Bauern stören nur – Naturschutz auf mexikanisch

Mexiko hat seit Beginn dieses Jahrtausends die Ausweitung seiner Naturschutzgebiete (ANP, área natural protegida) forciert und eine relativ umfangreiche Gesetzgebung dazu geschaffen. Neben der Erklärung von Naturschutzgebieten per Regierungsdekret existiert die Möglichkeit, dass „indigene Völker, öffentliche und private und weitere interessierte Personen“ beim Umweltministerium auf Eigeninitiative und freiwillig die Einrichtung eines ANP beantragen. Die Praxis lässt dabei häufig auf eine induzierte Freiwilligkeit schließen. Bei der Überzeugungsarbeit spielt die Nationalbehörde für Naturschutzgebiete (CONANP) eine entscheidende Rolle. Heute sind fast 13 Prozent des mexikanischen Territoriums zu Naturschutzgebieten erklärt. Aufgrund der mit den ANP einhergehenden Nutzungseinschränkungen für die Bevölkerung werden in der Regel Kompensationsprogramme sowie als weiterer Anreiz Zahlungen für Umweltdienstleistungen (PSA) in Zonen, die nicht notwendigerweise zum ANP-Gebiet gehören, in Aussicht gestellt.

Das Konzept der PSA wurde vor knapp zehn Jahren mit Unterstützung der Weltbank in Mexiko eingeführt. Die PSA-Strategien zielen auf die CO2-Bindung, Schutz von Wasserreservoirs, Bewahrung der biologischen Vielfalt und des Landschaftsbildes. In der Regel sind sie mit Einschränkungen oder dem Verbot landwirtschaftlicher Nutzungen sowie weiteren Auflagen verbunden. Mit der Inwertsetzung von Umweltdienstleistungen bereiten die PSA die Markteingliederung der Natur vor. Kommt anfangs noch der Staat für die PSA auf, so ist das mittelfristige Ziel ein Vertrag zwischen Dritten, z.B. einer ihr Wasser schützenden Gemeinde und einem davon profitierenden Minenunternehmen. Vielen bäuerlich-indigenen Gemeinden in Mexiko ist das ein völlig fremdes Vorgehen. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine von der FORD-Stiftung finanzierte und 2002 veröffentliche Studie. Darin heißt es: „Die PSA-Strategien … teilen Merkmale der mexikanischen Politik der Privatisierung und Dezentralisierung öffentlicher Funktionen.“ Ohne Umschweife wird in diesem Zusammenhang auch erwähnt: „Die nationale Politik zielt eindeutig auf die schrittweise Reduzierung der bäuerlichen Bevölkerung.“

Der Fall von Santiago Lachiguiri macht dies anschaulich. Santiago Lachiguiri ist einer von 570 Landkreisen im Bundesstaat Oaxaca. Die BewohnerInnen sind fast ausschließlich Zapoteken. Ihre Vorfahren siedelten sich lange vor der Conquista in der Region an. Höchste Gemeindeautorität ist die Versammlung der comuneros, der stimmberechtigten DorfbewohnerInnen. Die entscheidet alle drei Jahre darüber, wer das Bürgermeisteramt besetzt und wer für die Agrarbelange der Gemeinde zuständig ist. Die fast 26 000 Hektar Fläche des Landkreises sind Gemeindebesitz. Davon besteht ein Großteil aus bergigem und bewaldetem Gelände. Darunter sticht der knapp über 2000 Meter hohe breitrückige Cerro de las Flores hervor, der zu weiten Teilen von Urwald bedeckt ist. Er hat nicht nur große Bedeutung als Wasserspeicher und -filter für die BewohnerInnen von Santiago Lachiguiri, er versorgt außerdem den nahe gelegenen Stausee Benito Juárez. Der wiederum ist für die Bewässerung des Flachlandes am Isthmus von Tehuantepec wichtig. Außerdem beherbergt der Berg eine überaus üppige Flora und Fauna, die Santiago Lachiguiri zu einem der Orte mit der größten Biodiversität in Mexiko macht.

Die Wirtschaft und Kultur der Gemeinde beruht auf dem Mais. Dieser wird vielfach zusammen mit Bohnen, Kürbisfrüchten und Chili in der Regenzeit angebaut. Der Anbau dient in erster Linie der Selbstversorgung. Nicht wenige Familien besitzen auch kleine Kaffeepflanzungen. Der Kaffeeverkauf bringt in guten Zeiten ein Minimum an Geld, um Grundbedürfnisse über die Lebensmittel hinaus zu befriedigen. Dennoch hat die Geldwirtschaft vor allem in den knapp 30 kleinen Siedlungen außerhalb des Hauptortes relativ geringe Bedeutung. Viele Felder und Kaffeeplantagen liegen in den Berghängen, auch im Cerro de las Flores. Auf den von der Gemeinde zugeteilten Bergfeldern, den sogenannten acahuales, praktizieren die Gemeindebauern und –bäuerinnen seit Jahrhunderten eine besondere Form der Brandrodungsbewirtschaftung.

