EU-Kommissionschef Claude Juncker war erleichtert. Vergnügt twitterte er am 28. Juni vom G20 aus Osaka: „Der Deal steht,…das ist ein historischer Moment.“ Wohl wahr, ist wenige Monate vor seinem Abgang von der europäischen politischen Bühne im Herbst 2019 mit dem bislang größten Handelsabkommen, sechsmal größer als CETA (das Abkommen der EU mit Kanada), auch noch ein gehöriges Plus auf sein Karrierekonto gehievt. EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström ließ die Welt wissen, nun sei der Beweis erbracht, dass Protektionismus à la Trump den freien Welthandel nicht hinwegfegen könne. Agrarkommissar Phil Hogan, bis vor kurzem noch Gegner des Abkommens und zwecks erhoffter Kommissars-Wiederbenennung durch seine Heimat Irland zum Befürworter mutiert, sprach von einem fairen und ausgeglichenen Ergebnis. Das fand auch Frankreichs Präsident Macron, nachdem er sich mit Brasiliens Präsident Bolsonaro verständigt zu haben glaubte. Letzterer sowie Macri, Präsident von Argentinien, jubelten ihrerseits. Die Staatschefs von Uruguay und Paraguay (die anderen zwei der derzeit insgesamt vier Mercosurländer) ließen ähnliches verbreiten. Sie waren zwar nicht dabei beim „historischen Moment“ in Osaka, alldieweil sie keine G20-Mitglieder vertreten, aber was soll‘s. Das Hauptgeschäft war erledigt und die Welt würde glauben, dass das EU-Mercosur-Abkommen Realität sei. Dass es sich nicht um ein Handels-, sondern um ein Assoziationsabkommen mit zwei weiteren Bereichen, nämlich Politischer Dialog und Entwicklungszusammenarbeit, handelte, ging irgendwie unter. Nicht so wichtig, scheint’s.
Ende Juni ahnte man noch nicht, dass sich zwei Monate später eine logische Folge jenes im Abkommen verankerten Strebens nach ungehindertem Wachstum als medialer Bumerang erweisen und das Abkommen weit über die übliche Gemeinde der Freihandelskritiker*innen hinaus Gegner*innen auf den Plan rufen würde. Denn „die Lunge der Welt“ brennt, und das nicht aus freien Stücken. Unerwartet ist in jedem TV-Spot, in jedem Twitter die Rede von dem Abkommen. Die Beweggründe der Gegner*innen sind durchaus unterschiedlich und oft konträr zueinander, aber irgendwie dringt durch: Wer immer mehr und immer billiger exportieren will, muss rücksichtslos abholzen, Wälder abbrennen, Ackerflächen erweitern, Indigene verjagen und bäuerliche Familienproduktion verbannen.
Beginnt ein Umdenken oder lodert da nur ein Strohfeuer? Immerhin verdienen nicht nur Großagrarier im Mercosur an Handelswachstum per Raubbau. Europäische Banken, Energieunternehmen, Pestizid- und Düngemittelgiganten, aber auch ein „traditionsreiches Hamburger Familienunternehmen“ (laut eigener Website) wie die Helms AG sind dabei, ebenso Fertignahrungsmittelhersteller und Supermarktketten und natürlich die Autoindustrie, nicht erst seit dem provisorischen Abschluss des Abkommens, sondern schon seit vielen Jahren. Es ist kein Zufall, dass das ferne São Paulo die größte deutsche Industriestadt ist. Die Aussicht auf eine vertragliche Absicherung macht nun potenzielle Profite zu realistischen und einklagbaren Erwartungen, zeitlich unbegrenzt.
