Beim Thema Sorgearbeit sind wir zu 100 Prozent bei den Schweizer Feministinnen

Die Wayuu haben eine matrilineare[fn]Matrilinearität bezeichnet die Weitergabe von u.a. Besitz über die weibliche Linie von Müttern an Töchter.[/fn] Gesellschaftsstruktur. Sind die Wayuu-Frauen etwa auch besonders kämpferisch?

Auch wenn die Vererbung über die Linie der Mutter verläuft, heißt das noch lange nicht, dass unsere Gemeinschaften nicht auch patriarchal strukturiert sind. Nach wie vor gibt es viele Bräuche, die die Frauen unterwerfen. Die Wayuu-Frauen beteiligen sich an Entscheidungen in den Gemeinschaften, was uns von anderen indigenen Bevölkerungsgruppen unterscheidet. Allerdings tut sich etwas, überall erheben indigene Frauen ihre Stimme.

Ihr habt eine indigene Frauenschule ins Leben gerufen. Spielte dabei die Kritik an den patriarchalen Bräuchen eine Rolle?

Ausgangspunkt waren die Menschenrechtsverletzungen. Wir wollten, dass die Leute befähigt werden, ihre Rechte zu verteidigen und einzuklagen. Es ergab sich eher zufällig, dass wir Frauen in diesem Prozess von Anfang an stark vertreten waren. Da wir aber so eine wahrnehmbare Frauenmacht darstellten, kritisierten uns einige aus unserer Gemeinschaft: Angeblich wollten wir die Kultur der Wayuu zerstören und seien geldgierig. Zu allem Übel seien wir auch noch Feministinnen! Wenn du vor 20 Jahren in einer indigenen Gemeinschaft als Feministin bezeichnet wurdest, war das wie eine Beschuldigung als Terroristin! Mit der Zeit wurden wir tatsächlich stärker. Wir wollten darauf hinweisen, dass die Basis der Wayuu der Schutz der Mutter Erde ist. Alles Lebendige steht in Beziehung zum Menschen. Wounmaikat, die „größte Frau“, wie die Mutter Erde auf meiner Sprache heißt, hat alle Menschen hervorgebracht. Sie verdient Respekt. Sie gibt uns zu essen und zu trinken. Wenn der Schutz von Mutter Erde bedeutet, dass wir Feministinnen sind, dann sind wir eben Feministinnen. Langsam definierten wir für uns, welche Forderungen wir haben – das müssen nicht die gleichen sein wie die der weißen, europäischen Feministinnen, die etwa Lohngleichheit einfordern. Im Zuge meiner Migration in die Schweiz habe ich zusätzliche Ausschlussmechanismen und Rassismus erfahren, nicht einmal als Indigene, sondern als Lateinamerikanerin. Das hat mich dazu geführt, den Feminismus aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

In Kolumbien hatten wir uns darin geübt, uns weiterzuentwickeln, ohne dabei auf NRO oder Institutionen der Entwicklungszusammenarbeit zu hören, die uns vorschreiben wollten, dass wir das Thema Feminismus bearbeiten. Dazu sagten wir: Nein. Wir wollen kein Geld dafür bekommen, dass wir einen Feminismus von außen annehmen. Unser Feminismus besteht darin, die Mutter Erde zu schützen.

Du bist vor elf Jahren nach Europa gekommen. Wie kam es dazu?

Als ich im Jahr 2009 Drohungen erhielt, gab es von Seiten der UN (Vereinte Nationen) ein Programm für bedrohte indigene Führungspersönlichkeiten. Mir wurde angeboten, für ein Jahr in die Schweiz zu kommen. Einmal hier, wollte ich gegen das Unternehmen Glencore vorgehen, das den Steinkohletagebau El Cerrejón betreibt und auf unserem Territorium Menschenrechte verletzt. Das Programm, mit dem ich in der Schweiz war, verlangte von mir, für die Internationale Arbeitsorganisation ILO die Konvention 169[fn]Die Indigenous and Tribal Peoples Convention ist die internationale Norm, die indigenen Gemeinschaften ihre Grundrechte garantieren soll.[/fn] mit voranzutreiben. Allerdings war mir untersagt, in der Schweiz aktivistisch tätig zu sein. Meine Vorgesetzte sagte zu mir: Tu, was du für richtig hältst, aber lass die UN aus dem Spiel. Zusammen mit Schweizer Organisationen bereitete ich die ersten Proteste gegen Glencore in der Schweiz vor, dafür mobilisierten wir die Leute nach Zug, das Steuerparadies, wo Glencore seinen Hauptsitz hat. Einige Leute hielten mich damals für naiv: So etwas würde in der Schweiz niemals funktionieren! Aber heute haben wir die Konzernverantwortungsinitiative[fn]Diese Initiative wurde im November 2020 in einer Volksabstimmung angenommen, scheiterte aber am sogenannten Ständemehr (Mehrheit der Kantone). Der sehr viel gemäßigtere Gegenentwurf der Regierung geht jetzt in die Umsetzungsphase.[/fn], dank Leuten wie mir und anderen Opfern, die jahrelang darauf gedrungen haben, dass die Unternehmen anfangen, Verantwortung zu übernehmen.

