Befreiung durch Schreiben

Sie sind im Oktober 1932 zusammen mit Ihrem späteren Mann Erwin Walter Palm nach Italien emigriert. Was waren die Hintergründe Ihres Weggangs aus Deutschland?

Es ist vielleicht falsch zu sagen, daß wir emigriert sind. Wir haben sozusagen ein Exil auf Probe gemacht. Die Hintergründe waren ganz einfach: Als Sozialdemokratin, als politisch interessierter Mensch, rechnete ich damit, daß die Nazis an die Macht kommen würden. Ich konnte mir vorstellen, daß Hitler das, was er in „Mein Kampf“ geschrieben hatte, auch  ausführen würde. Daher hatte ich den Wunsch, wegzugehen und woanders zu studieren, um mich dem nicht auszusetzen. Mit meinen Befürchtungen war ich allerdings eine Einzelgängerin. Fast niemand glaubte mir, und man nannte mich  „Kassandra“.

Nach Italien überzusiedeln war zunächst gar nicht geplant. Mein Mann und ich hatten von unseren Eltern die Erlaubnis bekommen, in die Schweiz zu gehen und dort zu studieren. In den Sommersemesterferien des Jahres 1932 sind wir in die Schweiz gefahren. Am Vierwaldstätter See sahen wir den Gotthard-Express vorbeifahren, und da dachte ich, wenn wir schon in ein Exil gehen, dann laß uns in Erwins Arbeitsgebiet gehen – er war klassischer Archäologe und besonders an Rom interessiert. Das schlugen wir meinen Eltern nach unserer Rückkehr nach Deutschland vor. Rom war damals unendlich weit weg. Wir bekamen Unglaubliches darüber zu hören. Etwa, wir könnten nicht hinfahren, weil dort mit Öl gekocht würde und uns das nicht bekäme. Wenn man bedenkt, welche Fluchtgeschichten die Menschen hinterher hatten. Da ist es heute eine komische Vorstellung, daß man 1932 noch dachte, fritiertes Essen würde einem nicht bekommen! Aber unsere Eltern waren schließlich einverstanden, und wir sind zum Wintersemester 1932 nach Rom gefahren.

Zu dieser Zeit war in Italien Mussolini schon an der Macht…

…schon lange. Infolgedessen habe ich mich auch abgewandt vom Studium der Gegenwartsgeschichte, habe über Staatstheorie der Renaissance gearbeitet und über „Pontanus als Vorläufer von Macchiavelli“ promoviert.

Es muß doch trotzdem für Sie als aufgeklärt freigeistigem Menschen kein Klima gewesen sein, in dem man sich wohlfühlen konnte.

Nun, die Italiener sind ja nicht die Deutschen. Nehmen Sie mal einen ganz konkreten Fall. Ich habe bei Armando Sapori in Florenz promoviert. Einmal bin ich mit einer französischen Zeitung unter dem Arm zu ihm hin. Da bat Sapori mich, nicht mehr mit einer französischen Zeitung zu kommen, weil die Portiersfrauen mehr oder weniger im Sold der Polizei stünden und er Unannehmlichkeiten befürchte. Das war mal so eine ganz kleine Sache. Aber wenn man sich nicht um Politik kümmerte, hatte man seine Ruhe. Daher sagten wir uns berechtigter- oder unberechtigterweise: wir leben nicht in diesem Rom der Gegenwart, sondern wir leben im Rom von Jakob Burckhard und Gregorius. Somit befaßten wir uns mit der Antike, mit der Renaissance und dem Barock, und nicht mit Mussolini und der Gegenwart.

Die Unterdrückung war auch nicht so brutal und unerbittlich wie in Nazideutschland. Ich finde es falsch, daß man die Nazis immer als Faschisten bezeichnet. Der Faschismus war zwar als Gesellschaftsstruktur vergleichbar, aber praktisch etwas ganz anderes.

