Auf der anderen Seite der Wellen

Der in der ila 425 vorgestellte Erstlingsroman Rapatriés (Die Zurückgekehrten) des Haitianers Néhémy Pierre-Dahomey handelt von den Migrationsbewegungen, die ihre Ursache in den prekären Lebensbedingungen in Haiti haben. Die Protagonistin Belliqueuse Louissaint, Belli, wurde geboren im fiktiven südlichen Küstendorf Port-les-Sables und zieht als Kind in die Vorstädte von Port-au-Prince. Später unternimmt sie den Versuch, auf einem Boot heimlich und illegal in die USA zu gelangen. Die Überfahrt scheitert, das Boot kommt in ein Unwetter, und Belli wirft in dieser Situation, um ihr eigenes Leben zu retten, ihren zweijährigen Sohn Nathan ins Meer. Der Schiffbruch kann verhindert werden. Die haitianischen boat people, die Insass*innen des Bootes, werden von der US-Küstenwache aufgegriffen und, bis auf wenige Ausnahmen, zurückgewiesen. Sie werden nach Haiti zurückgeführt, wo ihnen ein Brachland im Umland von Port-au-Prince zugewiesen wird, auf dem sie sich niederlassen können. Es entsteht das Viertel, das, wie der Roman, den Namen „Rapatriés“ tragen wird.

Die Geschichte der gescheiterten Flucht ist der Hintergrund und Ausgangspunkt der Erzählung von Rapatriés, in der Bellis Leben in dem neu entstehenden Marginalviertel im Zentrum steht. Bellis Streben nach einem besseren Leben tritt in den Hintergrund. Ihr Alltag in den äußerst prekären Lebensbedingungen umfasst eine (unglückliche) Beziehung und „neue“ Kinder. Sie sieht sich emotional und ökonomisch immer weniger zum Aufziehen ihrer Zwillingstöchter in der Lage und entschließt sich nach langem Zögern dazu, diese zur Adoption freizugeben. Über ein mafiöses Netz von Menschenhändlern landen die Töchter in Kanada respektive Frankreich bei Adoptivfamilien. Während sie dort möglicherweise die Option auf ein sorgenfreieres Leben finden (dies die Vision, die Belli von den Profiteuren der Adoptionsvermittlung suggeriert wird), driftet Belli, konfrontiert mit dem privaten Elend, der Armut und hoffnungslosen Situation im Land, in den Zustand geistiger Umnachtung ab.

Pierre-Dahomeys Roman hat eine breite und positive Kritik erfahren und wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Rapatriés wird in der Literaturkritik auch rezipiert als haitianischer Beitrag zur literarischen Reflexion der gegenwärtigen globalen Migrationsbewegungen und den damit verbundenen subjektiven Momenten, dem Erleben und den Hoffnungen der Flüchtenden.

Auch wenn die Flucht- und Migrationsbewegungen aus Haiti in den Norden schon eine lange Tradition haben, hat es gedauert, bis die „eigenen“ boat people eine gewisse Präsenz in der haitianischen Literatur erlangt haben. Der Nexus von Migration und sozialer Ungleichheit und die Migrationserfahrung armer Bevölkerungs- und Arbeiter*innenschichten ist hingegen seit Langem ein klassischer Stoff der haitianischen Literatur. 1935 von Maurice Casséus in seinem Roman Viejo eingeführt, erlangte er durch die „großen“ haitianischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Jacques Roumain und Jacques Stephen Alexis, erzählerische Prägnanz und kulturelle Sichtbarkeit. Sie verwandelten die Figur des haitianischen Landarbeiters und Tagelöhners zu klassischen Gestalten. In Gouverneeurs de la rosée (1944) von Roumain verlässt die Figur des Manuel Haiti, um auf Cuba als Tagelöhner sein Glück zu suchen, in Compère Général Soleil (1955) von Alexis wandert der Landarbeiter Hilarion in die Dominikanische Republik aus, um dort Arbeit zu finden. Mit Roumains Roman wurde der Topos der verarmten Arbeiter*innenschicht Haitis, die auswandert, um im Ausland Arbeit und bessere Lebensverhältnisse zu finden, zum bedeutenden Stoff der eigenen literarischen Tradition. Auch im verarbeitenden Rückblick auf das Massaker an haitianischen Einwander*innen in der Dominikanischen Republik (1937), bei dem nach Schätzungen bis zu 35 000 haitianische Arbeitsmigrant*innen ermordet wurden, wurde der Stoff immer wieder aufgegriffen.