Santiago Lachiguiri war 2002 die erste indigene Gemeinde in Mexiko, die freiwillig die Zertifizierung eines Teils ihres Landes als Schutzgebiet beantragte. Faktisch war es die erwähnte CONANP, die sich den Gemeindeautoritäten näherte und sie dazu überredete. „Sie haben uns viele schöne Dinge erzählt und uns die angeblichen Vorteile ausgemalt”, erzählen die comuneros heute. Unter dem Einfluss ihres kooptierten Präsidenten der Agrarkommission und der von CONANP-Vertretern dargestellten wunderbaren Aussichten, stimmten sie 2003 in einer Gemeindeversammlung dem Antrag auf ein ANP zu. 

Was den comuneros nicht ausdrücklich gesagt wurde, sondern nur klein gedruckt in einem Nebensatz in Dokumenten stand, die sie damals nicht zu Gesicht bekamen: Das Gebiet ihres ANP, ein Areal von fast 1500 Hektar, wurde von einem Tag auf den anderen „unantastbar“. Jegliche produktive Aktivitäten waren damit dort verboten. Der Cerro de las Flores wandelte sich über Nacht in ein Schutzgebiet, in dem Menschen unerwünscht waren. 140 comuneros und ihren Familien war ihre traditionelle Basis für den Lebensunterhalt entzogen. Zudem gab es eine bewusste Irreführung. Die GemeindebäuerInnen glaubten bis 2008, sie hätten für ein auf fünf Jahre befristetes Naturschutzgebiet gestimmt. Tatsächlich galt damals schon ein gesetzlich festgelegtes Minimum von zehn Jahren für die mexikanischen ANP. Der Agrarkommissar von Santiago Lachiguiri beantragte hinter dem Rücken der BewohnerInnen sogar eine unbefristete Gültigkeit. Im offiziellen Zertifikat der CONANP sind 30 Jahre angegeben. Zusätzliche Einschränkungen gab es für ein Areal, für das das Umweltministerium Zahlungen für den Wasserschutz nach der PSA-Strategie versprach. Dieses Geld erreichte die tatsächlich Betroffenen jedoch nie. Es wäre in jedem Fall nur ein Tropfen aus den heißen Stein gewesen.

Das Umweltministerium hatte für die durch das ANP wegfallenden Anbauflächen Ausgleichszahlungen und neue produktive Projekte an anderen Orten in Santiago Lachiguiri zugesagt. Die Kompensationsgelder landeten in verschiedenen Kanälen, nur nicht bei den 140 comuneros. „Das Regierungsgeld diente nur dazu, uns zu streiten”, so bewerten viele Gemeindemitglieder heute diese Episode. Die Geschichte der Alternativprojekte liest sich wie das Hornberger Schießen: So wurde eine Anlage für die Wasserabfüllung angeschafft. Doch der Herstellungsprozess erwies sich als teurer als der erzielbare Flaschenpreis bei den potentiellen Abnehmern. Eine den BewohnerInnen aufgedrängte Pfirsichpflanzung kümmert heute noch vor sich hin. Die Bauern sehen sie im Vergleich mit ihren früheren Maispflanzungen nicht als rentabel an, unter anderem weil sie nun Mais kaufen müssen, den sie vorher für den Eigenbedarf selbst produzierten. Die Gehegezucht von Rehwild für den Fleischkonsum verlief ohne transparenten Geldfluss. Das Gehege wurde bald so vernachlässigt, dass das Wild ohne größere Schwierigkeiten mit einem beherzten Sprung im Cerro de las Flores verschwand. Ein weiteres beliebtes Projekt des mexikanischen Umweltministeriums ist der Ökotourismus nach dem Motto „Gemeindebauern zu Touristenführern“. In Santiago Lachiguiri gab es Gelder für den Bau von zwei Übernachtungshütten in der Siedlung El Porvenir (Die Zukunft), die Einrichtung von Wanderpfaden und die Ausbildung von örtlichen UmweltführerInnen. Doch das Geld endete nicht in den Händen der Gemeinde, sondern in einer von einer früheren Gemeindeautorität gegründeten privaten Vereinigung. Heute sind zwei halb verlassene Hütten und das Schild Welcome to El Porvenir zu besichtigen. 

