Christian Diaz Orejarena ist in München aufgewachsen. Sein Vater stammt aus Zapatoca, einer Kleinstadt im Departement Santander im Nordosten Kolumbiens. Nach einem Stipendienaufenthalt ließ er sich in Deutschland nieder. Seinem Sohn erzählte er von Kolumbien und brachte ihm die Musik des Landes nahe. Da sie jedoch nie das Geld hatten, dort hinzufliegen, blieb Kolumbien für Christian eine Art exotischer Traum. Die späteren Reisen nach Kolumbien waren auch eine Suche nach der eigenen Identität. Im Münchner Vorort wurde er als Migrant Kid gesehen, immer wieder gefragt, wo er herkäme, und ob er Araber sei. „Du warst immer stolz auf die exotisch-ferne Identität, diese geheimnisvolle andere Zugehörigkeit im Süden“, sagt er im Comic. Aber die Erwartungen wurden enttäuscht. Auch in Kolumbien wird er gefragt, wo er herkäme und ob er Araber sei.

Wegen seiner deutschen Herkunft wird er dort immer wieder mit Lengerke konfrontiert. Der Taxifahrer erzählt, Lengerke habe 500 Kinder in die Welt gesetzt, deshalb gebe es so viele blonde Menschen in der Gegend. Eine Tante präsentiert stolz Dokumente über das „Leben eines noblen Deutschen“, und ein Onkel schwärmt von „Fortschritt, Wohlstand, Disziplin und Ordnung“, die sie von den Deutschen gelernt hätten.

Nicht nur auf dem pompösen Grab, sondern auch sonst ist der Name Lengerke in Zapatoca allgegenwärtig. Mit seinem Roman „La otra raya del tigre“ (Der zusätzliche Streifen des Tigers) hat Pedro Gómez Valderrama ihn als heldenhaften Abenteurer im ganzen Land bekannt gemacht. Auch die darauf aufbauende Telenovela aus den 90er-Jahren zeichnet ein positives Bild des Frauenhelden.

Der Ingenieur Lengerke wurde durch den Handel mit Kakao, Taguanüssen, Kautschuk und vor allem Chinarinde reich. Die europäischen Kolonisatoren brauchten bei ihren Raubzügen in tropischen Gebieten Chinin als Mittel gegen die Malaria. Lengerke baute Brücken und Wege, um seinen Handel auszuweiten, und bekam dafür von der Regierung Land und das Recht, Wegezoll zu kassieren. Aber in den „unerschlossenen“ Gebieten lebten sehr wohl Menschen. Zwischen den indigenen Yariguíes und den eindringenden Handelskarawanen kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Lengerke wandte sich an den Staat, der daraufhin ein „Indigenen-Reduzierungs-Gesetz“ verabschiedete und die Lengerke-Wege für Militäroperationen nutzte. Der nette Abenteurer erscheint in dieser Geschichte als Massenmörder und eine Art Proto-Paramilitär.

Aber auch die Erinnerung an die Yariguíes ist in der Gegend präsent, und der Widerstand gegen Landraub geht ebenfalls weiter. Der Kolonialismus hat Kontinuität und präsentiert sich weiterhin im Namen des Fortschritts. Christian Diaz besucht eine Gemeinde am Sogamoso-Fluss, der mit einem Mega-Staudamm die Lebensgrundlagen entzogen wurden. Er stößt auf eine weitere Verbindung nach Deutschland: Der Rückversicherungskonzern MunichRE, der in München junge Künstler*innen sponsort, ist auch hier beteiligt. Der Walking Man, eine riesige Kunst-am-Bau-Skulptur, die in der Münchner Leopoldstraße vor dem Firmengebäude steht, trampelt an einigen Stellen deformiert und mutiert durch den Comic.

Am 12. September 2021 hat Christian Diaz sein Werk mit einer Performance in der Kulturfabrik Kalk in Köln präsentiert: „Meine ursprüngliche Motivation war es, von diesem Roman über Geo von Lengerke eine antikoloniale oder kolonialismuskritische Version zu machen. Ich wusste erst gar nicht, ob das ein Comic werden sollte oder ein Film. Aber der Comic bietet mir viele Möglichkeiten, sowohl dokumentarisch zu arbeiten als auch Fiktives einzuschließen und ganz frei zu sein in den Formen. So konnte ich auch besser unterwegs sein. Durch eine Kamera trennt man sich sehr von den Menschen. Und man braucht ein Team. Ich habe auch Aufnahmen gemacht, aber eher dokumentarisch. Als ich wieder in Deutschland war, habe ich lange ausprobiert und überlegt, was die richtige Form sein könnte, um die Schnipsel, diese getrennt laufenden Geschichten, zusammenzubringen.“

Bei der Performance werden Interviews eingeblendet, die während der Reise geführt wurden, und Fotos von den Mobilisierungen, auch aus dem aktuellen Aufstand in Kolumbien, bei dem mehrere Statuen spanischer Conquistadoren umgestürzt wurden. Im Mai holten Indigene in der Hauptstadt Bogotá ein Standbild des Stadtgründers Gonzalo Jiménez de Quesada vom Sockel. Als weiteres antikoloniales Symbol kommt bei der Performance eine Marimonda-Maske zum Einsatz. Diese Maske mit langem Rüssel und großen Ohren, die heute eher ein kommerzielles Markenzeichen des Karnevals in Baranquilla ist, war ursprünglich eine Kritik der Afrokolumbianer*innen an den „Langnasen“, der weißen Oberschicht Kolumbiens. In der derzeitigen Kölner Ausstellung „RESIST! Die Kunst des Widerstands“ ist sie neben einer Tukum-Maske aus Kamerun zu sehen. Diese wurde dort nur bei wichtigen Totenfeiern oder Inthronisierungen eingesetzt. Durch den transatlantischen Sklav*innenhandel kam sie in die Karibik und wurde zur Inspiration für die Karnevalsfigur Marimonda. Im Comic erzählt sie im „Splatter-Intermezzo“ den kolonialen Geschichtskontext. Christian Diaz wiederum benutzt die Maske aus seiner Position als weißer privilegierter Erzähler als selbstironische kulturelle Aneignung. Begleitet wird die Performance von teils heftigen elektronischen Sounds, die ein durchgängiges Motiv des Comics unterstreichen – verschlungene Linien, die sich immer wieder zu Strudeln und Chaos verknäulen und auflösen.

Der Comic hat einen ausführlichen Fußnoten-Anhang mit erklärenden Texten, Fotos und Collagen. Da die finstere Geschichte dieses Deutschen in Kolumbien hier überhaupt nicht bekannt ist, hat Christian den Comic zuerst auf Deutsch herausgebracht. In Kürze reist er mit dem Buch im Gepäck nach Kolumbien, wo teilweise eine ganz andere Sicht vorherrscht. „Ich bin mega gespannt, wie die Rezeption in Kolumbien sein wird. Ob ich da vielleicht eine Watsch‘n bekomme?“