Bei diesen Protesten lernte ich meinen Mann kennen. Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings meine Rückkehr nach Kolumbien bevor. Ich ging nach Kolumbien, mit gebrochenem Herzen. Vor Ort liefen die Dinge nicht so gut. Er kam nach Kolumbien und sprach mit meiner Familie. Ich wollte, dass er meine Familie kennenlernt und sie ihren Segen gibt. Mir war es wichtig, unsere Beziehung gemäß meiner Kultur zu formalisieren. Nach einigem Hin- und Herüberlegen beschlossen wir, zu heiraten und in der Schweiz zusammenzuleben, mit der Option, auch nach Kolumbien zurückzukehren.

Du hast das Kollektiv „Las Nadie“[fn]„Die Niemande“ (mit weiblichem Artikel)[/fn] mitgegründet. Was macht ihr da?

Dieses Kollektiv entstand aus Treffen mit kolumbianischen Freundinnen, die, wie einige sagen, als „Souvenir“ eines Schweizers ins Land kamen. All diese Frauen waren Aktivistinnen und hatten in Kolumbien studiert, brillante Frauen. Aber hier, in diesem so dermaßen konservativen Land, mit dieser Gesetzgebung, die dich dazu zwingt, zu heiraten, damit du mit der Person leben kannst, die du liebst, begannen wir, viele Dinge in Frage zu stellen. Viele migrantische Frauen leiden unter Gesundheitsproblemen, unter Depressionen oder anderen mentalen Krankheiten. Du kannst hier nicht in dem Bereich arbeiten, der dich interessiert, die sprachliche Herausforderung ist gigantisch. Wenn du auf die Straße gehst, bist du permanent Mikrorassismen ausgesetzt. Wenn sich eine Frau von ihrem Mann trennen will, darf sie nicht mehr hierbleiben. Die Migration aufgrund von Liebesbeziehungen ist relativ unsichtbar. Ich schreibe übrigens gerade ein Buch über diese „Liebesflüchtlinge“. Diese Situation erschwert es vielen Frauen, sich zu integrieren in eine Gesellschaft, die dich dazu verpflichtet, von einem schweizerischen, weißen, privilegierten Mann abhängig zu sein. Als ich meinen Aufenthaltstitel für die Schweiz bekam, stand darauf: „Verantwortliche Person“ und dahinter der Name meines Mannes! Dazu haben wir auch ein Video gemacht: „Wenn Pocahontas die Grenze mit dem Boot überquert“.[fn]https://www.youtube.com/watch?v=rVBtD7WeBeU[/fn]

Die Ausländergesetzgebung wird in der Schweiz praktisch alle zwei Jahre geändert, ohne dass Eingewanderte irgendein Mitspracherecht hätten. Also entwarfen wir für migrantische Frauen ein Programm, in dem es um Fortbildungen geht, oder auch darum, wie mit dem Schmerz in der Migration umzugehen ist. Dazu kooperierten wir mit der lokalen Antidiskriminierungsstelle. Außerdem beteiligen wir uns an der Aktionswoche gegen Rassismus, organisieren kulturelle Events wie Stand-up-Comedy gegen Rassismus. Mittelfristig wollen wir auf die lokale Gesetzgebung einwirken und konkrete Veränderungen bewirken. Beim Frauenstreik 2019 haben wir eine Rede von migrantischen Frauen einbringen können.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Schweizer Feministinnen?

Natürlich gibt es Unterschiede. Wie ich eingangs sagte: Durch einen Kampf um Lohngleichheit fühle ich mich nicht vertreten. Wenn ich im Reinigungssektor oder in der Küche arbeite, bekommen wir alle den gleichen schlechten Lohn, nur die Person mit einer Ausbildung bekommt etwas mehr. Mein Problem ist viel mehr, dass ich dazu verdammt bin, diese Art von Arbeit zu machen. Wenn ich als lateinamerikanische Migrantin solche Jobs mache, bin ich froh, dass ich Geld nach Hause schicken kann. Die Diskussion um Lohngleichheit zwischen Mann und Frau bezieht sich jedoch auf (hoch)qualifizierte Arbeitsbereiche, zu denen die Migrantin sowieso kaum Zugang hat.

Es gibt eben Punkte, wo wir als Feministinnen gut zusammenarbeiten können, und andere, wo die Interessen auseinandergehen. Was zum Beispiel die Anerkennung von Haus- und Sorgearbeit angeht, identifizieren wir uns voll und ganz mit den Schweizer Frauen. Schließlich ist es in der Schweiz meistens so, dass eine Frau, die Kinder bekommt, zu Hause bleibt und nicht mehr arbeiten geht. Wir Migrantinnen bleiben zunächst zu Hause, weil wir hier keine Arbeitsmöglichkeiten haben. Wenn wir dann auch noch Kinder bekommen, sind wir verdammt. Es gibt kaum Kindergartenplätze. Solltest du einen ergattern, musst du so viel bezahlen, dass es sich überhaupt nicht lohnt, arbeiten zu gehen – ein Teufelskreis, der die Frauen wohl kalkuliert dazu verdammt, zu Hause zu bleiben.