Im japanischen Osaka feierte man entsprechend den, wie es heißt, „prinzipiellen“ Abschluss des großen Wurfs. Man bringe nun einen gewaltigen Markt von 780 Millionen Konsument*innen zusammen (laut Wikipedia sind es lediglich knapp 765 Millionen). Europäische Unternehmen würden an den Grenzen des Mercosur nun jährlich vier Milliarden Zollabgaben sparen, viermal so viel wie vor Japans Toren. Wettgemacht werden soll der Einnahmeausfall in Staatshaushalten wohl durch einen höheren Absatz von billigeren Produkten. Oder man hat nicht drüber nachgedacht. Auch die Wirtschaft werde stärker wachsen, verkündet die EU. Zu beweisen braucht man vorerst nichts. Besser hätte es kurz vor dem Dienstende der derzeitigen EU-Kommission nicht kommen können, zudem gerade noch rechtzeitig vor den Wahlen in Argentinien und Uruguay am 27. Oktober 2019. Zumindest in Argentinien könnte dann eine Regierung ins Amt kommen, die die „protektionistische“ Kirchner-Ära (2003-2015) wieder aufleben lassen und das Abkommen infrage stellen könnte. Dem musste ein Riegel vorgeschoben werden.
Für Bolsonaro war das Händeschütteln mit Präsidenten dringend nötig, um mit Blitzlichtgewittern seinen Ruf als rechtsradikales Schmuddelkind und Trump der Tropen aufzupolieren. Das offizielle Europa sekundierte unverblümt. Drohgebärden der rindfleischproduzierenden Länder Frankreich und Irland wurden übergangen. Schließlich ist oder war Bolsonaro Liebling der Börsen und das zählt vor allem. Die Konrad-Adenauer-Stiftung schickte eine Analyse aus Brasilien, nach der nicht so heiß gegessen würde wie gekocht, um es positiv darzustellen. Oder: So schlimm ist der Terror nun auch wieder nicht. In einem Brief an Europaabgeordnete hatte Handelskommissarin Malmström noch im Mai sinngemäß behauptet, Brasilien sei eine gefestigte Demokratie und der (wegen Umweltverbrechen und Korruption verurteilte) Umweltminister Salles ein ehrenwerter Mann.
Der Brief war eine Antwort auf einen der mindestens fünf Offenen Briefe von Europaabgeordneten, teils Grüne, teils überfraktionell Grüne, Linke und Sozialdemokrat*innen, allein in diesem Jahr. In allen forderten sie die EU-Kommission auf, die Verhandlungen abzubrechen, oder in den Briefen mit letzteren, diese stark zu verändern, um eine Zustimmung des Europäischen Parlaments zu erreichen. Die EU-Kommission stellte sich taub oder antwortete wie oben dargestellt. Ebenso hartleibig ignorierte sie Alarmrufe von Hunderten von Wissenschaftler*innen, Intellektuellen, indigenen Völkern, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen auf beiden Seiten des Atlantiks, die in den letzten Monaten ein Ziehen der Reißleine forderten, bevor es zu spät sei, der Regenwald mit seiner Bevölkerung verschwände und in Europa verbotene Pestizide Natur und Mensch (einschließlich Konsument*innen) den Garaus machten.
Um den erwartbaren Aufschrei nach dem Abschluss in Osaka möglichst zu ersticken, platzierte die EU-Kommission hektisch ein 17-seitiges „Prinzipielles Abkommen“ (auf Englisch) auf ihrer Website, das sich an der Quadratur des Kreises versuchte und es jedem und jeder recht machen wollte. Für Umweltschützer*innen wurde ein starkes Nachhaltigkeitskapitel mit verbindlichen Regeln zum Pariser Klimaabkommen versprochen, dem Businesssektor wurde versichert, von Inkrafttreten des Abkommens an werde er regelmäßig vor der Annahme neuer Gesetzesvorhaben konsultiert, um seinen Bedürfnissen gerecht zu werden, störende Bürokratie („Red Tape“) abzubauen und Importformalitäten zu beschleunigen, sprich Einfuhrkontrollen zu reduzieren.
