Irgendwann in den Neunzigern in einem Touristenbus in Patagonien: Der junge Führer beschreibt die noch verbleibende Wegstrecke von El Calafate zum Gletscher Perito Moreno und erwähnt beiläufig, dass wir gerade die Estancia La Anita passieren. La Anita, La Anita? Da war doch was. Ich hatte Bruce Chatwin „In Patagonien“ gelesen und wollte wie Chatwin Nomade werden, der im Weiterziehen, im Reisen, seine Erfüllung sieht. Bis nach Patagonien hatte ich es jedenfalls schon geschafft, immer wieder die Spuren Chatwins kreuzend. Über La Anita hatte er geschrieben, dass dort während der großen Landarbeiterstreiks im südlichen Patagonien in den Jahren 1921 und 1922 eine Gruppe geflohener Aufständischer von Militärs massakriert worden sei. Ich spreche den Führer vor der versammelten Gruppe darauf an und frage ihn, warum er dieses historische Ereignis unerwähnt lasse. Er wird nervös und vertröstet mich auf später. In der Zwischenzeit erkläre ich den mitreisenden interessierten Damen der besseren Gesellschaft von Buenos Aires, was ich weiß. Der Führer, ein sympathischer Kerl, setzt sich dann im Bus neben mich, seine Erklärung ist verblüffend einfach und genauso überraschend: natürlich wisse er von dem Massaker, jeder hier wisse davon, doch die Familien, die in dieser Region die Macht hätten, wünschten nicht, dass man darüber rede, er sei als Student auf seinen Lohn angewiesen und halte sich daher daran.
Diese Episode belegt, welchen Stellenwert die damaligen Ereignisse bis heute für Patagonien haben. Bruce Chatwin hatte die Passagen über die damaligen Aufstände der historischen Untersuchung Osvaldo Bayers entnommen, La Patagonia Rebelde, einem Buch, das dank der verdienstvollen Edition des kleinen Trotzdem-Verlages bald vierzig Jahre nach seiner Entstehung endlich auf Deutsch vorliegt. Klar wäre dem Buch eine Ausgabe zu wünschen gewesen, die eine Chronologie der für den deutschen Leser unbekannten Ereignisse, eine Erläuterung der Biografien zumindest der Hauptpersonen und Landkarten enthält, doch dieser Aufwand war dem kleinen Verlag neben der schon nicht einfachen Übersetzung wohl nicht zuzumuten.
Während der mehrjährigen harten Arbeitskämpfe in den frühen 1920ern hatte die Armee des demokratisch gewählten Präsidenten Hipólito Yrigoyen mehrere Hundert Landarbeiter erschossen und viele weitere inhaftiert, um den sozialen Status Quo zugunsten der Estancieros, der Großgrundbesitzer, und der Fleischunternehmer zu verteidigen. Die großen Ländereien gehörten neben argentinischen Familien vor allem Engländern. Die Landarbeiter waren hingegen größtenteils italienischer und spanischer Herkunft und – in den Worten Bayers- „mit ihnen kam die Ideologie jener Länder und jener Zeit an: der Anarchismus“.
Auch deutsche Einwanderer zählten zu den Gewerkschaftern von damals. Mit der Geschichte eines von ihnen, Kurt Gustav Wilckens, beginnt die deutsche Kurzfassung des in Argentinien vierbändigen Werkes. Bayer schildert, wie der Anarchist Wilckens einen der Verantwortlichen der patagonischen Massaker, den Oberst Héctor Varela, am 27. Januar 1923 aus einem Akt der Solidarität heraus auf offener Straße in Buenos Aires zunächst mit einer Bombe verletzt und dann erschießt. Der damals 36-jährige Wilckens, aus Bad Bramstedt in Schleswig-Holstein stammend, war zunächst in die USA ausgewandert und wurde dort wegen der Organisation von Streiks politisch verfolgt. Aus politischen Gründen wurde er kurz nach seiner Einwanderung in Argentinien ebenfalls inhaftiert und schloss sich der Hafenarbeitergewerkschaft und den Anarchisten an. Selbst bei dem Attentat schwer verletzt, wird Wilckens am 15. Juni 1923 im Gefängnis ermordet. Daraufhin organisiert die starke anarchistische Bewegung in Argentinien einen Generalstreik, auch in Deutschland finden Solidaritätsveranstaltungen für den „Märtyrer“ Wilckens statt.
Mit einem unglaublichen Detailreichtum schildert Bayer erstmals die Ereignisse der damaligen Zeit, sowohl den verzweifelten Kampf der Landarbeiter um bessere Arbeitsbedingungen als auch die immer härtere Repression, vor allem nachdem der von der Regierung in Buenos Aires entsandten Armee freie Hand bei der Wahl ihrer Mittel gelassen worden war. Die Kapitelüberschriften Bayers deuten die Geschichte der Streikbewegung an: Tief im Süden Argentiniens, Die Weißen und die Roten, Das Morgenrot der armen Teufel, Ein glückliches Ende: Gelungenes Vorspiel des Todes, Der lange Marsch bis zum Tod. Und dieser zuletzt angesprochene lange Marsch endet für eine große Gruppe Aufständischer auf der Estancia La Anita. Diese wird schließlich von der Armee eingenommen, die anschließend mehrere Dutzend Gefangener hinrichten lässt.
