Wenn der Strom im Tunnel ausgefallen ist und die Laterne zu Hause vergessen wurde, kommt einem das unendlich weit entfernte, winzige Lichtlein am Ende der Dunkelheit wie ein Hoffnungsschimmer vor. Ähnlich geht es derzeit den internationalen Kommentatoren, die nach dem Motto „Augen zu und durch“ den jüngsten Parlamentswahlen in Haiti einen Fortschritt für die Demokratie abgewinnen müssen. Seit fast vier Jahren blockierten Staatspräsident Michel Martelly und die Parlamentsmitglieder die Wahlen, weil sie sich auf keinen Termin einigen konnten. Jetzt hat die „internationale Gemeinschaft“, die die Funktionsweise des Staates Haiti beaufsichtigt, so viel Druck aufbauen können, dass die haitianische Regierung endlich den Urnengang auf Anfang August terminierte.

„Haiti hat einen wesentlichen Schritt zu mehr Demokratie gemacht“, kommentierte die Leiterin der EU-Beobachterdelegation, Elena Valenciano, die verspätete Abstimmung am Morgen danach. Optimismus war opportun, Kritik an der international akzeptierten Notstandsregierung jedoch nicht. Dabei ist die Wahl im „Land der Berge“ eine Katastrophe – für das Land und für die Demokratie, um im Duktus von Frau Valenciano zu bleiben. Die übergroße Mehrheit der Menschen in Lateinamerikas Armenrepublik hat verstanden, dass sie von der politischen Klasse ihres Landes genauso wenig zu erwarten hat wie von der internationalen Gemeinschaft, wenn nicht sogar noch weniger. Die hatte vor fünf Jahren nach dem schweren Erdbeben mit fast 300 000 Toten versprochen, den Menschen in dem zerstörten Land wieder auf die Beine zu helfen und doch nur prestigewürdige Projekte in der verkehrstechnischen und staatlichen Infrastruktur (Straßen, Ministerien, Verwaltung) finanziert.

Das haitianische Wahlsystem ist in Anbetracht der finanziellen und strukturellen Ressourcen des Landes eine Absurdität. Immer wieder muss im Zweijahresabstand ein Teil der Ober- und Unterkammer des Parlaments gewählt werden. Was vielleicht einstmals gedacht war als Versuch, die Funktionstüchtigkeit der obersten Volksvertretung zu garantieren, hat sich seit dem Amtsantritt von Martelly zu einem kostspieligen Akt politischer Manipulation entwickelt.
Der ehemalige Karnevalssänger Michel Martelly, der von seinen AnhängerInnen Sweet Mickey oder„Tèt Kale („Kahlkopf“) gerufen wird und sich gerne mit frauenfeindlichen Sprüchen in der haitianischen Öffentlichkeit zu Wort meldet, konnte zwar bei den Präsidentschaftswahlen eine Stimmenmehrheit auf sich vereinigen, in den beiden Kammern des haitianischen Parlaments, Abgeordnetenkammer und Senat, verfügt er jedoch über keine Fraktion, die ihm eine Stimmenmehrheit garantiert. Trotzdem versuchte sich der „Kahlkopf“ bei parlamentarischen Gesetzesinitiativen besonders im Rahmen von Infrastrukturmaßnahmen als generöser „Landschaftspfleger“ und bedachte Abgeordnete und ihre Wahlbezirke mit finanziell versüßten Maßnahmen. Seit sich die Abgeordneten und Senatoren jedoch seiner politischen Agenda widersetzen, nutzt Martelly präsidiale Ausnahmeregelungen in der Verfassung, um Gesetzesvorhaben auch ohne parlamentarische Abstimmung durchzusetzen.

So willfährig der ehemalige Sänger, der zu Konzerten gerne auch mal im Tutu auf der Bühne rumhopste, heute jedoch eher feinen Zwirn vorzieht, die Modernisierungspläne der „internationalen Gemeinschaft“ und der ausländischen Geldgeber umsetzte, die Zunahme von Korruptionsvorwürfen, das Aufbegehren gegen Tourismusprojekte, bei denen die Bevölkerung Luxusresorts weichen muss, das autokratische Auftreten und die immer wieder vertagten Wahlen führten zu verstärkten Protesten der haitianischen Opposition, zu internationalem Unmut und Druck vonseiten der USA und der Vereinten Nationen.

Die Terminierung der Wahlen ein halbes Jahr nach der offiziellen Auflösung des Parlaments war ein Erfolg der ausländischen Pressionen, die Wahl selbst am 9. August jedoch ein Desaster. 74 Millionen US-Dollar wurden für die Vorbereitung und die Durchführung des Urnengangs ausgegeben. Ein stolze Summe in einem Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung an und unter der Armutsgrenze von zwei US-Dollar existieren, viele davon sich sogar mit noch weniger als einem Euro zufrieden geben müssen. Um die begehrten und gut dotierten 139 Sitze im Zwei-Kammer-Parlament buhlten insgesamt 1855 Kandidaten und 128 Parteien, manche haben kaum mehr Mitglieder als ihren Vorsitzenden.