Mehr als die gescheiterten Projekte, die immer nur einzelne, aber nie die GemeindebäuerInnen als Kollektiv einbezogen, erzürnte die comuneros aber das mit der Waldzerstörung begründete Verbot, ihre seit vielen Generationen bestehenden acahuales im Cerro de las Flores zu bewirtschaften. Don Leoncio Villanueva Domingo, einer der Bauern aus der Siedlung Lachidola, beschreibt die Arbeitsweise auf den ihm zugeteilten 14 Hektar so: „Vor der Regenzeit, die in Lachiguiri normalerweise in der zweiten Maihälfte oder Anfang Juni anfängt, habe ich ein zwei Hektar großes Stück Land für den Maisanbau vorbereitet. Erst habe ich gejätet und geschnitten. Dann die Bäume gefällt und – nach dem Anlegen einer ausreichend breiten Schutzschneise – dieses Areal von zwei Hektar abgebrannt. Bei den ersten Regenfällen habe ich ausgesät und neben Mais auch Kürbis und Bohnen angebaut.” Laut Don Leoncio war die Erde auf seinem acahual immer sehr fruchtbar. Ohne irgendwelchen Chemiedünger einzusetzen, erntete er etwa fünf Monate nach der Aussaat eine Tonne Mais pro Hektar. Es war ein gelber Mais von sehr guter Qualität. Die Ernte reichte, um die Familie zu ernähren und einen kleinen Teil als Überschuss zu verkaufen. Im Folgejahr bearbeitete er ein anderes zwei Hektar großes Grundstück und so fort. Aufgrund dieses Rotationssystems konnte jedes Stück Land sich sechs Jahre erholen. Dank der günstigen Klimabedingungen entstand in dieser Zeit erneut eine üppige Vegetation. Nach dem Mais keimten viele andere Pflanzensamen. Aus den absichtlich hoch gelassenen Stümpfen vieler gefällter Bäume sprossen neue Stämme, die bis zu einem Meter pro Jahr wuchsen. All dies verhinderte die Bodenerosion. Nachdem sein acahual zum Naturschutzgebiet erklärt wurde, musste Don Leoncio Mais bei der staatlichen Behörde CONASUPO kaufen. „Zur zusätzlichen finanziellen Last kam die schlechte Qualität dieses Mais“, erzählt der Bauer. „Wären meine zwei Söhne nicht in die Stadt migriert und würden mich nicht unterstützen, müsste ich die Gemeinde ebenfalls verlassen.“ Der Fall von Don Leoncio wiederholte sich in Nuancen 140 Mal. 

Die BewohnerInnen von Santiago Lachiguiri hatten lange Geduld. Aber als 2008 die vermeintliche Fünfjahresfrist ablief und ihnen immer noch verweigert wurde, auf ihre Parzellen zurückzukehren, war für sie die Schmerzgrenze erreicht. Zudem hatten die comuneros inzwischen neue Gemeindeautoritäten gewählt, auf die sie zählen konnten. Erstmals bekamen sie Einsicht in die Dokumente, auf die sich die Einrichtung der ANP stützte. Dabei tauchten unter anderem drei verschiedene Protokolle der Gemeindeversammlung von 2003 auf, von denen mindestens zwei gefälscht waren. Nach den Erfahrungen mit Projekten und den Zahlungen für Umweltdienstleistungen stellten sich auch die nicht direkt betroffenen comuneros gegen das Naturschutzgebiet. Gleichzeitig erarbeiteten die BewohnerInnen von Santiago Lachiguiri ein Gemeindestatut, in dem sie ihre eigenen Regeln für den Schutz ihres Territoriums aufstellten. 
Das Statut zeugt vom festen Wunsch der Gemeinde, sich als kollektive Einheit zu äußern, die sich ihrer angestammten Rechte als indigene Bevölkerung bewusst ist. Viele Bestimmungen des Statuts zielen darauf ab, zukünftigen Manipulationsversuchen einen Riegel vorzuschieben und auch die eigenen Autoritäten schärfer zu kontrollieren. 

Es gibt klare Regeln zum Schutz der Naturschätze einschließlich der Wasservorkommen in Santiago Lachiguiri. Die Nutzung der acahuales und die Beschränkung auf ihren gegenwärtigen Umfang wird bis ins Detail festgelegt. Gleichzeitig wird dieses System aber auch als eine „Landwirtschaft mit jahrhundertealter Tradition“ wertgeschätzt, „die das Gleichgewicht zwischen Nahrungsmittelproduktion und den Schutz von Berg, Wald und Urwald aufrecht erhält“. Das Statut stellt einem Naturschutz ohne Menschen eine Bewahrung der Natur entgegen, die Platz für BewohnerInnen und BäuerInnen lässt. Für die mexikanischen Behörden ist Santiago Lachiguiri ein gefährlicher Präzedenzfall. Wenn sie die in mehreren Versammlungen bekräftigte Entscheidung akzeptieren, das Naturschutzgebiet Cerro de las Flores aufzuheben, kann dies einen Dominoeffekt in anderen bäuerlich-indigenen Gemeinden mit ähnlicher Problematik produzieren. Dennoch sickerte Ende März durch, dass Umweltministerium und CONANP einen Rückzieher machen und den comuneros recht geben werden. Einer der Hauptgründe scheint die Angst vor einem öffentlichen Prozess an einem Agrargericht zu sein, bei dem die Unregelmäßigkeiten des Falles im Detail ausgebreitet würden. Insofern handelt es sich um ein taktisches Nachgeben. Ein Erfolg für Santiago Lachiguiri, aber sicher kein grundsätzliches Umdenken der mexikanischen Funktionäre.