Vor zwei Jahren erschien die Übersetzung seines Buches über die Organisierung der Aymara in El Alto: Die Zersplitterung der Macht.[fn]Raúl Zibechi: Bolivien – Die Zersplitterung der Macht. Edition Nautilus, Hamburg 2009. Siehe Zusammenfassung in der ila 315 und Besprechung in der ila 327[/fn] Nun liegt „Territorien des Widerstands“ vor, in dem Zibechi quer über den gesamten Kontinent der Frage nachgeht, wie in den Peripherien der großen Städte Lateinamerikas autonome Bewegungen entstehen, die in ihrer Selbstorganisierung Elemente einer anderen Gesellschaft bereits vorwegnehmen. Raúl Zibechi aus Montevideo ist wohl einer der kreativsten Sozialforscher in Südamerika – mit eigener Erfahrung als Militanter und Aktivist, mit großer Nähe zu den Bewegungen und der klaren Überzeugung, dass radikale Veränderung nur von unten kommen kann. Gegen die übliche Sichtweise, dass in den Slums nichts als Elend und Gewalt herrschen, versucht er, die Kämpfe und Selbstorganisierung der Marginalisierten zu entschlüsseln. In Anlehnung an Mike Davis stellt er nicht nur die These auf, dass Slums der entscheidende geopolitische Schauplatz der Zukunft sind, sondern dass sie sich bereits in Gebiete verwandelt haben, in denen die Unterklassen zur Herausforderung für das kapitalistische System und zur Gegenmacht geworden sind. Seit dem Caracazo, dem Aufstand in Venezuela 1989 ist der Widerstand in eine neue Phase von offenen Revolten getreten – u.a. in Quito, Lima, Cochabamba, Buenos Aires, Arequipa, La Paz und Oaxaca. Die ProtagonistInnen kamen aus den Armenvierteln. Folge dieser Bewegungen sind Linksregierungen, die in Lateinamerika seit 1999 in mehreren Ländern die Staatsgeschäfte übernommen haben. Im zweiten Teil des Buches zeigt Zibechi an prägnanten Beispielen auf, wie Linksregierungen und NRO die Bewegungen teilweise wieder ausgebremst haben.
Vor hundert Jahren waren die Städte der Ort der herrschenden Klasse und der Mittelschichten. Heute sind sie von den Unterklassen umzingelt. An den Rändern der Großstädte ist eine Welt entstanden, die ihrer eigenen Logik folgt. Da es hier keine ausgearbeiteten Strategien oder politischen Programme gibt, lässt sich das „historische Projekt“ der Marginalisierten nur im Nachhinein erschließen, indem über einen langen Zeitraum die untergründigen Prozesse hinter den Aktionen untersucht werden. Bei der Analyse „Sozialer Bewegungen“ werden in der Regel eher formale Aspekte berücksichtigt wie Organisations- und Mobilisierungsformen, Herkunft der Mitglieder usw. Der Begriff verstellt den Blick auf die Realität in den Armenvierteln. Zibechi spricht deshalb lieber von „Gesellschaften in Bewegung“ oder „Gesellschaften anderer Art“ (Sociedades otras), um darauf hinzuweisen, dass am Rande der alten bereits eine neue Gesellschaftlichkeit entsteht.
Er beginnt seine Schilderung der selbstverwalteten Armenviertel mit der Rekonstruktion einer Besetzung in Santiago de Chile 1957. Dort nahmen sich 1200 Familien ein 55 Hektar großes Gelände und bauten ihre Siedlung La Victoria. Gleich in der ersten Nacht hielten sie eine Versammlung ab und bildeten Kommissionen, die sich um Bewachung, Subsistenzproduktion und Gesundheit kümmern sollten. Alles wurde im Eigenbau errichtet. Als erste öffentliche Gebäude entstanden ein Gesundheitszentrum und eine Schule, für die jeder Siedler 15 Ziegel beisteuerte. Lehrer unterrichteten kostenlos. Nach zwei Jahren lebten in La Victoria 18 000 Menschen in etwas mehr als 3000 Häusern. Dies war vielleicht die erste organisierte Besetzung in Lateinamerika. Das Modell wurde seitdem immer wieder aufgegriffen, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern. Ende 1972 lebten allein in Santiago 400 000 Personen – fast ein Drittel der Bevölkerung – in solchen Siedlungen. Ähnliche Zahlen wurden in dieser Zeit für andere Großstädte erhoben: Recife (50 Prozent), Río de Janeiro (30), Bogotá (60), Guayaquil (49), Caracas und Lima (40).
In La Victoria zeigen sich bereits die Elemente von Selbstorganisation, die das eigene Projekt der Armenviertel ausmachen. Die Besetzung bricht mit dem Eigentumsprinzip und der Logik der Institutionen. Mit der Aktion verwandeln sich die Ausgeschlossenen in ein soziales und politisches Subjekt. Sie stellen keine Forderungen und lassen sich nicht von Parteien oder Gewerkschaften repräsentieren. Dabei nimmt das „Selbst“ (Selbstbau, Selbstregierung) den Platz der Repräsentation ein. Schon bei diesem Sprung nach vorne spielten Frauen die Hauptrolle – so wie sie Jahre später zu den Hauptakteurinnen der horizontal organisierten Basisbewegungen werden sollten. Dies bringt eine andere Rationalität und eine andere Kultur mit sich, in der Beziehungen wichtiger sind als Dinge und der Gebrauchswert gegenüber dem Tauschwert in den Vordergrund tritt. In ihren eroberten Territorien entwickeln die Armen neue Fähigkeiten. Sie überleben nicht mehr nur von den Resten, sondern beginnen selbst zu produzieren – ohne Chefs und teilweise jenseits des Marktes. Dabei knüpfen sie an indigene Traditionen gemeinschaftlicher Arbeit an. Als Beispiel beschreibt Zibechi die teils subventionierten, teils völlig selbstverwalteten Suppenküchen in Lima, die auf Anregung von Befreiungstheologen gegründet wurden. 2003 gab es fast 5000 solcher Küchen, die täglich eine halbe Million Essensportionen produzieren, von denen nur ein kleiner Teil verkauft wird. Arbeiten für Bekannte statt für den Markt – so dehnt sich die Logik der familiären Fürsorge auf den öffentlichen Raum aus, und es entsteht eine parallele Ökonomie, die mehr ist als eine informelle: Sie schafft als Protestökonomie die Möglichkeit, von dem eigenen Territorium aus dem System zu trotzen.