Aktuell bist du am Wahlkampf in Kolumbien beteiligt. Wie funktioniert das praktisch, als Kolumbianer*in im Ausland Mitglied der Abgeordnetenkammer zu sein?

Die Sitzungszeit des kolumbianischen Parlaments dauert vier Monate, dazwischen gibt es eine zweimonatige Pause. Die Sitzungen sind verpflichtend und in Präsenz, ich müsste also nach Kolumbien zurückkehren. Da der Sitz, der die Auslandskolumbianer*innen vertritt, auf deren Bedürfnisse eingehen soll, besteht auch die Möglichkeit, dass du die Territorien bereist. Früher gab es zwei Sitze für die Auslandskolumbianer*innen, der zweite wurde leider abgeschafft. Wir hingegen fordern mehr Repräsentation. Laut dem letzten Zensus von 2018 und statistischen Untersuchungen sind wir über sechs Millionen Kolumbianer*innen im Ausland, die Hälfte davon lebt in den USA.

Das ist bestimmt kompliziert, so viele Menschen in derart unterschiedlichen Lebensumständen zu repräsentieren. Welche Vorschläge bringst du ein?

Trotz meiner Vorbehalte gegenüber der Parteipolitik habe ich mich ab 2018 der Bewegung von Colombia Humana angeschlossen, weil mich Gustavo Petros Programm, das auf den Kampf gegen den Klimawandel und den Schutz der Mutter Erde abzielt, angesprochen hat. Allerdings dachte ich mir: Hier fehlt etwas, nämlich die Perspektive der Menschen, die dort leben, wo die Energie generiert werden soll, egal ob es fossile oder erneuerbare Energieträger sind. Die Förderprojekte und die Infrastruktur werden auf einem Territorium installiert, wo Menschen leben. Wie machen wir das, damit die „sauberen“ Energien den dortigen Gemeinschaften nicht schaden?

Meine Kandidatur für die Vertretung der Auslandskolumbianer*innen löst manchmal Panik in mir aus, aber ich bin bereit, diese verantwortungsvolle Aufgabe anzunehmen, und will dabei die größtmögliche Transparenz an den Tag legen. Dieser Sitz war bisher in den Händen der Rechten, die nichts für die kolumbianischen Migrant*innen gemacht haben.

Was forderst du für die Kolumbianer*innen in der Schweiz?

Für Neuankömmlinge gibt es staatlicherseits keine Stelle, die auf deren Bedürfnisse eingeht. Um Integration zu erleichtern, müsste mit den Konsulaten und den Botschaften zusammengearbeitet werden. Bisher funktioniert das aber nicht so gut. Im Moment kommen unglaublich viele junge Menschen in die Schweiz und bitten um Asyl. Hintergrund ist die brutale Verfolgung im Zuge der Proteste letztes Jahr. Kolumbien hat außerdem ein großes Problem mit Menschenhandel, vor allem von Frauen und Mädchen. Um das anzugehen, müssten die Botschaften eine bessere Handhabe haben. Für mich sind die Botschaften aber aktuell wie Festungen, die Fünfsternehotels ähneln, in denen sich korrupte Menschenrechtsverbrecher tummeln, die sich für politische Gefälligkeiten bezahlen lassen.

Deshalb braucht es auch Wahlbeobachtung in den Botschaften?

Bei den Wahlen 2018 wurden die Stimmen der Diaspora nicht richtig ausgezählt. Jemand forderte eine Überprüfung, dabei wurden Müllsäcke mit Stimmzetteln gefunden, die jahrelang in der Registrierungsstelle lagen. Deswegen wird es dieses Mal in jedem Land Wahlbeobachtung in den Botschaften geben.

Auf allen Wahllisten des linken Parteienbündnisses Pacto Histórico gibt es Geschlechterparität. Wir haben eine große Diversität bei den Kandidat*innen: indigene Frauen, Schwarze, Transpersonen, Lesben. Viele Menschen haben die berechtigte Hoffnung, an der Gestaltung von Politik teilhaben zu können, sollte es zu einer fortschrittlichen Regierung unter Gustavo Petro kommen. Nach den Wahlen steht die Transformation des Landes an. Der Pacto Histórico redet von einer Zeitspanne von 30 Jahren, ohne dass er in der Zeit ununterbrochen die Regierung zu stellen beabsichtigt. Das Wahlprogramm zielt auch auf Versöhnung. Die Kultur der Gewalt macht uns glauben, dass wir von Feinden umgeben sind. Der Pacto Histórico will hingegen das soziale Gefüge wiederaufbauen. Ich bin sehr optimistisch, vor allem angesichts der Mobilisierungen letztes Jahr. In Städten wie New York, Madrid oder Genf strömten die kolumbianischen Menschen auf die Straße, damit die Verfolgung und Ermordung der Jugend beendet wird. Das hat viele Leute aufgerüttelt. Sehr viele, vor allem junge Menschen, wollen jetzt einen Wandel in Kolumbien.