Ausgrenzung sichtbar machen

Auf dem Weg nach Siloé verlässt das Taxi direkt hinter einem teuren Shoppingcenter und der modernsten Sportanlage der Stadt die asphaltierten Straßen. Es wird holpriger und wir halten auf einem Parkplatz, umsäumt von Wellblechbuden und kleinen Werkstätten. Verwinkelte Gassen, ineinander geschobene Häuser, viel Wellblech, Holz, Pappe, unverputzte Wände, Müll auf den Straßen. Aber auch Wandbilder und unglaublich viele Menschen zeugen von einem lebhaften Alltag. Wir befinden uns am westlichen Rand der Stadt, wo die Viertel sich an den Hängen festklammern und über den letzten Dächern die Gipfel der Farallones sichtbar sind. 

„Cali ist Cali, vom Caucatal im Süden bis zum nördlichen Ende, von der westlichen Bergkette bis zu den Steilhängen Richtung Küste“, sagt David. In diesen östlichen Hanglagen der Stadt liegt die Comuna 20, landläufig Siloé genannt, obwohl Siloé eigentlich nur eins der zehn Stadtviertel ist, die in der Comuna 20 liegen. Der Begriff Siloé hat sich durchgesetzt für die gesamte Gegend, in der bis zu 100.000 Menschen leben. In der es drei öffentliche Schulen gibt und niedrige Einschulungsraten. In der die Bevölkerungsdichte die der anderen Viertel um ein Vielfaches übersteigt. In der es kein einzigen Krankenhaus gibt. In der die Analphabetenrate mit 10,3 Prozent die höchste in Cali ist. 

Siloé ist mit einem riesigen Stern am oberen Hang von seinen BewohnerInnen gekrönt worden. Nachts wird er von Lichterketten beleuchtet. Ein Fluss kämpft sich mitten hindurch, zwischen den Häusern, unter dem teils aufgebrochenen Pflaster oder durch einfache schmale Rohre. Der da-neben liegende Abwasserkanal zeugt von der Kreativität der AnwohnerInnen, ihre Versorgung selbst in die Hand zu nehmen. Er wurde mit ihren eigenen Ressourcen angelegt, nach Bedarf verlängert und verändert, mittels gebrauchtem Baumaterial.

Wir treffen David im Museum. Er begrüßt uns herzlich, wie alte Freunde, und redet ununterbrochen. Auf seinem T-Shirt ist ein großes Herz abgebildet und darunter der Schriftzug Siloé visible (Siloé ist sichtbar). Seinen etwas ausgeleierten Strohhut ziert eine Liebesbekundung: Yo amo a Siloé (Ich liebe Siloé). Er schiebt stolz die Garagentür auf, hinter der sich das Museo Popular de Siloé befindet. Aus der stickigen Hitze der Stadt treten wir in einen finsteren Raum, vollgestopft bis unter die Decke. Uns empfängt der Geruch einer Messiewohnung. Erst langsam lässt sich in dem Chaos eine Struktur erkennen: Schuhe, verstaubte Platten, thematische Räume für einzelne Ereignisse, die Guerillagruppe M-19, Minenwerkzeuge. Und überall hängen Fotos und Bilder, Poster und Briefe. Ab und zu steckt jemand seinen Kopf in die Tür und fragt, ob sein Foto schon aufgehängt wurde. Sieht sich Bilder an von Bekannten, scherzt mit David und macht nebenbei ein Treffen aus. Und darin besteht die Funktion des Ortes: Er ist Treffpunkt und Verhandlungsort. Und vor allem erzählt er die Geschichte eines Viertels aus Sicht seiner BewohnerInnen. Oral History im Museum.

Und das ist die Geschichte, die hier geschrieben wird: Anfang 1900 kamen vertriebene, arbeitslose Minenarbeiter aus den südlichen Goldminen nach Cali, damals ein Dorf, um Arbeit und Unterschlupf zu finden. Sie wurden gemäß ihres Herkunftsortes marmatos genannt. Dann wurden illegale Kohleminen eröffnet. Auf jedem Eingang stand ein kleines Gebäude, um den Zugang zu bewachen. Aber in ihnen wurde auch geschlafen, gegessen und eben gelebt. 1948 erreichten die großen Wellen von Desplazados, die vor dem brutalen Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen flohen, die kleine Stadt und die wenigen Häuser. David weist uns auf ein kleines Foto an der Wand hin. Es zeigt Eugenio Santa María Sánchez. Er hat den neuen SiedlerInnen Kohle abgekauft und Land an Vertriebene verschenkt. Er scheint für unsere Gesprächspartner ein Held zu sein. 1976 sei er dann spurlos verschwunden. Die bewegte Geschichte hat in Siloé Spuren hinterlassen. Es ist ein bisschen wie ein Dorf mit sehr traditionellen Eigenschaften der Siedlungen von Bergleuten, Bauern und Bäuerinnen aus Cauca und Nariño.

