Beethoven trifft Villa-Lobos im Bahnhof

Seit 1997 ist John Neschling Dirigent des Sinfonieorchesters von São Paulo, hat eine regelrechte Klassik-Kulturrevolution ausgelöst – durch ihn besitzt Lateinamerika erstmals ein Orchester von Weltgeltung, internationalem Niveau, das bereits in den zwanzig besten Konzertsälen der USA, in Deutschland und der Schweiz auftrat. Kurt Masur ist alle zwei Jahre Gastdirigent. Alle anderen Klangkörper Brasiliens, Lateinamerikas müssen sich an Neschlings Orchester messen lassen – das gab einen enormen Qualitätsschub. Weltbürger Neschling, der in Rio de Janeiro geboren wurde, verbesserte durch seine leidenschaftliche Arbeit gleichzeitig das Image von São Paulo enorm, festigte deren Ruf als mit großem Abstand führende Kulturhauptstadt Brasiliens. Die kulturelle Dekadenz Rio de Janeiros ist deshalb noch weit schmerzhafter spürbar. Neschling verblüfft jedes Jahr mit neuen Initiativen, Projekten, noch mehr Konzerten – durch ihn bekam klassische Musik in den Medien so viel Raum wie selten zuvor.

Im alten, palastartigen Bahnhof von Sao Paulo spielt sich unverkennbar ein Sinfonieorchester ein. Hinten fahren Züge ab, vorne in der Bahnhofshalle tritt John Neschling ans Pult. Die Halle – man muss es sehen und vor allem hören – wurde aufwendig umgebaut, zählt heute zu den besten Konzertsälen der Welt, mit hervorragender Akustik. Neschling hebt den Taktstock – für ihn und das Orchestra Sinfónica do Estado de São Paulo/OSESP sozusagen ein historischer Moment. Erstmals nimmt ein lateinamerikanisches Orchester für eine große europäische Plattenfirma Sinfonien brasilianischer Komponisten auf – inzwischen sind die ersten auch in den deutschen Läden. Noch 1997, als Neschling nach São Paulo kam, völlig undenkbar. „Als ich berufen wurde, stellte ich eine ganze Serie von Forderungen, war überzeugt, die werden nie akzeptiert. Schließlich verlangte ich einen Konzertsaal nur für das Orchester. Denn den gab es bisher nicht, die Musiker verdienten schlecht, die Arbeitsbedingungen unter jeder Kritik. Und das in São Paulo, Lateinamerikas wichtigster Stadt. Und außerdem – es gab überhaupt keine Nachfrage nach einem lateinamerikanischen Orchester in Europa oder Amerika, man hielt die hiesigen für absolut zweitrangig.“ Doch Neschling, Sohn österreichischer Juden, die 1938 vor den Nazis nach Rio flüchteten, hatte Glück – einflußreiche Leute der Regierung des Bundesstaates São Paulo wollten ein ordentliches Sinfonieorchester, und sei es aus Gründen des Imagegewinns. „Ich bin überzeugt, diese Politiker hatten keine Ahnung, wie weit das führen kann – wenn man so einen Elefanten erst einmal zum Traben bringt.“ An die 80 Leute saßen zuvor nur im Konzert – weniger als oben im Orchester. Längst vorbei. Heute ist Neschlings OSESP ein Hit, hat über 10 000 AbonnentInnen, man muss sich sehr rechtzeitig um Karten kümmern, wie bei Popstars. „Wir sind jetzt über dreihundert Leute, die in diesem Projekt, dieser ,Fabrik’ arbeiten. Die internationalen Plattenfirmen laufen uns nach.“ Neschling holt zudem jährlich an die 18 000 Kinder in den Bahnhof, führt sie an die Musica erudita heran – ebenfalls bisher einmalig.

Jedes Konzert muss mindestens dreimal wiederholt werden, der Saal ist stets ausverkauft. Neschling sprudelt vor Energie, Temperament, Willen, Ehrgeiz – stellt an sich, aber auch an die Musiker höchste Ansprüche. In einem Land des Laissez-faire nennt ihn deshalb die Presse den „Maestro mit der eisernen Hand“, autoritär, gefürchtet. „Die Musiker mussten sich auf meine Arbeitsweise einstellen – deswegen kam es zu Konflikten. Denn ich habe das Orchester wirklich umgekrempelt, über die Hälfte entlassen, die Hälfte neu berufen. Klar, es wird einfach mittelmäßig, wenn einer weiß, die nächsten vierzig Jahre garantiert am vierten Pult der Violinen zu sitzen. Künstler müssen jedes Jahr beweisen, dass sie wirklich gut sind, bei jedem Konzert. Man sagt ja auch im Theater, in der Oper, das Stück sei so gut wie der schlechteste Schauspieler. Aber soziale Sicherheit muss da sein – jemanden von einem Tag auf den anderen auf die Straße setzen, das geht nicht“, betont er im Interview.