Wenn beispielsweise Studenten, die Mitglieder der faschistischen Partei waren, in irgendeiner Weise rebellisch waren und etwas sagten oder schrieben, was nicht paßte, wurden sie dadurch bestraft, daß sie sich eine Woche lang abends zwischen acht und neun im Palazzo Braschi einschreiben mußten. Der Palazzo Braschi war die Parteizentrale der Faschisten. Das heißt, eine Woche lang konnten sie nicht ins Kino. In Nazideutschland hätte man Studenten sicher nicht damit bestraft, daß sie eine Woche nicht ins Kino gehen konnten.

Wir wären von uns aus nie aus Italien fortgegangen. Mein Mann war ein begeisterter Römer, für ihn war Rom die Sache. Wir hatten beide promoviert und hätten Lehrer werden können, aber das wurde sehr schlecht bezahlt und bedeutete Versetzung aus Rom. Also lebten wir davon, daß ich Deutschunterricht gab. Damals lernten viele Italiener Deutsch. Ich war jung und hübsch und hatte immer mehr Schüler, als ich haben konnte. Denn die Italiener sind nicht so stetig, sie springen schnell ab, und wenn man davon leben will, mußte man immer ein paar Schüler „in Reserve“ haben. Ich gab oft von halb neun Uhr morgens bis halb neun Uhr abends Deutschunterricht. Eine Dozentur der Universität Florenz schlug ich aus, da mein Mann – mein späterer Mann, wir waren ja noch nicht verheiratet – in Rom weiter über römische Kunst auf dem Hintergrund der römischen Mythologie arbeiten wollte.

Sie haben  promoviert, schlugen aber keine wissenschaftliche Laufbahn ein, sondern waren die Mitarbeiterin Ihres Mannes und besorgten den Broterwerb. Ist es Ihnen nicht schwergefallen, auf Ihre eigene wissenschaftliche Karriere zu verzichten?

Ich dachte damals, Erwin würde sehr schnell berühmt und meine Arbeit sei ein Provisorium. Ich wollte ein paar Jahre lang das Mögliche tun, damit er berühmt würde und schreiben könnte, was er wolle. Ich wollte meinen Teil hinterher nachholen. Natürlich tat ich manches nicht mit Begeisterung, aber im ganzen war ich glücklich, ihm helfen zu können.

Sie haben im Februar 1939 Italien verlassen und sind nach England gegangen. Warum sind Sie aus Italien weggegangen bzw. mußten Sie aus Italien weggehen?

Ganz recht, wir mußten aus Italien weggehen. Die Zusammenarbeit zwischen Hitler und Mussolini wurde immer enger. Anfangs war das Verhältnis zwischen dem faschistischen Italien und dem nazistischen Deutschland ein sehr kritisches, wegen der Südtirol-Frage. Dann machten sie einen Handel. Die Nazis erkannten die Zugehörigkeit Südtirols zu Italien an, Mussolini machte als Gegenleistung antisemitische Politik. So wurden z.B. die deutschen Flüchtlinge ausgewiesen. Wer einen Paß hatte, hatte ein halbes Jahr Zeit, wer keinen Paß hatte, hatte nur acht oder zehn Tage, um Italien zu verlassen. Da meine Eltern in England waren und zwei Schwestern meiner Mutter mit Engländern verheiratet waren, hatten wir die Möglichkeit, ein englisches Visum zu bekommen. Damals gaben die Engländer eigentlich nur Visa für Kinder oder für ganz alte Leute. Junge Menschen  wie wir, bekamen sehr selten ein Visum. Erich Fried kam noch mit dem Kindertransport, obwohl er schon 15, 16 Jahre alt war.

Kaum hatten wir das Visum, schickten uns meine Eltern Bücher der Dichter Keats und Shelley. Wir haben uns immer Gedichte lesend in die neuen Sprachen eingearbeitet.

