Bilanz eines Arztes

Bleistift und Papier: was mach’ ich damit? In dieser Zelle, in dieser Gruft, wo ich bei lebendigem Leib verfaulen soll. Bleistift und Papier: wozu taugt mir das? Bin ich denn noch ein Mensch?

Sie müssen mich hereingeschmissen haben wie einen Sack. Nicht einmal der Schmerz hat mich geweckt. Sie müssen auch gemeint haben, daß sie hier nur meine Leiche herausholen. Der Wärter hat sich gewundert, das sah ich trotz allem, als ich mich zu bewegen begann. Und erst dann spürte ich wieder den Schmerz. War ja keine heile Stelle an mir. Und die ausgeschlagenen Zähne! Hätte gar nicht gedacht, daß ich noch so viele hatte. Die sind jetzt also auch nicht mehr da.

Plötzlich, wieviele Tage waren da wohl verstrichen, begann ich Stimmen zu hören. Das wunderte mich. War also doch noch Leben in mir.

„Zellrevision! Antreten!“

Ich versuchte zu gehorchen, aber es ging nicht. Sie hatten es wohl auch nicht erwartet. Denn keiner kam zur Kontrolle.

Ich muß einen großen Teil des Tages noch bewußtlos verbracht haben. Wenn ich erwachte, sah ich durch das Gitter ein Stück Himmel. Oder die Glühbirne brannte. Sie brennt die ganze Nacht.

Eines Tages stand neben der Pritsche ein Blechnapf. Wer hatte den nur hingestellt? Vielleicht war er schon vorher dagewesen, und ich hatte ihn nicht bemerkt. Ich versuchte einen Schluck zu trinken. Gleich war da wieder der Schmerz von den ausgeschlagenen Zähnen. Aber ich spürte auch wieder Hunger. Es war eine Art Suppe, kalt und wässrig, aber ich trank sie ganz aus.

Es scheint, daß der Tod doch noch nicht kommt. Wer weiß, ob das gut oder schlecht ist? Ich hatte doch schon nichts mehr gefühlt. Und jetzt fängt alles von neuem an. Ich glaube aber, ich bin doch froh. Was für eine Lebenskraft der Mensch doch in sich hat!

Wozu weiterleben nach dem, was sie mir angetan haben? Hat es Sinn? Und die siebzig Lebensjahre vorher? Es ist wahr: ein paar hundert Menschenwesen wären ohne mich nicht auf der Welt. Und wozu gebrauchen sie das Leben, das ich ihnen zurückgab? Vielleicht nur zu solchen Untaten wie da bei mir?

Das Leben des Menschen! Die Arbeit des Arztes! Sie können darüber nicht urteilen wie über jede andere Arbeit. Daß wir mit Ernst, Vernunft und Güte darangehen, genügt ihnen nicht. Sie wollen das Wunder. Der Arzt soll ein Gott sein. Aber nur ich weiß, wie wenig ich immer getan habe. Da küßten sie mir die Hände und schworen, sie würden es bis an ihr Lebensende nicht vergessen. Und sie glaubten es. In diesem Augenblick glaubten sie es.

Wenn es aber nicht gut ausging, dann mußte auch jemand daran Schuld sein. Ein Gott darf nicht fehlen wie ein Mensch. Fehlt er, bewirkt er das Wunder nicht, dann muß er streng bestraft werden.

Wer hat da die Fähigkeit, wer hat auch nur die Absicht, gerecht zu sein? Der Groll, der Haß hilft beim Überleben. Er ist zäh und hält länger an als die Dankbarkeit. Länger sogar als der Schmerz. Manche Menschen bewahren ihn wirklich bis an ihr Lebensende.

Bleistift und Papier. Hier sitze ich hinter Gittern. Zerschlagen, zerfetzt. Aber ein Funke Leben ist doch,noch in mir. Da nehme ich also, was irgendjemand neben meine Pritsche gelegt hat, und schreibe mit zitternder Hand, was wohl nie jemand zu lesen bekommt: ein paar Gedanken, die mein gemartertes Hirn trotz allem noch zu denken vermag. Und ich empfinde einen gewissen Trost dabei. Wir sind doch wirklich merkwürdige Wesen.