Neschling, in Rio, Wien, den USA aufgewachsen, musste einen Teufelskreis durchbrechen – sozusagen erst einmal das Ausland von der OSESP-Qualität überzeugen, um dann auch von den Brasilianern akzeptiert zu werden. Durch ihn verdienen die Musiker heute das Dreifache – umgerechnet über 2500 Euro – im Billiglohnland Brasilien ein hervorragendes Gehalt. Auch Neschling verdient nicht schlecht, ähnlich wie Dirigenten in Europa. Der Erfolg schuf ihm Feinde und Neider, die keinen Pelé oder Ronaldo, keine Popstars oder Banker wegen ihrer Jahres-Millionen attackieren würden – aber gegen Neschling wegen dessen vergleichsweise harmlosen Salärs eine üble Medienkampagne starteten. Ohne Erfolg. Nur ein Orchester leiten? Das ist jemandem wie Neschling zu wenig: Er gründete eine Musikakademie für den Nachwuchs, einen sinfonischen und einen Kinderchor, einen Verlag, ein Dokumentationszentrum – alles lebte auf in einem völlig heruntergekommenen alten Stadtteil, macht ihn wieder attraktiv. „Die meisten Top-Musiker Brasiliens sind schon bei uns – viele, die in erstklassigen Orchestern Nordamerikas und Europas spielten, weil in Brasilien für sie kein Platz war, kamen zurück, spielen jetzt im OSESP.“

Hat sein Orchester eine typisch brasilianische Klangfarbe?„Nur wenn wir brasilianische Musik spielen wär’s schlecht. Andererseits muss ein gutes Orchester eine eigene Klangfarbe haben – und entwickeln: Die Streicher sind manchmal dunkler, manchmal heller oder virtuoser, wärmer oder unterkühlt. Die Bläser eher amerikanisch, europäisch, mit präziserem Einsatz, oder eher französisch oder deutsch – das gibt’s alles. Ich möchte ein Orchester aufbauen, das sozusagen die besten Qualitäten aller Länder hat, den warmen Klang der Wiener oder Leipziger Streicher, aber mit der Virtuosität der Chicagoer – dazu eher amerikanisches Blech, aber mit der Weichheit des deutschen. Doch das Schlagzeug muss brasilianisch sein, sehr brasilianisch.“ Er, der Weltbürger, legt sich für die selbst im eigenen Land verkannten, missachteten brasilianischen Komponisten – wie Claudio Santoro oder Francisco Mignone ins Zeug. Ein Camargo Guarnieri habe dieselbe Qualität wie Prokoffiew oder Hindemith oder Schostakowitsch. „Nur kennt kein Mensch Camargo Guarnieri!“, ärgert er sich heftig. 

Schon die Mitte-Rechts-Regierung des Staatschefs und FU-Berlin-Ehrendoktors Fernando Henrique Cardoso kritisierte er seinerzeit wegen ihrer mediokren Kulturpolitik. „Brasiliens Kulturministerium ist eigentlich inexistent – ohne Idee, Ideologie, Geld wird aus dem Fenster geworfen.“ Und die Lula-Regierung bat er vergeblich, wenigstens einen Teil der allerersten OSESP-Tournee 2004 durch ganz Brasilien zu finanzieren. Die Tournee war für das Orchester direkt triumphal – nie zuvor hatte man bei Sinfonieorchestern solche Beifallsstürme erlebt. In Rio direkt peinlich für das dortige provinzielle Sinfonieorchester, das manche vor dem OSESP-Auftritt für ganz achtbar gehalten hatten. Neschling erlitt anfangs dasselbe Drama wie Musiker, Komponisten, Bands der Música Popular Brasileira, die von den eigenen Leuten zuhause, Betonköpfen, engstirnigen Managern, der laut Chico Buarque „kulturlosen Elite“ blockiert werden, keinen Rückenwind, keine Unterstützung bekommen – etwa für Auslandsauftritte, die Brasiliens Ansehen als Musiksupermacht nützen würden. So viele Musiker und Komponisten, die keine Lobby haben. „Meine Idee, Absicht ist, diese Lobby jetzt zu schaffen – Platten brasilianischer Komponisten aufzunehmen, brasilianische Orchester in die ganze Welt zu schicken.“ An Auslandserfahrung mangelt es Neschling wahrlich nicht, er dirigierte – und dirigiert – in Berlin, Hamburg, Lübeck, Stuttgart, Bonn, Rom, Neapel, Palermo, Wien, Genf, Bordeaux, Washington, ob als Gast oder fest engagiert.