Das Wahlergebnis, das am 20. August bekannt gegeben wurde, ist eine zusätzliche Bankrotterklärung zu dem Chaos in den Wahllokalen. Lediglich 18 Prozent der rund 5,9 Millionen Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab, teilte der Conseil Électoral Provisoire (CEP – Provisorischer Wahlrat) auf einer Pressekonferenz mit. Details der Abstimmung blieb der Generaldirektor des CEP, Pierre Louis Opont, schuldig. Anschließend verschwand er unter Polizeischutz aus dem Konferenzsaal. Während auf dem Land die Wahlbeteiligung höher war, lag die Teilnahme an der Abstimmung im städtischen Bereich rund um die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince sogar nur bei zehn Prozent. Dort leben über drei Millionen Menschen. Aber in keiner der landesweit fast 14 000 Urnen lagen mehr als 50 Prozent der möglichen Stimmzettel.

Zusäzlich war die Wahl von zum Teil massiven Unregelmäßigkeiten überschattet. Mindestens fünf Personen wurden in beziehungsweise in der Nähe der Wahlzentren erschossen, neun schwer verletzt, Bewaffnete und Maskierte stürmten mehrere Wahlbüros, vertrieben WählerInnen, raubten Stimmzettel und zerstörten Urnen und Unterlagen. Nach Informationen der Wahlbeobachtergruppe der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mussten vier Prozent der Wahllokale wegen der gewaltsamen Überfälle kurz nach ihrer Öffnung wieder geschlossen werden. In jeweils 14 Prozent wurde die Abstimmung wegen Gewalttätigkeiten und der Anwesenheit von bewaffneten Personen unterbrochen. Wegen Gewaltanwendung suspendierte der Provisorische Wahlrat inzwischen 18 Abgeordnetenkandidaten und schloss sie von der weiteren Wahl aus.

Nach haitianischem Wahlrecht müssen die siegreichen Kandidaten mindestens 50 Prozent plus eine Stimme im ersten Wahlgang erhalten, um gewählt zu sein. Nach Informationen des haitianischen Rundfunks konnte keiner der möglichen 20 Sitze im Senat bei der ersten Runde besetzt werden. Von den 1621 Bewerbern um ein Deputiertenmandat schafften es lediglich neun Kandidaten, sich mit der erforderlichen Stimmenmehrheit im ersten Wahlgang durchzusetzen. Vier davon gehören der Kahlkopf-Partei (Parti haïtien tèt kale – PHTK) an, die dem Präsidenten Martelly nahesteht.
Während der Präsidentschafts- und Kommunalwahlen, die vom CEP auf den 25. Oktober 2015 terminiert sind, wird auch der zweite Wahlgang für die Parlamentskammern stattfinden. In 25 Stimmbezirken muss der erste Wahlgang wegen Unregelmäßigkeiten wiederholt werden. Die Wiederholung ist nach Angaben der Provisorischen Wahlbehörde notwendig, weil weniger als 70 Prozent der Wahlunterlagen aus den einzelnen Stimmbezirken beim CEP eingetroffen sind.

Zu den Kandidaten, die sich im zweiten Wahlgang um ein SenatorInnenmandat bewerben dürfen, gehört auch der 47 Jahre alte Guy Philippe, der 2004 maßgeblich am Sturz des damaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide beteiligt war. Der ehemalige Militär und Polizeiverwaltungschef von Cap Haïtien floh im Jahr 2000 in die Dominikanische Republik und organisierte von dort einen Aufstand gegen den Lavalas-Gründer, der 2004 in einer blutigen Rebellion endete. Aristide wurde mit US-Hilfe und nicht ganz freiwillig in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ins südafrikanische Exil geschafft. Die Kandidatur von Philippe wirft ein besonderes Schlaglicht auf die Wahl. Schon bei seiner Flucht ins Nachbarland war gemunkelt worden, sie habe mit seiner Beteiligung am Drogenhandel zu tun und nicht mit seiner Kritik an den haitianischen Wahlen im Jahre 2000, wie der Ex-Militär gerne behauptete.
Allerdings versuchte Philippe nach dem Sturz Aristides vergeblich, politisch zu reüssieren. Kurze Zeit später wurde er mit einem Haftbefehl in den Vereinigten Staaten von Amerika wegen Drogenhandels gesucht. Obwohl jeder wusste, wo er lebte, machte in Haiti niemand groß Anstalten, um den Gesuchten festzunehmen. Bei den Senatswahlen 2009 durfte er nicht kandidieren, weil er polizeilich gesucht wurde. Normalerweise müssen BewerberInnen um ein Abgeordnetenmandat in Haiti ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Im neuen Wahlgesetz, das extra für die diesjährige Abstimmung erlassen wurde, fehlt dieser Passus. Diese Lücke nutzen Philippe und andere „Politiker“, um sich mit weißer Weste zur Wahl zu stellen.

In dem bergigen Land, in dem ein Geflecht aus Vetternwirtschaft und Korruption seine Geschicke fest im Griff hat, befürchten politische Beobachter auch im zweiten Wahlgang eine kaum höhere Wahlbeteiligung. Schon bei der letzten abgehaltenen Abstimmung, der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 2011, gingen weniger als ein Viertel der HaitianerInnen an die Urnen. Ähnliches ist auch für den 25. Oktober zu erwarten. Dann will sich der derzeitige Staatschef wieder ins Amt wählen lassen. Ihm wird nachgesagt, er habe sich während seiner Amtszeit eine goldene Nase verdient. Fast drei Millionen US-Dollar soll er für Bauaufträge in Haiti von Unternehmen aus der Dominikanischen Republik kassiert haben. Großzügigkeit zeigt er auf der Ausgabenseite. Bis zu 20 000 US-Dollar ließ er sich pro Tag seine Dienstreisen ins Ausland kosten. Allein davon hätten 20 000 arme HaitianerInnen ihren Lebensunterhalt einen Tag lang bestreiten können.

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