Die brutale Diktatur der Duvaliers, von „Papa Doc“, François Duvalier (1957-1971), und dessen Sohn „Baby Doc“, Jean-Claude Duvalier (1971-1986), veranlasste zahlreiche Fluchtbewegungen ins Ausland. Die Geschichte der Diktatur geht einher mit einer langen Fluchtgeschichte von Intellektuellen und Oppositionellen. Das klassische Beispiel hierfür ist Jacques Stephen Alexis, der schon vor dem Amtsantritt Duvaliers ins Exil nach Paris gegangen war und später 1961, kurz nach seiner Rückkehr, in Haiti von den Paramilitärs Duvaliers, den Tontons Macoutes, ermordet wurde. Während der langen Diktaturzeit bildete sich in nordamerikanischen Großstädten (Montreal, New York), zum Teil aber auch in Europa (Paris), eine haitianische Diaspora heraus. In diesen Milieus entstand eine haitianische Exilliteratur, die international renommierte Autor*innen hervorbrachte, wie Dany Laferrière (1976 nach Montreal ausgewandert, seit 2015 Mitglied der Académie française) oder die auf Englisch schreibende Edwidge Danticat, die 1981 als Zwölfjährige zu ihren in Brooklyn lebenden Eltern nachgezogen war und seitdem in den USA lebt. Diese haitianische Diaspora-Literatur konstruiert (teils wehmütig gefärbte) (Rück-)Blicke auf die Zustände und Geschichte in Haiti und thematisiert den Verlust der „Heimat“ im Exil.

Die Fluchtbewegungen selbst gerieten dabei bislang selten in den Fokus der haitianischen Literatur, wie Marie-José N’Zengou-Tayo 1996 feststellt: Obwohl das Phänomen der haitianischen boat people seit 1972 medial präsent war, liegt die erste literarische Anspielung darauf 1979 vor, in der Kurzgeschichtensammlung Le chant des sirènes von Marie-Thérèse Colimon. Der haitianische Journalist, Romanautor und Regisseur Jean-Claude Charles, der selbst Haiti mit 21 Jahren verließ, drehte 1982 eine Reportage mit dem Titel De si jolies petites plages über haitianische boat people für das französische Fernsehen. Charles, der seine eigene Exilerfahrung und das Herumirren zwischen den Welten zum Gegenstand seiner Romane machte, thematisiert die Lebensrealitäten und Erfahrungen der haitianischen Bootsflüchtlinge ebenfalls nicht tiefergehend. Er selbst lebte in Mexiko, in den USA und schließlich in Frankreich und bezeichnete sich als nègre errant; als er 2008 verstarb, fanden Trauerfeiern in Paris, Brooklyn/New York und Port-au-Prince statt.

Erst mit Passages (1991) von Émile Ollivier (1999 unter dem Titel „Seid gegrüßt ihr Winde“ im Züricher Rotpunktverlag erschienen) haben die boat people die Bühne der kulturellen Repräsentationen und literarischen Darstellung als explizites Thema betreten. In Passages geraten die Motivlagen und sozialen Hintergründe der Flüchtenden in den Blick. Verarmte Dorfbewohner*innen, die vor der Armut und Trockenheit des Hinterlandes fliehen, stehen in Kontrast zu den Repräsentant*innen der intellektuellen Mittelschichten, die ihr Glück im Ausland suchen. Der Roman schildert das Scheitern des Übersetzens eines Schiffs haitianischer boat people , evoziert Bilder von an den Küsten Miamis angeschwemmten toten Schiffbrüchigen und thematisiert die rastlose, nomadenhafte Existenz der Geflüchteten im Exil, in der sich die ersehnte „Rettung“ kaum einstellt und sich die Sehnsucht nach dem Heimatland regt.

