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Bei der mündlichen Überlieferung geht vieles verloren

Interview mit Eliseth Peña, Regisseurin des Films „Der letzte Kommandant der Quintines“

Mehrere Guerillagruppen prägen die Geschichte Kolumbiens bis heute. Doch nur eine, die Bewaffnete Bewegung Quintín Lame, war indigener Herkunft und trat für deren Belange ein. Was unterschied sie von den anderen Gruppen?

Es ging ihr weniger um den Machtwechsel mit der Waffe in der Hand als um den Aufbau von neuen Machtstrukturen von unten. Es ging ihr um die Politisierung und Aktivierung der Basis, die Erziehung, Bildung von unten. Die Quintines regten die indigenen Gemeinden an, ihre eigene Realität zu hinterfragen. Heute ist es ganz normal, zu sagen, ich bin Nasa, Kokonuka oder Guambiana, damals war das anders. Ich bin Indígena hieß es damals und kaum das. Der Kampf für die eigene Identität hatte erst begonnen, und die bewaffnete Bewegung Quintín Lame ist genauso wie der Rat der indigenen Gemeinden des Cauca (CRIC) ein Teil davon.

Am 10. November 1984 ermordeten Auftragskiller den indigenen Geistlichen Álvaro Ulcué Chocué im Cauca. Welche Bedeutung hat dieser Mord für Ihren Film über die indigene Guerilla Lateinamerikas?

Álvaro Ulcué Chocué war ein junger katholischer Priester, der für die Rechte der indigenen Völker eintrat. So wurde er zur Symbolfigur. Seine Ermordung brachte das Fass zum Überlaufen. Sie war der Höhepunkt einer langen Kette von Gewalttaten gegen indigene Aktivisten und Familien. Eine direkte Reaktion waren kurze Zeit später die ersten Aktionen der indigenen Guerilla Quintín Lame.

Ihr Film „Der letzte Kommandant der Quintines“ ist eine Zeitreise in den Cauca der 1980er-Jahre. Warum ist es wichtig, diese Geschichte zu erzählen?

Dass es diese Guerilla gab, sie war ziemlich klein und hat nur von 1984-1991, gerade sieben Jahre, existiert, ist Teil unserer indigenen Geschichte und Identität. Sie ist eine Stimme, die unseren indigenen Prozess zeigt, die Entwicklung eigener Strukturen, das Eintreten für unsere Rechte.

Die Guerilla bezieht sich auf Quintín Lame. Wer war das?

Er war ein Anführer, ein Nasa, der früh für indigene Rechte eintrat und legale Prozesse zur Landrückgabe in Gang setzte und dafür warb. Er schrieb Briefe, machte Eingaben, rief aber auch zu Straßenblockaden auf und war Dutzende Male im Gefängnis. Er ist Teil der indigenen Identität und es ist kein Zufall, dass sich die bewaffnete Bewegung auf ihn bezieht. Sie erhielt dafür auch die spirituelle Unterstützung der Autoritäten an der Lagune Juan Tama.

Wissen die Menschen in Kolumbien von der Existenz der „Bewaffneten Bewegung Quintín Lame“ oder ist sie längst in Vergessenheit geraten?

Dass es sie gab, ist schon bekannt. Es gibt Bücher wie „Eigener Krieg, fremder Krieg“ von Ricardo Peñaranda, die ihre Geschichte erzählen. Miriam Amparo Espinosa ist eine andere Autorin, die sich mit ihr und der Wichtigkeit der Landfrage beschäftigte. Es gibt vor allem an der Universität Popayán einige Studierende, die sich mit der Geschichte und Relevanz der Quintines beschäftigt haben.

Gibt es eine indigene Erinnerungskultur? Wie wichtig ist die für die eigene Identität?

Das Aufzeichnen, Niederschreiben, Festhalten unserer eigenen Geschichte hat keine Tradition. Bei der mündlichen Überlieferung geht vieles verloren, gerät in Vergessenheit, und an diesem Punkt setzt eine neue indigene Generation ein, die rekonstruiert, archiviert, festhält, was unsere Geschichte ausmacht.

Wie kam es dazu, den Film zu machen, Geschichte zu rekonstruieren, und welche Rolle spielte dabei der Pappkarton mit den Familienfotos?

Meine Eltern sprachen nie darüber, dass sie Guerilleros gewesen waren. Das war ein Geheimnis. Als ich neun Jahre alt war, sollte ich ein Familienfoto in die Schule mitbringen und klappte die Schachtel auf, in der alle Familienfotos und Schriftstücke meiner Eltern verwahrt waren. Da sah ich die beiden zum ersten Mal in Uniform und das hat Fragen nach sich gezogen, auch die nach meinen eigenen Wurzeln.

Wie hat Ihr Vater auf die Filmidee reagiert? War er bereit mitzumachen?

Die ersten Aufnahmen waren nur Tonaufnahmen, das war nicht so dramatisch. Aber als wir die Arbeit mit der Kamera begannen, wurde es für ihn schwierig. Er ist scheu, zurückhaltend, wollte plötzlich die Reise zu seinem Geburtsort nicht mitmachen, und erst als ich den anderen absagen wollte, hat er eingewilligt und ist mitgefahren. Es war schwer für ihn.

In den 1980er-Jahren gab es einen offenen Krieg in Kolumbien und der Cauca war einer der Schauplätze. Doch der Krieg geht weiter …

Der Unterschied ist, dass es damals möglich war, sich zu orientieren. Es gab klare Strukturen, diese oder jene Organisation hatte die Kontrolle über dieses oder jenes Territorium, man konnte um ein Passierrecht bitten. Auf der anderen Seite traten unsere Autoritäten damals auch erstmals gegenüber der FARC klar auf, verbaten es sich, dass sie für uns sprach, machten deutlich, dass bewaffnete Akteure auf indigenem Territorium nichts zu suchen haben. Es gab die Option für einen Dialog. Heute, nach der Demobilisierung der FARC, gibt es niemanden mit dem wir reden können. Es gibt viele Akteure, die Situation ist unübersichtlich und der Einfluss der Drogenbanden und des Drogenanbaus hat zugenommen.

Das heißt mehr Unsicherheit und mehr Tote?

Ja, aber auch Risse in den Comunidades, weil es auch indigene Bauern gibt, die Coca anbauen oder Marihuana. Der Einfluss des Drogengeldes ist gewaltig, sorgt für Brüche, untergräbt die Einheit. Meine Cousine, Sandra Liliana Peña Chocué, wurde am 20. April ermordet, weil sie sich gegen den illegalen Anbau von Drogen im Selbstverwaltungsgebiet von La Laguna im Landkreis Caldono wandte.

Bei der mündlichen Überlieferung geht vieles verloren – ilawordpress