Allein die Person Osvaldo Bayers und nicht zuletzt die Geschichte des Buches hätten eine frühere deutsche Ausgabe mehr als gerechtfertigt. Denn so verbunden der 1927 im nordargentinischen Santa Fe geborene Osvaldo Bayer mit der argentinischen Geschichte war und ist, so eng ist sein Schicksal auch mit Deutschland verknüpft. Das war auf der dem Gastland Argentinien gewidmeten Buchmesse im letzten Jahr in Frankfurt zu spüren, als Osvaldo Bayer in vielen öffentlichen Auftritten eine verspätete, dafür umso verdientere Würdigung erfuhr. Es wurde der Buchautor gewürdigt, allerdings ein Autor, der Wert darauf legt, Aktivistenautor zu sein, der seinen Freund, den Journalisten und Autor Rodolfo Walsh als sein Vorbild bezeichnet – den Walsh, der ein Jahr nach dem Militärputsch von den Schergen der Junta umgebracht wurde – sein „Offener Brief an die Militärjunta“ ist ein erstaunlich weitsichtiges und wegen seiner scharfsinnigen Analyse lesenswertes Dokument. Bayer geriet selber ins Visier der Junta. Sein Patagonia Rebelde wurde wie viele andere Bücher verboten und später sogar verbrannt.
Der auf der Buchvorlage basierende gleichnamige Film wurde 1974 mit dem Silbernen Bären auf der Berlinale ausgezeichnet, konnte in Argentinien allerdings auf Anordnung der damaligen Präsidentin Isabela Perón bereits vor dem Militärputsch nicht gezeigt werden. Der Autor konnte sich mit Hilfe des Kulturattachés der deutschen Botschaft aus Argentinien nach Deutschland retten, wo er in der Nähe von Bonn und in Berlin-Kreuzberg die Jahre der Diktatur verbrachte. Von da an war vor allem der Menschenrechtsaktivist Bayer gefragt, für den es auf beiden Seiten des Atlantiks genug zu tun gab. Berühmt und immer wieder nachgedruckt wurde in Deutschland sein Vortrag über das Bild eines argentinischen Exilierten von Deutschland, den er 1979 auf einer Konferenz des regierungsnahen Instituts für Auslandsbeziehungen (Stuttgart) nicht halten durfte, weil er darin die Kumpanei bundesdeutscher Regierungsstellen mit der argentinischen Militärjunta ansprach.[fn]Der Vortrag „Mein Bild von Deutschland“ ist gekürzt u.a. veröffentlicht in der ila 153 sowie im von Gert Eisenbürger herausgegebenen Buch „Lebenswege – 15 Biographien zwischen Europa und Lateinamerika“, Hamburg 1995, S. 63-74 . Zuletzt wurde er leicht modifiziert in dem Buch „Dass du zwei Tage schweigst unter der Folter“ (Hamburg 2011, vgl. Buchbesprechung in ila 345) nachgedruckt.[/fn]
In Argentinien äußerte Bayer seine Kritik nach seiner Rückkehr aus dem Exil vor allem in seiner wöchentlichen Kolumne auf der letzten Seite der linksliberalen Tageszeitung Página12.
Und vor kurzem präsentierte der Filmemacher Osvaldo Bayer, selbstverständlich mit dem Gestus des teilnehmenden, des intervenierenden Beobachters, seinen Film Awka Liwe, mit dem er auf das Schicksal der Nachkommen eines Teils der multikulturellen Landarbeiterschaft von damals aufmerksam macht, der Mapuche-Indianer, die im Grenzgebiet zwischen Argentinien und Chile leben. In Chile als terroristisch gebrandmarkt, auch in Argentinien im Clinch mit den Behörden liegend, versuchen die Mapuche ihre Rechte in den heutigen Demokratien durchzusetzen. Wie damals sind ihre Gegner nicht nur repressive, staatliche Strukturen, sondern auch Unternehmen, vor allem die Minenbetreiber.
Aus dem rebellischen Patagonien wurde im Laufe der Jahre das Touristenziel Patagonien, das im Sommer von europäischen, nordamerikanischen und israelischen Reisenden bevölkert wird, und vor allem das verkaufte Patagonien, La Patagonia Vendida, wie ein jüngerer Buchtitel von Gonzalo Sánchez lautet. Es beschreibt den zunehmenden Ausverkauf der noch vor wenigen Jahren fast unberührten Naturlandschaften an reiche Privatpersonen, die sich ganze Landstriche, den Zugang zu Seen, kaufen, um alle paar Monate zum Angelurlaub aus den USA einzufliegen. Natürlich gilt dies nicht nur für Patagonien, die zunehmenden Landnahmen von in- und ausländischen Investoren und Privatpersonen, Landgrabbing genannt, betreffen weite Teile Lateinamerikas.
In dem Moment also, in dem in Argentinien einerseits auf geradezu modellhafte Weise der Diktatur der Prozess gemacht wird, die politischen und bürgerlichen Rechte – zumindest für die StaatsbürgerInnen Argentiniens, weniger für die MigrantInnen– gesichert scheinen, geht es in den aktuellen sozialen Auseinandersetzungen, vor allem für die indigenen Gemeinden, um die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte weiter Teile der argentinischen Bevölkerung. Osvaldo Bayer wissen sie dabei bis heute an ihrer Seite. Bayer zieht zwar in einem Interview 2010 eine bittere Lebensbilanz: „Das, was ich schon immer suchte, habe ich weder erreicht noch gefunden.“ Doch das hält ihn nicht davon ab, nach wie vor in Wort und Schrift für „Gleichheit in Freiheit“ zu kämpfen, für eine Demokratie, in der es keine hungernden Kinder, keine Menschen ohne Dach über dem Kopf und ohne Arbeit gibt.
Osvaldo Bayer: Aufstand in Patagonien, Übersetzung: Boris Schöppner, Trotzdem-Verlagsgenossenschaft, Frankfurt 2010, 423 Seiten, kartoniert, 28,- Euro * Eine Version des vorliegenden Textes, die sich weniger mit dem Buch „Aufstand in Patagonien“ und mehr mit dem Film Awka Liwe beschäftigt, ist in der taz vom 18. Mai 2011 erschienen.