In England blieben Sie damals nur etwas mehr als ein Jahr. Im Juli 1940 siedelten Sie in die Dominikanische Republik über. Damals versuchten alle Emigranten, die im unbesetzten Teil von Frankreich waren, zu emigrieren, nach Nord- oder Südamerika zu kommen…

…verzeihen Sie, sie versuchten zu fliehen, „emigrieren“ ist ein zu freundliches Wort. Die Leute in Frankreich flohen vor den Nazis. Und manchmal schafften sie es nicht und wurden nach Auschwitz etc. deportiert…

…aber aus dem relativ „sicheren“ England flohen doch vergleichsweise wenige Leute in Richtung Amerika?

Nein, es gingen relativ viele Flüchtlinge von England weg. Man glaubte, Hitler würde eine Invasion machen. Daher wurden damals sogar die Straßenschilder abmontiert. Im Juni/Juli 1940 standen die Schulkinder auf den Landstraßen und zeigten den Bussen und Autos die Richtung an. Auch die U-Bahn-Stationen hatten keine Schilder mehr. Bedrohte Menschen, wie z.B. wir, bekamen von den Ärzten Veronal, damit sie in der Lage wären, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, anstatt den Nazis in die Hände zu fallen. In dieser Situation war es der Wunsch von vielen, England zu verlassen.

Wie kam es dazu, daß Sie gerade in die Dominikanische Republik flohen?

Relativ einfach. Ich ging von Konsulat zu Konsulat, um ein Visum zu bekommen. Im Konsulat von Guatemala sagte man mir z.B., die Einwanderung von Ingenieuren, Technikern usw. sei erwünscht, Geisteswissenschaftler seien nicht  gefragt. Nach Chile, Brasilien oder Argentinien, oder auch nach Kanada, konnte man gehen, wenn man soundsoviel tausend Dollar hatte, aber die hatten wir nicht. Die Dominikanische Republik stellte keine derartigen Anforderungen. Hinzu kam, daß ich mich mit dem dominikanischen Vizekonsul, einem Schriftsteller, anfreundete. Wir gingen zusammen spazieren, er erzählte mir dabei von seinem Roman. Durch diese persönliche Freundschaft, die übrigens auch später bestehen blieb, bekam ich das Visum. Über die Dominikanische Republik wußte ich zu diesem Zeitpunkt kaum etwas, nur das, was in der British Encyclopedia stand.

Die Dominikanische Republik bot für eine promovierte Philosophin und einen promovierten Altphilologen bzw. klassischen Archäologen sicher nicht allzuviele Arbeitsmöglichkeiten, zumindest nicht in der ersten Zeit. Wovon haben Sie anfangs dort gelebt.

Meine Eltern hatten uns etwas Geld mitgegeben. Zudem hofften wir anfangs auf eine Überweisung einer minimalen Summe von 2000-3000 US-$ durch meine Eltern an die New York-Citybank-Filiale in der Dominikanischen Republik. Doch in der Bank hieß es dann: „Against Valid Passport“, d.h. die Bank wollte zur Auszahlung unseren Paß einziehen. Da wir das nicht taten, bekamen wir das Geld nicht. Damit wurde die Lage sehr kompliziert. Aber ich bin ein sehr aktiver Mensch. Ich mietete ein kleines Haus mit vier Zimmern und vermietete die Hälfte an einen US-amerikanischen Studenten und seine Frau so unter, daß man gemeinsam essen konnte.

