Auf der Fazenda herrscht immer noch Sklaverei

Torto arado, „krummer, alter Pflug“ heißt das Buch im Original. Solch ein verbogenes Gerät hat ausgedient. Es ist der Vorbereitung des Bodens auf eine gute Ernte nicht mehr zuträglich, schlimmer noch: Es verhindert sie, da schiefe Furchen die Saat verkommen lassen. So erklärt der Geograph und Ethnologe Itamar Vieira Júnior in einem Interview Titel und Absicht seines 2018 in Portugal, dann preisgekrönt 2020 in Brasilien erschienenen ersten Romans.

Das wird schnell klar: Seine bestürzenden Beschreibungen einer weiterhin bestehenden Welt aus Rechtlosigkeit und unterdrückerischen Regeln sind keine Erfindungen, sondern entspringen mehrjährigen Studien zu seiner Doktorarbeit im Hinterland Salvador de Bahias, wo der 1979 Geborene aufwuchs und heute noch lebt. Als Erster ausgezeichnet mit einem nach dem in Strasbourg promovierten Schwarzen Geographen Milton Santos, ebenfalls aus Salvador de Bahia, benannten Stipendium für Schwarze Jugendliche aus einkommensschwachen Familien, hat Itamar Vieira Júnior sehr genau gesehen, wie unmenschlich und, wie der Originaltitel seines Romans besagt, sogar kontraproduktiv die Verhältnisse auf den Ländereien des brasilianischen Nordostens sind. Und er lässt die Jüngeren seiner Protagonist*innen gegen die feudalen Strukturen aufbegehren, was zwar bitter nötig ist, aber einen hohen Preis hat.

Es sind die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts, aber es könnte auch viel früher sein. Auf der Fazenda „Agua Negra“ in der Region Chapada Diamantina wohnen die Nachfahr*innen Schwarzer Sklav*innen in selbstgebauten Lehmhäusern, die in Regenzeiten zwangsläufig immer wieder zerfallen. Das Bauen mit Ziegeln ist ihnen verboten, denn dauerhafte Mauern könnten zur Einforderung von Besitzrechten führen und zum Nachweis längerer Anwesenheit dienen. Woanders als auf einer Fazenda zu leben, ist finanziell unmöglich, aber auch nicht als Idee in den Köpfen der Menschen vorhanden.

Wie eh und je schuften die Männer ohne Lohn und nach den Anweisungen des Vorarbeiters sieben Tage die Woche, die Frauen bearbeiten einen Hausgarten. Die Produkte des selbstbestellten Grundes dienen der eigenen Ernährung und können zudem auf dem Markt verkauft werden. Den Fazendabesitzern, selbst nie anwesend, ja es gibt nicht einmal ein Haus für sie, steht davon – wie immer schon – ein Drittel des Erlöses oder auch der Produkte selbst zu. Ein Vorarbeiter streicht den Anteil so unbegründet wie rücksichtslos ein, aber niemand protestiert. Fehlen Lebensmittel, müssen sie im fazendaeigenen Laden zu überhöhten Preisen gekauft werden.

Das Leben ist geprägt von Armut, Hunger, Dürren und Überschwemmungen sowie – gleichermaßen zerstörerisch –Analphabetismus und Gewalt gegen Frauen, brutaler noch, wenn Männer dem Alkoholismus verfallen. Da die Menschen zumeist ein Leben lang auf der gleichen Fazenda bleiben und dort keine Schulbildung, geschweige denn Unterweisung in der eigenen Schwarzen Geschichte, existiert, begehrt über Generationen hinweg niemand auf. Für den Zusammenhalt und auch das Stillhalten sorgt Jarê, die dem Candomblé vergleichbare Religion in der Chapada Diamantina. Ein Heiler, der jeweils vom alten, abtretenden Heiler ausgewählt wird, ist religiöse Autorität, Arzt und Psychologe in einem, dazu Vermittler bei Streitigkeiten untereinander wie mit den Fazendabesitzern. Das Haus des Heilers ist stark besuchte Krankenstation, aber auch Ort religiöser Zeremonien, wo die Geister – hier Verzauberte genannt – in die Anwesenden einfahren und sie tanzen lassen, was diese stärkt.

So könnte es – aus der Zeit gefallen – immer weitergehen, wenn nicht ein junges Paar eines Nachts heimlich flöhe. Sie lässt sich zur Lehrerin ausbilden, er nimmt Kontakt mit Gewerkschaften auf. Zurückgekehrt auf die Fazenda, beginnt er, Severo, mit gewerkschaftlicher Aufklärungsarbeit, sie, Bibiana, mit Unterrichten. Die bis dato absolut statischen Verhältnisse geraten in Bewegung, zudem wird die Fazenda verkauft, der neue Besitzer will auf das Landstück ziehen, eine evangelikale Kirche tritt anstelle der vormaligen katholischen Kirche, einer Vorfeldorganisation der Kolonisatoren, und der Friedhof, bis dahin letzte Ruhestätte aller, wird „aus Umweltschutzgründen“ geschlossen.