In den 80er Jahren übernahm die Guerillagruppe M-19 die Kontrolle über das Viertel und genoss aufgrund ihrer Lebensmittelverteilaktionen Unterstützung bei den BewohnerInnen. Der M-19 schlossen sich damals viele Intellektuelle an – in der Hoffnung auf eine Revolution für ein besseres Leben. Ein ganzer Raum ist ihr gewidmet. Die Militäroperation „Saubere Weihnachten“ im Dezember 1985 brachte ein jähes Ende aller Entwicklung im Viertel. Das Viertel sei komplett umstellt gewesen, Militär und Polizei hätten es vollständig geräumt und alle aus ihren Häusern gezerrt. Vorher hätten sich die staatlichen Instanzen nie hinein getraut. Seitdem hätte sich im Viertel allerdings nicht viel verändert: Die Kontrolle sei an die Drogenbanden übergegangen, Schmuggler und Kriminelle würden ihr Unwesen treiben. Polizei und Militär trauen sich schon lange wieder nicht mehr hinein. 

Und auch von allen staatlichen und städtischen Hilfen sind die BewohnerInnen abgeschnitten. Wenig Infrastruktur, vernachlässigte Gegend. „Wer für sich kämpfen will, muss seine Geschichte kennen“, sagt David. Und darin findet er seine Mission. Anfangs, so David, hatten die BewohnerInnen eine große Scheu vor der Öffentlichkeit. Sie wollten keine Fremden im Viertel, hatten Angst, auch vor weiterer Stigmatisierung. Doch als die ersten Fotos hingen, die ersten Videos im Netz standen, hatten viele ihre Scheu verloren. Jetzt sehen viele das Projekt als ihres an, sie wollen sich zeigen und sind sogar stolz darauf, ihre Abbilder im Museum zu sehen. Sind stolz auf ihr Viertel, auf ihre Leistung, auf ihren Kampf für gerechte Behandlung. Es sind vor allem die Dealer und Bandenmitglieder, die nicht fotografiert werden wollen. Davids Schwester setzt sich zu uns und erzählt von den Zielen des Projekts Siloé visible. Der Name sei Programm. Nur wenn die Stadt unten wüsste, wer hier oben wie und warum lebt, könnten sie eine Integration erwarten. Die Stadt unten denke über Siloé nichts Gutes. Alles Drogenbanden. Alles Kriminelle. Mit einer Adresse in Siloé einen Job zu bekommen sei schwer. Andererseits sind es gerade die BewohnerInnen der marginalisierten Viertel, die die Stadt am Laufen halten. Sie arbeiten als fliegende HändlerInnen, ArbeiterInnen in den großen Betrieben, als ParkwächterInnen, HandlangerInnen und TagelöhnerInnen.

Das Ziel sei daher, Geschichte von unten zu erzählen. Gemeinsam mit BewohnerInnen werden anhand von persönlichen Erinnerungen und Dokumenten die Geschichten des Viertels gesammelt. Alle Geschichten haben für David und seine Schwester den gleichen Wert, wie auch alle Fund- und Ausstellungsstücke im Museum gleichen Rang und Wichtigkeit genießen. Ein Paar Schuhe von Minenarbeitern, die dokumentieren, welch harte Arbeit im Aufbau von Siloé steckt, wie viel Leid und Schweiß. Genauso wichtig ist ein Plakat des Films Dr. Alemán mit einem Autogramm von August Diehl. Dieses Museum als Stadtteilprojekt macht auch die Spaziergänge für Touristen und Interessierte erst möglich. Und sie sind Teil des Konzeptes: je mehr Öffentlichkeit, desto mehr Chancen, auf die Marginalisierung hinweisen zu können. Während wir mit den Beiden durch das Viertel laufen, sagt eine junge Frau ein wenig abwesend: „Wir sehen die Stadt ständig von hier oben, aber die da unten wollen uns nicht sehen.“
David und seine Mitstreiter wollen vor allem auf sich und die Lebensbedingungen aufmerksam machen, denn prekäre Viertel in Cali, aber auch in ganz Kolumbien sind nicht nur soziale Brennpunkte voller Gewalt und Elend, sondern auch Lebensraum von Vertriebenen, Familien, sozial Benachteiligten und Ausgeschlossenen.