Dann begann der Palm sehr schnell, sich mit dominikanischen Baudenkmälern zu befassen. Zwar hatte er zuerst zu nichts Lust, weil es dort nichts Römisches gab. Doch eines Tages stellte er fest, daß die frühen kolonialen Häuser denselben Atrium-Hausplan wie die Häuser in Pompeji haben. Dann ging er von Haus zu Haus und untersuchte, ob und wieviele Bauten nach dem alten römischen Hausplan, der über Spanien in die Neue Welt eingewandert ist, errichtet wurden. Daraus resultierte seine erste Veröffentlichung – vermutlich auf Englisch: „Das Atrium-Haus in der Neuen Welt“. Die Brücke vom Italienischen zum Iberoamerikanischen war geschlagen. Später stellte er z.B. fest, daß ein alter Schuppen, in dem am Hafen Baumaterialien gelagert wurden, das Arsenal war, von wo aus die Welser Venezuela eroberten. Palm übte eine unvorhergesehene Pioniertätigkeit aus, was die alte Architektur dort betraf – nie zuvor war ein Kunsthistoriker dort gewesen. Veröffentlichungen in Zeitschriften der Vereinigten Staaten, in England, aber auch in Argentinien folgten, Palm bekam sehr schnell einen Namen in ganz Lateinamerika. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, wo alles so bearbeitet ist: Damals beschäftigten sich nur vier oder fünf Gelehrte damit, die iberoamerikanische Architektur- und Kulturgeschichte in die europäische Entwicklung einzupassen. Diese Leute haben sich natürlich untereinander befreundet. Es gab einen Argenti­nier in Buenos Aires, jemanden in Mexico, zwei Leute in den Vereinigten Staaten, natürlich den ein oder anderen Spanier und Erwin, insgesamt nicht mehr als fünf oder sechs Wissenschaftler, die untereinander in sehr lebhaftem Austausch standen.

Wie finanzierte er seine Arbeit? Bekam er Stipendien?

Nein, Stipendien bekam er keine. Aber er begann sehr schnell – ich glaube, wir waren noch keine drei, vier Monate da –, Vorlesungen zu halten. Heikel war, daß er sie auf Spanisch halten mußte. Wir waren natürlich an Italienisch gewöhnt. Daher korrigierte ich seine Vorlesungsmanuskripte zusammen mit einer Spanierin. Eine Stunde Sprechen bedeutete 20 Stunden Arbeit. Ich ermöglichte damit, daß er Vorlesungen halten konnte. Seine Vorlesungen waren glücklicherweise relativ gut besucht. Bei weniger als 10 oder 15 anwesenden Hörern bekam man kein Honorar. Es wurde pro Stunde bezahlt. Das war schrecklich: Wer krank war, bekam nichts.

Dann hatten wir noch irgendwelche Verwandte meiner Eltern in den Vereinigten Staaten, die zu Zeiten meiner Großeltern dorthin ausgewandert waren. Sie schickten uns mehrmals ein Couvert mit zehn Dollar. Das half uns eine Zeitlang, bis mein Mann richtig bezahlt wurde. Die Spanier – für die war es ja wegen der Sprache leichter – kamen oft als Beamte in irgendwelchen Behörden unter, aber das kam für meinen Mann als nichtspanischen Muttersprachler nicht in Frage. Später wurde er aber Denkmalschützer der Dominikanischen Republik. Nach österreichichem Vorbild arbeitete er die Denkmalschutzgesetzgebung der Dominikanischen Republik aus, die heute noch gilt.

Ich bearbeitete und übersetzte Erwins Arbeiten – egal in welcher Sprache sie erschienen. Außerdem machte und entwickelte ich die Fotos. Im Badezimmer richtete ich einen Vergrößerungsapparat ein. Er bestand aus einem Gasrohr, daran hing ein Eimer, darunter ein Fotoapparat.

Fotografieren lernte ich bei einem dortigen Paßfotografen, der so nett war, es mir beizubringen. So konnte ich die ganze Bebilderung aller Artikel meines Mannes, später auch seines Buches machen. Ich tippte auch alle seine Manuskripte, denn wir hatten keinen Sekretär. Ich war, wie ich sagte, die Bodenmannschaft seines Flugzeugs. Nach dem Krieg bekam ich dann eine Dozentur für Deutsch an der Universität.

In der Dominikanischen Republik herrschte in den 30er, 40er und 50er Jahren mit Rafael Trujillo Molina ein äußerst gefürchteter Diktator, der sowohl seine politischen Gegner verfolgte als auch mehr als zehntausend Haitianer und Haitianerinnen ermorden ließ…

…die Haitianer und die Dominikaner waren verfeindet. Das eine Land hat eine spanische Tradition, und Haiti steht in französischer Tradition. Die Feindschaft ist aber keine der Hautfarbe, wie man sich heute vorstellt. Vielmehr gab es eine Art Kriegssituation. Haiti hatte auch einmal Santo Domingo besetzt. Zu unserer Zeit hatte die Spannung schon nachgelassen. Zu unserer Zeit wurden keine zehntausend Leute umgebracht, alles war entweder vorher oder nach unserem Weggehen.