Der Autor packt nun auch noch ein weiteres reales Problem drauf: Severo, der „Aufrührer“ aus Sicht der einen, wird aus einem fahrenden Auto heraus erschossen. Die Suche nach den Schuldigen wird – man kennt das gerade bei armen Schwarzen – schnell mit einer offensichtlich falschen Begründung beendet. Es solle sich um eine Abrechnung unter Drogenbanden handeln. Severos Frau Bibiana übernimmt die Agitationsarbeit ihres ermordeten Mannes. Und wird womöglich unbewusst zur Mörderin.

Aber diese Piste bleibt im Vagen. Bibiana ist die Schwester von Belonísia. Eine Geschichte über die beiden Frauen, Schwestern, hatte Itamar Vieira Júnior als 16-Jähriger begonnen, dann aber liegen lassen, weil die Handlung nicht trug. Nach seiner Doktorarbeit, für deren Untersuchungen er erstmalig zwei oder drei Jahre auf dem Land lebte, griff er die weggelegte Geschichte wieder auf und arbeitete sie aus zu einem Roman. Dieser sei in erster Linie für Landsleute gedacht, wie er im Interview sagte, da diese die Realität auf Fazendas nicht kennen würden. Daher sprächen die Romanfiguren zwar einfach, aber nicht so wie auf dem Lande, weil er zum einen als Städter die Sprache zwar im Rahmen seiner Forschung aufgezeichnet habe, ohne sie selbst zu sprechen. Zum anderen verstünden potenzielle Leser*innen ländliche Ausdrucksweisen wohl nicht. Der Roman als Vehikel solle diejenigen ansprechen, die nicht zum Sachbuch griffen.

Doch die ehedem liegen gebliebene Geschichte trägt immer noch nicht. Der Knaller gleich zum Auftakt verpufft unmittelbar: Die beiden Schwestern, Bibiana sieben Jahre alt, Belonísia ein Jahr jünger, finden im Koffer der Großmutter unter dem Bett heimlich ein glänzendes Messer und stecken es sich in den Mund, um die Klinge zu schmecken. Und oh Schreck: Eine der beiden schneidet sich heftig, die andere verliert sogar ihre Zunge – etwas bemüht, darin die Stummheit Schwarzer Frauen zu sehen. Andere Fragen drängen sich vor: Welche Schwester kann sprechen, welche ist verstümmelt? Was wohl ist das Geheimnis des scharfen Messers? Bibiana bestreitet in Ich-Form die ersten hundert Seiten, aber vom Messer ist keine Rede mehr. Nur erfährt man am Ende, dass sie diejenige ist, die die Zunge behalten hat und die Gesten der stummen Schwester schnell zu interpretieren lernt. Belonísia, die Stumme, übernimmt als Ich-Erzählerin (wenn man so sagen kann) den zweiten Romanteil, und eine „Verzauberte“ einen Teil des dritten. Das Rätsel der Herkunft des Messers verschwindet fast bis zum Schluss aus dem Roman und löst sich banal auf. Die Vermutung, dass es eine magische Bedeutung habe, bewahrheitet sich nicht.

Der „Magische Realismus“, den Passagen nahelegen, in denen die verzauberte Rita erst als „Ich“, dann im „Du“ spricht, ist in der lateinamerikanischen Literatur zwar eine jüngere Technik als der ansonsten im Roman vorherrschende altertümlich realistische Stil. Er ist jedoch ebenfalls schon seit einer Reihe von Jahrzehnten überholt. Zudem sind Ungereimtheiten in Handlung und Personenführung – etwa wenn José Alcina mal Ehemann, mal Sohn ist – kein Tribut an Magie und andere Weltsichten, sondern schlicht schlecht lektoriert. Die Protagonist*innen gewinnen allesamt nie ein Eigenleben. Immer bleibt offensichtlich, dass sie dazu dienen, die Lage auf einer Fazenda möglichst facettenreich zu illustrieren.

Dass drei Schwarze Frauen in Ich-Form sprechen, hat den deutschen Verlag offenbar bewogen, den Originaltitel zu verändern und, auf einen Einbezug in die Rubrik „Schwarze Frauenliteratur“ schielend, komplett zu ersetzen durch „Die Stimme meiner Schwester“. Doch der Autor lässt Frauen so sprechen, wie mann sich das früher immer gedacht hat (und manchmal offenbar heute noch). Entsprechend kommt weibliche Sexualität nur als ein Bedienen männlichen Begehrens vor, nicht als eigenes Begehren. Wie früher im Roman werden Frauen, die selbstständig handeln, körperlich bestraft – Belonísia verliert ihre Zunge, Großmutter Donana ihre Tochter. Und überhaupt agieren sie erst, nachdem Männer ihnen erklärt haben, wo es langgeht. Zentrum der Erkenntnis ist eben der Mann. Immerhin hat der Autor nicht so getan, als wüsste er wie eine Schwarze Frau Lust zu suchen und zu empfinden.

Vielleicht hätte Itamar Vieira Júnior zwei Brüder das Messer finden und sprechen lassen sollen. Dann hätten Ich-Instanzen etwas zur Selbstsicht Schwarzer Männer sagen können. Oder er hätte die Romanpassagen weglassen und doch direkt ein Sachbuch zu den fürchterlichen Verhältnissen geschrieben, die er so genau und mit den ausgebeuteten Schwarzen solidarisch erforscht hat. Dann hätte es wohl auch keinen so vulgärdarwinistischen Schlusssatz gegeben: „Auf der Erde wird stets der Stärkste leben.“