Zudem veröffentlichte die Kommission eine Reihe von „Fact Sheets“ (ebenso auf Englisch) zum Abkommen, behauptete aber, der Abkommenstext selbst könne noch lange nicht publik gemacht werden, einige Kapitel müssten erst noch technisch angeglichen werden. Weniger als zwei Tage nach dieser Behauptung stellte die uruguayische Regierung am 11. Juli das bisher Ausgehandelte ins Netz (natürlich auch auf Englisch, denn es wurden englische Texte ausgehandelt!). Noch in derselben Nacht zog die EU-Kommission nach, um nicht der Intransparenz bezichtigt zu werden. Argentinien und Brasilien folgten. Anders als bei den Mitgliedern des Mercosur ist aus der ungeordneten Veröffentlichung der EU-Kommission weder die Struktur des Abkommens ersichtlich, noch wie viele Kapitel fehlen, warum, kann man nur raten.
Zu den abgeschlossenen Texten gehört das Kapitel zur Nachhaltigen Entwicklung, englisches Kürzel TSD (Trade and Sustainable Development). Tatsächlich ist da die Rede von Arbeits- und Umweltschutz und vom Pariser Klimaschutzabkommen. Die Vertragspartner bestätigen, dass sie sich dazu bekennen, „Paris“ umzusetzen und Dialoge darüber führen werden. Durchsetzbar ist dieses Bekenntnis nicht, ebensowenig sanktionierbar. Das TSD-Kapitel ist explizit vom Streitbeilegungsmechanismus (SDM), der Sanktionen kennt, ausgenommen. SDM gilt nur für die harten Kapitel, etwa Verstöße gegen intellektuelles Eigentum („Champagner“, „Parmaschinken“) oder Ungleichstellung von ausländischen Unternehmen bei Ausschreibungen in Bundesstaaten. Oder neuen Ausfuhrzöllen oder vielleicht auch neuen Gleichstellungsgesetzen, die Profite schmälern.
Das TSD-Kapitel ist in gewisser Weise genial. Es geht auf alle aktuellen Sorgen wie Klimawandel, Umweltschäden und Arbeitnehmerschutz ein, aber da es im Widerspruch zum Rest des Abkommens steht, muss es zahnlos bleiben. Andernfalls müssten die anderen Kapitel fallen oder umgeschrieben werden. Dass es so lange dauerte, bis das Kapitel stand, zeigt, dass nicht alle Unterhändler*innen sofort begriffen hatten, was für ein doppelter Boden da geschaffen wurde.
Was im einzelnen in jedem Kapitel steht, wird erst in den nächsten Monaten analysiert werden können. Offenbar gibt es einen internen Stichtag zum endgültigen Abschluss, und zwar den 1. Mai 2020. Studien zu CETA belegen, dass zwischen dem „Prinzipiellen“ und dem „Endgültigen“ Abkommen noch etwa 20 Prozent des Textes verändert wurden.
Ob ausgehandelt wurde und wird, was im Verhandlungsmandat stand, ist völlig unklar. Das Verhandlungsmandat erteilte der EU-Rat 1999, vor 20 Jahren. Sicher ist, dass damals Klimaaspekte noch keine Rolle spielten, Umweltaspekte standen generell weniger im Fokus. Außerdem hatte die EU noch weniger Befugnisse. Investitionen etwa waren noch nicht „europäisiert“. Daher geht es im jetzigen Abkommen auch nicht um solche Reizthemen wie ISDS, ICS oder auch MIC, also wie und wo werden Investorenrechte verteidigt, die beim Widerstand gegen TTIP und CETA etwa eine zentrale Rolle spielten. Allerdings finden Investorenrechte gleichsam durch die Hintertür Eingang in das Abkommen. Man findet sie, weit weniger plakativ, in den Kapiteln Niederlassungsfreiheit und Marktzugang oder auch in den Kapiteln zu finanziellen Dienstleistungen.
Selbst Europaabgeordnete bekamen das Verhandlungsmandat bisher nicht zu Gesicht. Am 3. Juli dieses Jahres wandte sich die französische Sektion von Friends of the Earth an die Europäische Kommission und forderte auf der Grundlage der Verordnung 1049/2001 Zugang zum Verhandlungsmandat. Dies wurde verweigert, da mit der Veröffentlichung das öffentliche Interesse in Bezug auf internationale Beziehungen untergraben werde und diese Schaden nehmen könnten. In der umständlichen Begründung der Kommission wird des Weiteren angeführt, dass negative Auswirkungen auf die Fähigkeit der Kommission, weitere Verhandlungen zu führen, nicht ausgeschlossen werden könnten.