Das große Massaker an den Haitianern war 1937…

…es muß 1937 oder 38 gewesen sein. Als wir 1940 ankamen, da war das alles sozusagen vorbei. Zu unserer Zeit bzw. als wir schon weg waren, ist einer unserer dominikanischen Freunde, ein Arzt, umgekommen. Er hatte Besuch von Freunden aus den USA und hat ihnen wohl irgendwelche Geheimnisse über die physische Befindlichkeit des Diktators erzählt. Dieser Mann wurde wenig später tot – in seinem Auto sitzend – aus dem Hafenbecken gefischt. Er war nicht aufgedunsen, was besagt, daß er schon tot war, als er ins Wasser reingefahren wurde.

Wie war Ihre eigene Situation in der Dominikanischen Republik? In Ihrem Text „Meine Wohnungen“ beschreiben Sie u.a. den Besuch Emil Ludwigs in Santo Domingo. Nach diesem Bericht scheinen Sie und Ihr Mann auch Angst vor dem Unterdrückungsapparat der Trujillo-Diktatur gehabt zu haben?

Ganz sicher. Wir hatten Angst, daß Emil Ludwig vielleicht unerfreuliche Sachen erzählen würde. Wir, Erwin und ich, waren ihm als offzielle Begleitung zugeordnet. Er war auf Einladung der dominikanischen Regierung da und fuhr im Wagen Nr. 1, dem Wagen des Präsidenten, durch die Republik. Trujillo hoffte – ebenso wie der cubanische Diktator Batista –, daß Emil Ludwig eine Biographie über ihn schreiben würde. Ludwig war ein Autor, der vor allem durch seine Biographien über wichtige Personen der Zeitgeschichte bekannt war. Aber Ludwig hat weder über den Cubaner noch über Trujillo geschrieben, und für uns, die ihm offiziell beigegeben waren, war es eine heikle Sache, daß er abreiste, ohne sich für eine Biographie von Trujillo zu entscheiden.

Dann gab es Dinge, die man sich heute gar nicht vorstellen kann. Ludwig wohnte in dem damals elegantesten Hotel der Stadt. Eines Nachts stiegen Studenten über die Hauswand in sein Zimmer ein und teilten ihm mit, wenn er etwas über die Dominikanische Republik schreiben wolle, müsse er wissen, daß das Land keine Demokratie, sondern eine Diktatur sei. Wir baten Emil Ludwig, er solle bitte über solche Sachen den Mund halten, denn dann wären wir gefährdet. Ludwig war fabelhaft, absolut diskret.

Sie schreiben in Ihren autobiographischen Schriften, daß Sie sehr gute Kontakte zu Exilspaniern hatten?

Wir hatten sehr gute Kontakte zu Exilspaniern, aber auch zu Dominikanern. So hatten wir etwa einen Kreis mit Dominikanern, wo man sich jeden nachmittag um fünf traf. Zum Teil waren das hohe Beamte, d.h. Staatsbedienstete der Diktatur, aber selbst diese waren in Wirklichkeit keine Trujillisten, auch wenn sie keine aktive Opposition bildeten. Mit diese Leuten waren wir auch später noch freundschaftlich verbunden. Wir kamen ja 1973 noch einmal zurück nach Santo Domingo. Wir wurden empfangen, als ob die Familie zurückkäme.

