Die industrielle Landwirtschaft ist „der größte Verursacher der globalen Erwärmung und des Klimawandels“ (S.11). Vor diesem Hintergrund interessierten sich 13 Forschungsreisende aus der Solidaritätsbewegung besonders für Alternativen zur agroindustriellen Produktion. Auf ihrer vom Informationsbüro Nicaragua organisierten politischen Rundreise durch Cuba und Nicaragua besuchten sie kleinbäuerliche Vereinigungen und Kooperativen und sprachen mit AktivistInnen und WissenschaftlerInnen. Sie fragten nach strukturellen Schwierigkeiten innerhalb der verschiedenen Produktionsformen, der historischen und aktuellen Dimension des Kooperativenwesens und der Rolle des Staates zwischen Unterstützung von Kleinbauern und Exportorientierung. Herausgekommen ist „Rum oder Gemüse?“, das 16. Nahua-Script des Informationsbüros Nicaragua, welches den LeserInnen einen fundierten Einblick in die aktuelle Landwirtschaft und Ernährungssituation Cubas und Nicaraguas gibt.
„Rum oder Gemüse“, diese Dichotomie beschreibt den Balanceakt, den die Landwirtschaftspolitik in Cuba und Nicaragua zu leisten hat. Rum für den Export, um Devisen zu generieren, oder Gemüse, um die Ernährungssicherheit der Bevölkerung zu unterstützen? Weder das sozialistische Cuba noch das „in den Weltmarkt eingebundene“ (S.7) Nicaragua können im Moment auf eines der beiden verzichten, das zeigt das Buch sehr anschaulich. Der Staat sei demnach „in vielen Bereichen der Agrarpolitik sehr präsent“ (S.15). Dabei werden heutige Bedingungen der Landwirtschaft in beiden Ländern überzeugend in die spezifischen historischen Kontexte eingeordnet. Welchen Einfluss hatten etwa die koloniale Zuckerplantagenwirtschaft und die von Mangelernährung geprägte „Sonderperiode“ in Cuba oder die sandinistische Revolution in Nicaragua auf die aktuelle Landwirtschaftspolitik und Produktionsrealität der Länder?
Von Ernährungssouveränität, also einem Zustand, in dem es „jedem Menschen“ möglich ist, „sich in Würde selbst zu ernähren“ (S.128), seien beide amerikanischen Länder heute noch weit entfernt. Stattdessen sei „die Grundüberzeugung der Regierungen zu sehen, dass sie eine Anziehung von ausländischen Direktinvestitionen und eine Steigerung der Exporte für so wichtig halten, dass sie dabei auch hohe soziale und ökologische Folgekosten in Kauf nehmen“ (S.35). Hierin widerspricht Autorin Anne Tittor der abschließenden Schlussfolgerung von Andrés Schmidt und Klaus Heß, dass Cuba eine „bessere, verantwortlichere Landwirtschaftspolitik macht, verglichen mit der EU oder anderen lateinamerikanischen Ländern“ (S.143).
Diese letzte Folgerung liegt wohl darin begründet, dass die Reisenden ausschließlich Vorzeigeprojekte Cubas kennenlernten und von strukturellen Schwierigkeiten zwar berichten, diese jedoch nicht selbst erfuhren. Die AutorInnen sind überzeugt von der Arbeitsweise der Agrarkooperativen, in denen sich, im Gegensatz zu den großen staatlichen Betrieben, Demokratie und Eigenverantwortung finde. Zudem werde teils aus Not, teils aus Überzeugung zum Großteil mit agrarökologischen Methoden produziert. Mit diesem Modell sei ein Anstieg der Selbstversorgungsquote von aktuell 30 auf bis zu 70 Prozent möglich, für die AutorInnen ein „wichtige[r] Meilenstein auf dem Weg zu Ernährungssouveränität“ (S.82). Hierbei müsse man aber bedenken, dass die Kooperative „kein Allheilmittel“ (S.115) sei, sondern nur dann funktioniere, wenn sie gut organisiert sei und die Mitglieder mit Überzeugung und Engagement partizipieren.
Dies stellten die Reisenden in Nicaragua fest, wo der Kooperativensektor weniger Bedeutung als in Cuba habe und die Politik stattdessen an den großen, Devisen generierenden Betrieben orientiert sei, und das, obwohl Nicaragua das „Potenzial zum Selbstversorger in allen Grundnahrungsmitteln“ (S.128) habe.
Neben wirtschaftlichen Analysen und persönlichen Eindrücken der Reisenden über die verschiedenen Produktionsmodelle in Cuba und Nicaragua kommen in dem Buch auch immer wieder ihre GesprächspartnerInnen zu Wort, ganz im Sinne des erklärten Ziels der deutschen Reisegruppe, „Menschen und Organisationen aus dem Süden eine Stimme zu geben“ (S.9). Sie beziehen unter anderem Stellung zur Rolle und Position marginalisierter Bevölkerungsgruppen in der Landwirtschaft und runden damit diesen Einblick in das agrarpolitische Panorama Cubas und Nicaraguas ab. In ihren Positionen beziehen sich die VerfasserInnen häufig auf Fachliteratur oder zitieren ihre GesprächspartnerInnen aus Cuba und Nicaragua; nur selten bleibt unklar, woher eine Einschätzung rührt.
Die einzelnen Beiträge ergänzen sich sinnvoll, jeder ist jedoch auch für sich allein lesbar. Den AutorInnen gelingt es, die LeserInnen sicher durch den Dschungel aus Abkürzungen und theoretischen Konzepten zu führen. Wir werden beim Lesen gefordert, aber nicht überfordert und erhalten Einblick in das kontrovers diskutierte Thema der Landwirtschaft zwischen Rum und Gemüse. Und schließlich wollen die AutorInnen, dass wir Konsequenzen für unseren Alltag als AktivistInnen und KonsumentInnen ziehen und uns fragen: Wo stehe ich zwischen Rum und Gemüse?
Informationsbüro Nicaragua (Hg.): Rum oder Gemüse? Landwirtschaft in Kuba und Nicaragua zwischen Ernährungssouveränität, Kooperativen und Weltmarkt, nahua script 16, Wuppertal, Oktober 2015, 150 Seiten, 8,- Euro, zu bestellen unter: www.infobuero-nicaragua.org/bestellung/