Auch darin zeigt sich, es wird weiter, und nicht nur technisch, verhandelt. Nach der Absegnung aller Kapitel machen sich so genannte Legal Linguists an die Arbeit, um den Text juristisch eindeutig und wasserdicht zu machen (Legal Scrubbing). Danach wird er in alle 22 EU-Sprachen übersetzt. Erst dann wird er mit der Hoffnung auf deren Zustimmung an den EU-Rat und das Europäische Parlament (EP) überwiesen. Das kann zwei, vielleicht auch fünf Jahre dauern. Da es sich um ein Assoziationsabkommen handelt, gilt es, wie der EU-Rat noch 2018 bestätigte, als „gemischt“. Danach müssen es auf europäischer Seite Rat, Europäisches Parlament und rund 40 Parlamente der EU-Mitgliedstaaten ratifizieren. Es kann aber auch sein, dass die EU-Kommission den gleichen Weg beschreitet wie beim EU-Zentralamerika-Abkommen. Sie könnte den Handelsteil, also die europäische Kompetenz, abspalten, sich von Rat und EP die Zustimmung holen und den Handelsteil „provisorisch“ in Kraft setzen, während die anderen beiden, als „soft“ bezeichneten Teile der Ratifizierung in den nationalen Parlamenten harren. Das dauert bei Zentralamerika mittlerweile schon sechs Jahre, tut den Handelsbeziehungen aber keinen Abbruch. Für den Rest der Beziehungen gilt weiterhin das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen von 2003, das übrigens erst 2013 in Kraft trat, weil einige EU-Mitgliedstaaten mit der Ratifizierung hinterherhinkten. Erst wenn ein nationales Parlament explizit „Nein“ sagt, müsste ein Abkommen in Gänze fallen. Das ist bisher noch nie passiert.
Auf Mercosur-Seite machen vor allem Bolsonaro und Macri Dampf, das Abkommen möglichst schnell zu ratifizieren. Bei Bolsonaro, selbst eher Protektionist vom Stile Trumps, dürfte sein neoliberaler Wirtschaftsminister Paulo Guedes mit Chicago-Boy-Ausbildung den Ausschlag geben. Bolsonaro ließ gar verbreiten, notfalls würde Brasilien im Alleingang das Abkommen mit der EU in Kraft setzen. Das versetzte etwa die Linke im argentinischen Parlament in Panik, da sie eine kurzfristige Abstimmung befürchteten, ist aber Theaterdonner. Das Assoziationsabkommen kann nur mit allen in Kraft treten.
Auf EU-Seite wird es noch jahrelang dauern, bis die abstimmungsbefugten Instanzen EU-Rat und EP mit dem Abkommen befasst werden. Einzelne Mitgliedstaaten können nach EU-Rechtslage nicht schon jetzt den Ratifizierungsprozess stoppen. Sie können nur unverbindlich bekunden, dass sie bei der Abstimmung gegen das Abkommen stimmen werden.
Dennoch ist es wichtig, jetzt zu mobilisieren. Auf das Säbelrasseln eines Präsidenten Macron in Frankreich oder Premierministers Varadkar im ebenfalls rindfleischproduzierenden Irland ist kein Verlass. In den Niederlanden liegen bereits ablehnende Resolutionen im Parlament vor. In Österreich hat der EU-Unterausschuss des Nationalrats einen Beschluss gefasst, der die gegenwärtige und künftige Regierungen darauf festlegt, das Abkommen abzulehnen. Allerdings könnte ein künftiges Parlament diesen Beschluss wieder kippen.
Kampagnen müssen darauf zielen, weitere Festlegungen gegen das Abkommen zu erreichen, nicht wegen des aktuellen Regenwaldfeuers, sondern wegen der Inhalte des Abkommens, das solche Brände nach sich zieht.