Vor ein paar Jahren ist ein Roman des katalanischen Autors Manuel Vázquez Montalbán erschienen, der den Mord an dem baskischen Exilpolitiker Jesús Galíndez thematisiert. In diesem Roman beschreibt Vázquez Montalbán das Exil der Spanier in der Dominikanischen Republik als relativ beklemmend…

…wir müssen uns klar darüber sein, daß die Dominikanische Republik unter der Herrschaft von Trujillo eine Diktatur war. Galíndez – wir kannten ihn übrigens gut – war ja schon nicht mehr in der Dominikanischen Republik, sondern an der Columbia University in New York, von wo er gekidnappt und in die Dominikanische Republik gebracht wurde. Dort wurde er umgebracht, weil er in einer Doktorarbeit negative Einzelheiten über Trujillo berichtet hatte. Trujillo war ein Mann, dem es nicht darauf ankam, irgend jemand mehr oder weniger zu ermorden. Aber im großen und ganzen war die Zeit der Morde schon vorbei, als wir hinkamen. Hinterher jedoch, als seine Regierung schwankte, nahm die Verfolgung wieder zu, und es wurden wieder Menschen ermordet.

Es herrschte natürlich ein Klima der Einschüchterung. Ich nehme nur mal einen ganz konkreten Fall. Als der ehemalige Rektor der Universität nach Kriegsende irgendwo einen Artikel veröffentlichte und darin schrieb, jetzt müsse es mit der Diktatur vorbei sein, fiel er in Ungnade. Von da an zogen sich alle Intellektuellen – ich rede von Dominikanern und  Spaniern – von ihm zurück. Es war tatsächlich so, daß alle ihm vorsichtshalber aus dem Weg gingen und rechts oder links abbogen. Wir machten das nicht mit. Einmal traf mein Mann ihn auf dem Platz vor der Kathedrale und unterhielt sich eine Stunde lang mit ihm. Wir hatten am eigenen Leibe in Italien erlebt, was es heißt, wenn sich Bekannte plötzlich von einem abwenden. Dort gab es enge Freunde – z.B. deutsche Freunde in Pompeji –, die 1936 Angst hatten, einen zu grüßen. Damals sagten wir uns, „so etwas werden wir nie tun“. Deshalb ging mein Mann diesem damals geächteten, weil antitrujillistischen Mann nicht aus dem Weg, sondern unterhielt sich mit ihm.

Es gab einen sehr berühmten dominikanischen Historiker, der auch keine Biographie über Trujillo geschrieben hatte, wie es von ihm erwartet wurde. Daher war er der öffentliche Feind Nr. 1. In dieser Zeit rief der Vizerektor und Leiter der Trujillistischen Partei die ausländischen Professoren zusammen und erklärte, der „Wohltäter des Vaterlandes“ – so wurde Trujillo offiziell genannt – möchte nicht, daß Sie weiter Don Americo Lugo besuchten. Alle waren gehorsam, aber mein Mann sagte, er spräche mit Don Americo nur über die Vergangenheit, das 16. und 17. Jahrhundert, und werde das auch weiter tun. Und das hat er auch getan. Wenn ausländische Gelehrte kamen, um Don Americo zu treffen, dann fuhr hinter dem Taxi, mit dem mein Mann diese Leute zu Don Americo brachte, ein Wagen des Heeres. Ich stand dann zu Hause schwer atmend auf der Veranda, aber es ist nie etwas passiert. Wissen Sie, wenn man einmal widerständig ist, dann bleibt man es auch. Es hieß dort, der Deutsche läßt sich nichts sagen, sehr komisch zu einer Zeit, wo alle Deutschen sich so viel sagen ließen. Wir hatten persönlich da keine Schwierigkeiten.

In mehreren Texten schreiben Sie, daß Sie 1952 in Santo Domingo zum zweiten Mal geboren wurden, als Sie 39jährig begannen, Gedichte zu schreiben. War dieser Gedanke zu schreiben immer schon in Ihrem Kopf?