Einige Beispiele, die Zibechi für nicht-marktförmiges Produzieren anführt, wirken etwas überinterpretiert. Die selbstverwalteten Viertel sind keine autarken Inseln, und das wäre wohl auch kaum wünschenswert für eine Perspektive von Befreiung und gutem Leben für alle. Für die Frage der Umwälzung der Gesamtgesellschaft wäre genau die Verbindung zu den Kämpfen innerhalb der Lohnarbeit wichtig, die aber bei Zibechi gar nicht vorkommt (siehe den Artikel „Industriestandort El Alto“, ila 327, der auf einen ähnlichen blinden Fleck in der „Zersplitterung der Macht“ hinweist). Die Ausgeschlossenen haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, auf der Straße eine enorme Macht zu entfalten und Regierungen zu stürzen. Solange aber neben dem Aufstand die kapitalistische Produktion weiter funktioniert, ist das Kapitalverhältnis noch nicht wirklich in Gefahr. Zibechi geht es darum, auf die Existenz und Stärken der „anderen Gesellschaften“ hinzuweisen, die vom Kapital mehr oder weniger abgekoppelt sind. Und im Rückblick stellt er den Zusammenhang zur Lohnarbeit sehr wohl her: Er verweist darauf, dass die Schiffbrüchigen des Systems keine passiven Opfer sind, da die ArbeiterInnen den Schiffbruch selbst provoziert haben. In Kämpfen wie dem Cordobazo (siehe ila 325) haben sie die entfremdete Arbeit infrage gestellt. Sie sind vom Schiff des Arbeit-Kapital-Verhältnisses geflohen, und auf den Trümmern dieses Schiffes beginnen ihre Kinder nun, etwas Neues aufzubauen. Wie deren Kämpfe mit denen derjenigen zusammenkommen können, die noch auf den letzten Galeeren arbeiten, wird eine praktische Frage für uns alle sein.
Die Selbstorganisierung der Armen wird von den Herrschenden durchaus als Bedrohung wahrgenommen und bekämpft. Nach dem Pinochet-Putsch in Chile 1973 wurden die selbstgebauten Campamentos zerstört, und die Umsiedlung von Menschen aus selbstorganisierten Siedlungen ging danach in der Demokratie weiter. In den Aufständen seit 1989 wurde klar, dass Repression und Ausnahmezustand nicht mehr ausreichen, die Armen in Schach zu halten. Ein Kapitel des Buches beschäftigt sich mit der „Kunst, die Bewegungen zu regieren“. Während in den Anden eher auf Entwicklungszusammenarbeit gesetzt wird, um die Bewegungen zu vereinnahmen, betreiben Argentinien und Uruguay eine Armutspolitik, die gezielt in die Territorien der Marginalisierten interveniert. Am Beispiel von Ecuador wird der zersetzende Einfluss von NRO ausführlich dargestellt: Sie fördern die klientelistische Logik und erzeugen eine Schicht von Anführer-Funktionären, die sich nicht mehr durch Militanz auszeichnen, sondern vor allem durch die Fähigkeit, Gelder zu akquirieren. Diese Technokraten bereiten den Weg für die Integration der Bewegung in staatliche Institutionen.
In Uruguay wurde unter der Regierung der Frente Amplio ein Programm für arme Stadtteile aufgelegt, bei dem lokale Institutionen, Vereine und Bevölkerung bei der Verteilung von Mitteln mitreden dürfen (SOCAT). Am Beispiel des Stadtteils Barros Blancos, in dem vor allem Familien wohnen, die sich nach Fabrikschließungen und Arbeitslosigkeit die Wohnungen im Zentrum Montevideos nicht mehr leisten können, werden die Auswirkungen beschrieben. Indem der Staat an Methoden und Verhaltensweisen der Bewegungen anknüpft, verschafft er sich eine neue Legitimität. Linksregierungen sind wesentlich besser als andere in der Lage, die Bewegungen zu entwaffnen und ihres antikapitalistischen Charakters zu berauben.
Die „Gesellschaften in Bewegung“, die den Linksregierungen in Lateinamerika auf ihre Posten verholfen haben, sind heute in der Defensive. Aber mit ihren Versuchen, nicht-kapitalistische Beziehungen aufzubauen, zeigen sie, dass ein anderes Leben möglich ist. Ihre Erfahrungen sind Bausteine für eine andere Gesellschaft. Und die von ihnen eroberten Territorien haben beträchtliche Ausmaße. In Brasilien haben die Landlosen innerhalb von 27 Jahren 22 Millionen Hektar Land besetzt, eine Fläche von der Größe mehrerer europäischer Länder. Mit den in diesem Buch beschriebenen „Gesellschaften anderer Art“ wird in den nächsten Jahren zu rechnen sein. Zibechis Buch ist ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Debatte um Aufstände und Revolution.
Raúl Zibechi: Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherien Lateinamerikas, Übersetzung: Kirsten Achtelik und Huberta von Wangenheim, Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2011, 176 Seiten, 16,- Euro