Brasilien, annähernd so groß wie Europa, sehr widersprüchlich. Dreizehnte Wirtschaftsnation, aber noch Teil der Dritten Welt, enorme regionale Unterschiede. Misere wie in Afrika und sogar noch Sklaverei. Doppelt so viele Einwohner wie Deutschland, immerhin jene über 130 Sinfonieorchester – doch 95 davon und fast alle nennenswerten Konzerte im Südosten, in den Teilstaaten São Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro. Dort stehen die meisten Fabriken, Banken, Hospitäler, dort wohnt die zahlungskräftige Mittel- und Oberschicht, die Klassik-CDs kauft, sich die besten Orchester des Auslands holt. Da kostet die billigste Karte umgerechnet 40 Euro – mehr, als fünfzig Millionen Brasilianer im Monat verdienen. Anders bei John Neschling. Er setzte bei der Brundesstaatsregierung durch, dass die meisten OSESP-Karten höchstens umgerechnet fünf Euro kosten, die teuersten 15 Euro. Neschlings Publikum ist absolut nicht elitär, sogar Leute aus den Slums sind darunter. „Ich meine, in Brasilien ist es heute politisch wichtig, dass ein Großteil der Bevölkerung diese Musik hören kann, die er nie hörte. Mein Saal ist heute der demokratischste in Südamerika. Es kommen alle, wirklich alle Klassen, und hören alle den Kurt Masur hier für ein Zehntel des Preises von New York. Das ist mir wichtig, das habe ich als Bedingung gestellt.“ Wie reagiert das Publikum, anders als in Europa, in Deutschland? „Ich spüre, dass es hier vielleicht aufrichtiger reagiert als woanders – manchmal überreagiert, manchmal zu enthusiastisch, auch wenn die Qualität nicht so gut ist. Man weiß noch nicht ganz genau, was phantastisch ist und was nicht. Vor jedem Konzert spreche ich ja zum Publikum, erzähle n’ bisschen die Geschichte der Musik, die wir spielen, und auch die des Orchesters. Das hat einen Riesenerfolg hier, die Leute fühlen sich als Teil der Orchester-Familie, sagen ‚unsere’ Musiker“. Seit Neschling, man sieht’s auch in den Medien, ist klassische Musik auf einmal ein Thema in Brasilien, wird zunehmend höher bewertet. 

Deutsche Komponisten von heute, zu Gast in Brasilien, waren geschockt über den unglaublichen Krach in Brasiliens Städten – dazu die Billigstpopmusik in Supermärkten, Aufzügen. Das nervt auch Neschling: „95 Prozent von dem, was wir täglich hören müssen, ist Scheiße. Sogar in Neapel, ich hab’s gerade erlebt, hat die Präfektur überall Lautsprecher angebracht, spielt nur Schweinemusik, einfach furchtbar.“ Das heißt keinesfalls, dass Neschling, wie im Elfenbeinturm, nur Klassisches erträgt und akzeptiert. Immerhin komponiert er seit Jahrzehnten Filmmusik, sogar für Brasiliens hochpopuläre allabendliche Telenovelas, mag Jazz und natürlich besten Samba, von Chico Buarque, Edu Lobo, Ivan Lins, Guinga. Und bringt es fertig, seine Musiker einen ganzen Abend lang nur Samba, Bossa Nova und Karnevalsmusik, in eigenem, vorzüglichsten Orchesterarrangement spielen zu lassen, dass der Bahnhof in Schwingungen gerät. Natürlich muß Chico Buarques „Würdigung eines Gauners“ mit dabei sein – Anspielung auf die politischen Zustände von heute – auf tiefkorrupte Kongressabgeordnete, Regierungspolitiker, Kandidaten, Polizisten, Unternehmer… Über letztere Klasse hat sich Neschling schwarz geärgert. Zum ersten Mal für Brasilien wollte er Wagners „Ring“ sinfonisch aufführen, fand jedoch nicht einen einzigen Sponsor: „Eine Schande für das nationale Unternehmertum – ich musste das Projekt notgedrungen wieder abblasen. Ich habe auch bei allen großen deutschen Firmen hier angeklopft, die in Brasilien immerhin Vermögen verdienen – keine hat mir auch nur einen Pfennig gegeben. Das ist die Kultur der Mittelmäßigkeit.“ Neschling weicht offenem Streit nicht aus, legt sich an, sagt ganz erfrischend und notfalls herrlich politisch unkorrekt, was er denkt – hängt an seiner Idee: „Brasilien ist so ein unglaublich musikalisches, so unglaublich talentiertes Land – und verdient es einfach, eines der größten Orchester zu haben!“