Nein. Ich hatte niemals vor, schriftstellerisch tätig zu werden. Nach dem Tode meiner Mutter erlitt ich einen Schock und begann zu schreiben. Ohne Wunsch zu veröffentlichen. Wenn der Mensch sehr bedrückt ist, kann ihm Lyrik helfen. Lyrik ist eine größere Entlastung als etwa Prosa. Lyrik kommt mit Blaulicht. Lyrik entsteht mehr aus Leid als aus Freude. Der Mensch kann sich durch das Schreiben von Gedichten befreien. Ich kann das nur vergleichen – obwohl es natürlich etwas anderes ist – mit der Beichte oder dem therapeutischen Gespräch beim Psychiater. Dabei teilen Sie mit, was in Ihnen ist. Bei Lyrik können Sie das noch mehr tun. Ich nenne es eine Gnade, wenn man kreativ werden kann.

Der Tod meiner Mutter und seine Umstände waren für mich ein fürchterlicher Schock. Meine Mutter war krank, sie hatte Zucker. Als ich hörte, wie ernst ihr Zustand war, besorgte ich mir einen Ersatzpaß, um nach Deutschland zu reisen. Da ich kein Geld für die Reise hatte, bat ich Freunde um Unterstützung. Der Briefträger brachte mir schließlich am gleichen Tag das Reisegeld und die Todesnachricht.

Hat der Name „Domin“, den Sie heute tragen, etwas mit Ihrem Exilland zu tun?

Der Name kommt aus dem Exil. Domin kommt von Santo Domingo. Als ich im Jahre 1954 in der Bundesrepublik ankam und die Frage der Veröffentlichung meiner Gedichte aufkam, sagte ich, daß ich nie unter dem Namen Palm veröffentlichen würde. Mir war überhaupt nicht klar, ob ich veröffentlichen würde, aber sicher nicht unter dem Namen Palm. Deshalb schlug Wolfgang Weyrauch vor, ich solle unter dem Namen „Domin“ publizieren, weil ich in Santo Domingo zu schreiben begonnen hätte.

Sie sind im Frühjahr 1961 endgültig nach Deutschland übergesiedelt und haben sich in Heidelberg niedergelassen…

…mein Mann im Herbst 1960. Er übernahm zum Wintersemester 1960/61 den Lehrstuhl für iberische und iberoamerikanische Kunst am Kunsthistorischen Institut der Universität Heidelberg.

Ich blieb noch eine Zeitlang in Madrid, um an meinem Roman „Das zweite Paradies“ zu arbeiten. Darin beschreibe ich die ambivalente Stimmung, mit der ich nach Deutschland zurückkehrte. Man kam mit einer Mischung aus Wiedersehensfreude und Vorbehalten. Wenn ich nicht 1932 weggegangen wäre, sondern die Gestiefelten erlebt hätte und alles dies, wäre mir die Rückkehr sicher schwerer gefallen. Ich bin gegen Sippenhaft, für mich sind Sie Sie selbst und nicht – vielleicht – der Sohn oder Enkel eines Nazis.

Es gab aber bald ein schockierendes Erlebnis. Schockiert hat mich nicht, daß niemand Nazi gewesen sein wollte, auch nicht, daß mir jemand sagte, er hätte als Flieger keine Bombe abgeworfen. Das Schockerlebnis war eine Aussage eines Journalisten in meiner Vaterstadt Köln. Wir saßen in einem Café am Dom, in einem Café, wo ich als Kind sehr viel gesessen habe, denn es gehörte den Eltern einer Mitschülerin. Da sagte der Journalist zu mir: „Wir wollen alles wiederhaben wie früher – und mehr.“ Dieses „und mehr“ war für mich das negativste Erlebnis in Deutschland. Die fehlende Schamgrenze.

Viele Ihrer Gedichte drücken sehr stark die Exilerfahrung, die Fluchterfahrung, die Vertreibungserfahrung aus…

…ich betrachtete und betrachte auch heute noch das Exil als eine Grunderfahrung der Conditio Humana. Wir alle sind auf dieser Erde nicht abgesichert. Das Erlebnis der Vertreibung aus dem Paradies und die dauernde Suche nach einem zweiten Paradies ist die allgemeine Conditio Humana, von Adam und Eva bis zu uns.