Pierre-Dahomey greift das Motiv des Schiffbruchs in Rapatriés wieder auf, auch wenn hier letztlich das Schiff nicht zerbricht, aber mit Bellis „Opferung“ ihres Sohns ein anderer eintritt: der eigentliche Schiffbruch im Leben der Protagonistin. Im Roman werden die Migrationsbewegungen, die die haitianische Bevölkerung in den letzten Dekaden, nach dem Ende der Diktatur der Duvaliers (1986) und im Kontext der globalisierungsbedingt verschärften sozialen Ungleichheiten in globalem Maßstab, unternommen hat, zum Thema der Gegenwartsliteratur. Die Binnenmigration und Landflucht, die zahlreiche Menschen in größere Städte, vor allem in die Hauptstadt Port-au-Prince, treiben, spielen dabei eine im Vergleich zur Fluchtbewegung in die wohlhabenden Länder des Nordens untergeordnete Rolle. Letztere, die sich auf das „Eden auf der anderen Seite der Wellen“ richtet, ist zentral für die Handlung des Romans. Das Streben nach besseren Lebensbedingungen ist hier synonym mit dem Fortgang aus Haiti und der Orientierung hin zum „globalen Norden“. Es erfährt im Roman seine Realisierung in der Vermittlung der Töchter der Protagonistin nach Kanada und Frankreich. Dass die Adoption in Frankreich just durch eine Entwicklungshelferin erfolgt, deren Lebensgefühl durch den „fieberhaften Wunsch“ bedingt ist, „die Welt in die Arme zu schließen und ihr ohne Ende zu helfen“, kann als Zuspitzung der teils sarkastischen, teils desillusionierten Anlage von Rapatriés gelten.

Dem globalen Korpus der literarischen Bearbeitung des Themas von Flucht und Migration, das im globalen Kontext immer virulenter wird, wird durch den Roman von Pierre-Dahomey eine spezifisch haitianische Variante hinzugefügt. Auch die haitianische Literatur, die ein trauriges wie reiches Reservoir an literarischer Bearbeitung der vielfältigen Formen der armutsbedingten Migration und der Flucht aus politischen Motiven umfasst, wird durch die Präsenz haitianischer boat people und internationaler Adoptionsnetzwerke mit Stoffen der zeitgenössischen globalen Ungleichheitsstrukturen belebt. Für die haitianische Literatur ist der Nexus zur globalen Migration ohnehin grundlegend, auch in außerliterarischer und ganz grundlegender Hinsicht, blickt doch ein Gutteil der Protagonist*innen des Feldes der haitianischen Literatur selbst auf Migrationserfahrung zurück, lebt und schreibt in der Diaspora. Der zuvor erwähnte Ollivier, 1940 in Port-au-Prince geboren, ist 1964 nach Frankreich ausgewandert, hatte später in Québec seinen Lebensmittelpunkt, wo er in Montréal an der Universität arbeitete und 2002 verstarb.