Warum überrascht mich, was geschehen ist? Kenne ich die menschliche Natur etwa nicht? Weiß ich denn nicht, wie leicht es ist, das Böse zu wecken? Nun, es überrascht micht nicht, aber es schmerzt. Ich höre nicht auf, die Menschen zu lieben. Ich wünsche mir weiter, sie sollten so sein, wie sie sicher nicht sind: aus einem Guß, und nicht diese merkwürdige Mischung von Gut und Böse. Ich könnte von dem Wahn doch schon geheilt sein, nachdem ich ihnen fast vierzig Jahre in ihren Nöten beigestanden habe.

Wünschte ich nun, mein Leben wäre anders gewesen? Gewiß nicht. Ich habe mich immer gefreut über die Dankbarkeit der Leute, obwohl ich wußte, wie wenig sie wert ist. Aber der Hauptgrund für mein Handeln war eine innere Notwendigkeit. Eine Art Kantscher kategorischer Imperativ: das Gute tun um seiner selbst willen. Wenn wir diese Regel verletzen, zieht uns das eigene Gewissen zur Rechenschaft.

Warum schreibe ich das? Wird etwa der Mensch, der mir Bleistift und Papier brachte, diese Blätter holen? Und wozu? Ich müßte an meine Sicherheit denken. Sicherheit! Von solcher Sorge bin ich geheilt. Ich denke nicht mehr an die möglichen Folgen, wenn ich niederschreibe, was mir durch den Kopf geht. Ich muß wohl, wie meine biblischen Vorfahren, an die magische Kraft des Wortes glauben.

Am Beginn unserer Arbeit glauben wir alle, oder doch fast alle, an die Heiligkeit unseres Berufs. Da gibt es kaum einen, der, wenn er auf den Stab des Pedells den Eid des Hippokrates leistet, nicht tief davon angerührt wäre. Später vergessen es viele. Ich bin dem Ideal vierzig Jahre lang treu geblieben. Da ist mein zertrampelter Körper, das haben Menschen getan, die hassen müssen, um leben zu können. Aber ich bin mir selbst nicht untreu geworden.

Vierzig Jahre lang Arzt im Armeleuteviertel. Und eines Tages kommt ein Papier mit einem Stempel. Man teilt mir mit, daß mein Titel nun nicht mehr gilt. Besser gesagt, er galt niemals. Die vierzig Jahre Arbeit? Kurpfuscherei, nichts weiter. Mehr noch: ich habe das deutsche Fleisch geschändet, indem ich es berührte mit meiner jüdischen Hand. Das ist eine Todsünde, die ausgerottet werden muß. Wären sie konsequenter, sie müßten mich bestrafen wegen Rassenschande.

Aber sie sind großmütig. Das Vergangene bestrafen sie nicht. Nur das, was von jetzt an getan wird. Ich bin kein Doktor, kein Arzt mehr. Aber auch kein gewöhnlicher Laie. Heilgehilfe, so heißt das jetzt. Ich darf andere Juden behandeln. Aber wehe, wenn ich mit meiner unreinen Hand den Körper eines Ariers berühre oder mir seine Ängste anhöre! Ich habe die Verfügung gelesen und gut verstanden.

Das Stück Himmel, das ich durch das Gitter sehe, ist verblaßt. Und die Glühbirne ist plötzlich angegangen. Ich spüre wieder den Schmerz in den Gliedern und im Gesicht. Ich glaube, ich bin müde.„Schreiben! Etwas tun.“ Wer hätte gedacht, daß das die Schmerzen lindert? Die Schmerzen des Körpers und der Seele. Was wird mit mir geschehen? Was werden sie mit mir machen, wenn ich gesund werde? Soll ich formell angeklagt werden? Oder nur gefangen gehalten wie so viele andere? Wird es noch mehr Schläge, noch mehr Martern geben? Das schwache Fleisch fühlt weiter die Angst trotz allem.