Wie haben die deutsche Öffentlichkeit und der Literaturbetrieb auf die Dichterin „Hilde Domin“ reagiert, die plötzlich und überraschend in den fünfziger Jahren mit ihren Gedichten aus dem Exil zurückkehrte?

Mein erster Gedichtband „Nur eine Rose als Stütze“ erschien 1959. Er wurde damals außerordentlich herzlich aufgenommen. Der  Verlag schrieb mir nach Spanien, daß einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren den Band groß besprechen werde. Walter Jens widmete dem Band eine ganzseitige Besprechung in der „Zeit“. Da wurden gleich 1000 Exemplare mehr gedruckt.

Der Band wurde insgesamt von den Mitgliedern der „Gruppe 47“ sehr positiv aufgenommen, aber ich wußte nichts von der „Gruppe 47“. Ich glaubte nur, daß es wichtig sei zu schreiben, den Literaturbetrieb gab es für mich nicht. Die „Gruppe 47“ hat mich zu ihrem Jahrestreffen eingeladen, aber ich schlug die Einladung aus, denn mein Mann und ich fuhren stattdessen nach Rom, wir hatten zum ersten Mal  wieder das Geld, um nach Rom reisen zu können. Wir liebten Rom sehr. Für mich war wichtiger, mit meinem Mann zu reisen als zu irgendeinem Treffen irgendeiner Gruppe zu fahren. Das war sicher ein Riesenfehler, die Leute fanden das unmöglich, daß ich eine so ehrenvolle Einladung nicht annahm und alle diese Leute nicht kennenlernte. Es dauerte lange, bis ich diesen Fehler überwinden konnte.

Heute zirkulieren meine Gedichte in über 80 000 Exemplaren. Das ist schon eine relative Seltenheit, Lyrik erreicht normalerweise leider nicht sehr hohe Auflagen. Meine Gedichte werden von Menschen jeden Alters gelesen, das freut mich sehr.

Das letzte Thema, das ich ansprechen möchte, sind Ihre Lesungen. Sie haben schon erwähnt, daß Sie sehr viele Lesungen machen, nicht nur an den „klassischen Orten“, sprich Buchhandlungen und Literaturhäusern, sondern auch in Schulen, in Gefängnissen. Was bedeutet für Sie die Konfrontation mit den Leserinnen und Lesern?

Ich habe große Freude an Kontakten mit Menschen. Für mich ist das Gedicht der kürzeste Weg von Mensch zu Mensch. Ich habe große Freude an den Lesungen. Freundschaften resultieren oft aus den Kontakten, und das ist sehr schön.

In Ihren Lesungen insbesondere in Schulen spielt das Thema „Zivilcourage“ eine große Rolle.

Ich nehme da ein Gedicht, was ich Postulat nenne, „Drei Arten Gedichte aufzuschreiben“, da kommt die Zivilcourage drin vor. Ich lese immer mehrere Gedichte, aber dieses Gedicht, ebenso wie „Abel steh auf“ und „Wen es trifft“ sind Gedichte, die selten bei meinen Lesungen fehlen, weil das grundsätzliche Gedichte sind.

Welche Erfahrungen machen Sie dabei? Glauben Sie, daß die Schüler und Schülerinnen Ihre Botschaft verstehen?

Ja, sicher. Ein Teil der Schüler – ich weiß nicht, wie hoch der Prozentsatz ist –, machen sie sich ganz zu eigen. Ich glaube, daß ich die jungen Leute motiviere, hinzusehen anstatt wegzusehen. Was man sich jung vornimmt, das wird einem zur zweiten Natur. Zivilcourage ist für mich eine ganz wichtige, menschlich wichtige Eigenschaft. Daß man kein Denunziant ist, sondern daß man geradesteht, daß man sich für andere einsetzt. Und daß man nicht aufpaßt, ob etwas opportun ist, sondern etwas tut, weil man es tut, aus eigener Überzeugung. Das kann man lernen. Und wenn man einmal gelernt hat, nicht wegzusehen, sondern hinzusehen, dann tut man es auch weiter. Die Jugend ist das beste Alter, um das vorzunehmen.