„Wenn die haitianische Literatur bereits seit langer Zeit im Wesentlichen im Ausland geschrieben wird – was heißt dann heute ,haitianische Literatur’?“, fragte Peter Klaus vor 20 Jahren in einem Aufsatz in den Lateinamerika Nachrichten. Eine angemessene Betrachtung der haitianischen Gegenwartsliteratur kommt um diese Frage, die Schilderung der Produktionsbedingungen und die Einbindung der haitianischen Literat*innen in die Zirkulation ihrer literarischen Erzeugnisse nicht herum. Der Erfolg des 2017 beim renommierten Pariser Verlag Seuil publizierten Erstlingswerks von Pierre-Dahomey ereignete sich im literarischen Feld Frankreichs, wo der junge Autor seit 2013 lebt. Die von Klaus einst getroffene Beobachtung, dass die haitianische Literatur seit den 1950er-Jahren schwerpunktmäßig zur „Exilliteratur“ geworden ist, wäre mit Sicherheit für die Gegenwart zu präzisieren – auch seine Beobachtung, dass ein recht lebendiges, auf Zeitschriften und Magazine konzentriertes Verlagswesen einhergeht mit einem „verlegerischen Exil“, das darin besteht, dass die Publikationsmöglichkeiten im Ausland grundlegend attraktiver sind. Was ist der Ausdehnungsraum der haitianischen Kultur, wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen der kulturellen Dynamik im Land und jenseits der Küsten Haitis, in der haitianischen Diaspora? In welchen Räumen realisiert sich die haitianische Literatur, gewinnt sie Präsenz? Neben den globalisierten literarischen Räumen und der globalen Zirkulation des haitianischen Buchs und seiner Autor*innen ist parallel eine Rückwendung auf die lokalen Probleme des Landes und eine Zuwendung zu Schauplätzen jenseits der Hauptstadt Port-au-Prince – der haitianische Knotenpunkt schlechthin für den Raum der globalen Ströme und Netzwerke – zu beobachten. So lotet Trouillots Yanvalou pour Charlie (2009, dt. Übersetzung 2016) die Binnenmigration und den „nationalen“ Kontrast zwischen dem ruralen Hinterland und der Urbanität von Port-au-Prince aus. Im Zeichen der Folgewirkungen des verheerenden Erdbebens von 2010 ist ein eigenständiges haitianisches Genre der Desaster-Fiktion entstanden. In diesem wird auch der Kontrast zwischen dem rural, zuweilen harmonisch skizzierten Hinterland und der oftmals monströs und chaotisch gezeichneten Hauptstadt zum Thema. Diese Opposition ist ebenso präsent in Raoul Pecks Spielfilm Meurtre à Pacot (Mord in Pacot, 2014), eine audiovisuelle Fiktionalisierung des Erdbebens, die die Lage des Landes vor dem Hintergrund lokaler Klassenspannungen, internationaler Subalternität und einer möglichen Aufbruchsstimmung ins filmische Bild setzt. Der Hausangestellte Joseph, der nach der Zerstörung des Hauses seiner ehemaligen Vorgesetzten, eines Ehepaars aus der lokalen Oberschicht, nun „frei geworden“ ist, entschließt sich dazu, seinen Arbeitsplatz, das zerstörte „Herrenhaus“, zu verlassen, um ins Hinterland zurückzukehren und dort sein Glück zu suchen.

Übersetzungen der erwähnten Romane:

Jacques Roumain: Herr über den Tau, Übersetzung: Eva Klemperer, Ostberlin 1947, weitere Ausgaben in der DDR und BRD

Jacques Stephen Alexis: General Sonne, Übersetzung: P. Schlicht und H. Sanguinette, Leipzig 1968, weitere Ausgaben in der DDR und BRD

Émile Ollivier: Seid gegrüßt ihr Winde, Übersetzung Elfriede Riegler, Zürich 1999

Néhémy Pierre-Dahomey: Die Zurückgekehrten, Übersetzung: Lena Müller, Hamburg 2018

Literatur: N‘Zengou-Tayo, Marie-José (1996): „Les Boat-People Haïtiens Dans La Fiction Romanesque Haïtienne”, in: Journal of Haitian Studies, vol. 2, no. 2, 1996, pp. 155–166

Klaus, Peter (2000): „Überfahrten. Themen, Titel und Tendenzen in der haitianischen Literatur“, in: Lateinamerika Nachrichten, Nr. 309, März 2000