberalen Zeiten – nicht nur in einem der feinsten Theaterneubauten Bogotás, sondern auch in einem der Parks der Stadt aufgeführt worden wäre? Ein bisschen mehr Mut zur Grenzüberschreitung ist Fanny Mikey für die nächsten Festivaljahrzehnte zu wünschen.