Im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft und den Massenprotesten von 2013 sind im deutschen Sprachraum zuletzt mehrere Bücher über Brasilien erschienen. „Brasilien – Aufbruch und Aufruhr“ ist dabei besonders zu empfehlen. Es bietet auf konzisen 145 Seiten eine ausgezeichnete Übersicht über das heutige Brasilien mit seinen Errungenschaften und Schattenseiten, sozialen und ökonomischen Realitäten, Geschichte und Gegenwart sowie Kultur und Umweltproblematik – und auch einige Seiten über den Nationalsport, der ja einen ganz besonderen Stellenwert besitzt. Darin wird beleuchtet, wie die Vorbereitungen für dieses Megaevent Fußball-WM, vor allem die höchst übertriebenen Kosten – im Vergleich zu den ungenügenden Ausgaben in den öffentlichen Gesundheits-, Bildungs- und Transportsystemen – die Proteste ausgelöst und die heutige Regierung viel von ihrer früher hohen Popularität gekostet haben.
Eingeleitet wird der Sammelband durch eine historische und literarische Einführung der Herausgeber sowie die Eröffnungsrede des Schriftstellers Luiz Ruffato auf der Frankfurter Buchmesse 2013. Er betont dabei die paradoxe Natur seines Landes: „Mal erscheint Brasilien als eine exotische Gegend mit paradiesischen Stränden, Urwäldern, Karneval, Capoeira und Fußball, mal als ein furchtbarer Ort voller Gewalt in den Städten, Kinderprostitution, Missachtung der Menschenrechte und der Natur. Mal wird es gefeiert als ein Land, das bestens dafür gerüstet ist, eine Hauptrolle in der Welt zu spielen, mit reichen Bodenschätzen, Landwirtschaft, Viehzucht und einer vielfältigen Industrie, einem enormen Wachstumspotenzial in Produktion und Konsum, dann wieder ist es für die ewige Nebenrolle des Zulieferers von Rohstoffen und Produkten aus billiger Arbeitskraft bestimmt, wegen der Unfähigkeit, seinen Reichtum selbst zu verwalten. Jetzt sind wir die siebtgrößte Wirtschaft des Planeten, aber wir stehen weiterhin an dritter Stelle weltweit in puncto Ungleichheit…“
Bei einigen der etwa zur Hälfte österreichischen Autorinnen und Autoren können Hinweise auf Stefan Zweigs berühmtes Werk „Brasilien – Land der Zukunft“ nicht fehlen, aber das allzu optimistische Buch des exilierten Schriftstellers wird in seinen historischen Zusammenhang, als Brasilien Zufluchtsstätte nicht zuletzt jüdischer EmigrantInnen war, gestellt. Die meisten Beiträge behandeln historische, soziale und wirtschaftliche Themen, wobei das schwere Erbe der erst 1888 abgeschafften Sklaverei bereits in Ruffatos Frankfurter Rede und auch danach mehrfach betont wird. Die Literatur kommt nicht zu kurz, der Außenpolitik mitsamt ihren Widersprüchen ist ein weiteres Kapitel gewidmet. Zwei ausführliche Beiträge setzen sich mit Umweltproblemen, vor allem sehr eingehend mit dem umstrittenen gigantischen Wasserkraftwerk Belo Monte in Amazonien und der explosiven Expansion von Sojaanbau und Rinderzucht auseinander. Brasiliens Besonderheiten und seine Rolle auf regionaler und internationaler Ebene werden dargestellt, ebenso sein grundlegend sympathisches Image, das es weltweit genießt.
Auf jeden Fall bietet das Buch etliche sehr nützliche Analysen, wie die Lula-Dilma-Jahre 2003-2014 in einer umfassend historisch-strukturellen, weder apologetischen noch oberflächlich-kritischen Sicht beurteilt werden können.
Viktor Sukup
Gerhard Drekonja-Kornat und Ursula Prutsch (Hg.), Brasilien – Aufbruch und Aufruhr, LIT-Verlag, Wien, 2014, 145 Seiten