Sicherheit ist hier ein allgegenwärtiges Thema. Wir hören nachher, dass wir durch die Gebiete von 23 Banden gelaufen sind. David glaubt, das wäre mittlerweile aufgrund der Arbeit des Museums auch ohne Begleitung für TouristInnen möglich. Als wir uns als Versuchskaninchen anbieten, zieht er zurück. Zum Thema Sicherheit präsentiert er uns eine Anekdote. Der Film Dr. Alemán wurde in Siloé gedreht. Damals hatte die Stadt dem kolumbianisch-deutschen Team angeboten, für ihre Sicherheit zu sorgen und das Viertel für die Dreharbeiten ein paar Tage komplett zu räumen. Das Viertel mischte sich ein und laut David konnten sie die Sicherheit des Teams selbst gewährleisten, unter drei Bedingungen: Mitsprache beim Drehbuch, keine Polizei im Viertel und Beteiligung der BewohnerInnen als bezahlte LaienschauspielerInnen. Das Team ließ sich auf den Deal ein. Sie kamen ohne Polizei. Und die AnwohnerInnen verlangten, einen Großteil der Gewaltszenen zu streichen, sie wollten nicht als brutale, hemmungslose Verbrecher dargestellt werden. Als der Film dann zum ersten Mal in Siloé gezeigt wird, kommt es zu Streit: „Er ist viel zu harmlos“, sagen die einen. Er verharmlose die Situation und die Lebensbedingungen. Zu den anderen gehört David, der selbst dafür gekämpft hat, dass es weniger Gewalt und Tote auf der Leinwand gibt. 

Das Gemeindezentrum wurde von den BewohnerInnen selbst gebaut. Seit der Eröffnung im Jahre 2000 bietet es eine Bibliothek. Zur Lektüre kommen Kinder und Jugendliche die steilen Straßen zu Fuß gelaufen. In Siloé haben die Menschen sogar eigene Denkmäler gebaut. Siloé visible möchte all das zeigen. Und die Bedingungen verbessern. Denn viele BewohnerInnen verbringen Jahre in ihrem „Dorf“, viele verlassen es nicht gern. Sie leben in der Mitte von Cali, arbeiten hier, haben Spaß und eine Gemeinschaft. In diesem Jahr soll eine Seilbahn das Viertel direkt an den Sportkomplex und das Shoppingcenter anbinden, auf die wir von oben blicken. David hofft auf eine Öffnung der Stadt und eine engere Verbindung zwischen den Vierteln. Aber auch das Negativbeispiel Medellín ist ständig präsent.

In den letzten Jahren haben die BewohnerInnen begonnen, ihre Fassaden weiß zu streichen, aufzuräumen. Vieles wirkt selbstgebaut: Die Straßenpflaster, die Brücken und Stege über den Bach. Und gemeinsam haben einige BewohnerInnen eine weithin sichtbare Wand geweißt und mit dem Schriftzug Yo amo a Siloé versehen. Der große Schriftzug prangt über der Stadt wie ein Mahnmal, ein ständiger Hinweis. Auch den Platz neben dem Schriftzug haben AnwohnerInnen als öffentliche Terrasse selbst gestaltet. Er lädt zum Spielen und Ausruhen ein und dazu, den wunderschönen Ausblick und den frischen Abendwind zu genießen. Der Platz wurde nach einem Erdrutsch, der mehrere Menschenleben gefordert hat, von den Leuten aus dem Viertel selbst aufgebaut. Eine Betonfirma, deren Besitzer im Viertel lebt, hat das Material gespendet und alle haben ihren Teil beigetragen. Die Renovierung und Gestaltung öffentlicher Orte, so Davids Schwester, sind wichtige Schritte zum sozialen Zusammenleben. Abends stellen sie Boxen raus, es wird Salsa getanzt – auf der schönsten Terrasse der Stadt. Ein solcher Tanzabend bleibt für Fremde weiterhin verschlossen, die Drogenbanden und Kriminelle treiben nachts ihr Unwesen.