Der Wärter ist gekommen, und ich habe das Papier rechtzeitig versteckt. Habe versucht aufzustehen, aber er hat mir ein Zeichen gemacht, liegenzubleiben. Habe ich diesen Mann schon einmal gesehen? Sein Gesicht kommt mir bekannt vor. War er es, der mir Bleistift und Papier gebracht hat? Vielleicht habe ich ihn vor Jahren behandelt. Oder seine Mutter. Oder sein Kind. Ich darf ihn nicht zu viel anschauen. Er vermeidet es auch. Läßt mir den Blechnapf und ein Stück Brot und geht. Wenn ich das Brot in die Flüssigkeit tauche, kriege ich es wohl durch meine schmerzhafte Mundhöhle. Ich werde es versuchen. Denn ich will leben. Wenn ich auch nicht weiß, wozu, und auch nicht, was mich erwartet, ich will leben!

Es ist merkwürdig, aber dieser Lebenswille ist jetzt stärker als vorher. Was ich damals dachte und fühlte, weiß ich nicht mehr. Die Tatsachen weiß ich. Es war elf Uhr nachts. Anna und ich hatten uns schon hingelegt, aber wir schliefen noch nicht. Da läutete es. Nichts Besonderes. In vierzig Jahren Praxis gewöhnt man sich daran. Selten vergeht eine Nacht, ohne daß man aufstehen muß. In letzter Zeit freilich nur selten. Es lebten ja nicht mehr viele Juden in Wien.

Wieder die Glocke. Schon gut, ich komme ja schon. Habt doch ein bißchen Geduld, ich muß mich ja anziehen.

„Herr Doktor, bitte helfen Sie mir. Meine Frau! Sie hat furchtbare Bauchschmerzen. Ich glaube, es ist der Blinddarm.“

Ohne Zweifel, der Mann war kein Jude.

„Lieber Herr, ich darf Ihre Frau nicht behandeln. Sie wissen doch, daß es verboten ist. Es tut mir wirklich leid.“

Was hätte ich sagen sollen? Es war absurd, aber eine andere Antwort gab es nicht.

„Ich weiß, Herr Doktor. So ein Unrecht! So lange haben Sie uns behandelt. Wir habne Vertrauen zu Ihnen. Helfen Sie uns!. Meine Frau stirbt! Wir zahlen Ihr Honorar.“

Zahlen! Das fehlte noch. Als wenn ich das je zur Bedingung gemacht hätte! So oft konnten die Leute nicht zahlen. Die Krise, die Arbeitslosigkeit. Ich habe mich nie geweigert. Und oft genug noch das Geld für die Medizin hingelegt.

„Ich darf nicht. Wenn ich gehe, werde ich eingesperrt. Oder noch Schlimmeres. Rufen Sie Doktor Seidel. Oder Doktor Frankenhauser. Da sind die Adressen. Sie behandeln Ihre Frau so  gut wie ich.“

Der Mann machte eine Geste der Verzweiflung. „Ich hab’s schon versucht. Das Telefon ist ausgehängt. Und wenn ich läute, öffnet niemand. Die sind nicht wie Doktor Grünberg. Wir wissen schon, warum wir zu Ihnen Vertrauen haben.“

Ich schwieg. Natürlich war es nicht das Lob, was mich schwanken ließ. Zu oft hatte ich das gehört. Es war die menschliche Pflicht. Der Eid, den ich geleistet hatte. Gegen das Gesetz handeln oder gegen mein Gewissen: ich mußte wählen. Sie konnten absurde Gesetze erlassen. Aber was konnte die arme Frau dafür?

„Warten Sie einen Augenblick. Ich hole meine Tasche.“

Anna versuchte kaum, mich zurückzuhalten. Sie fragte nur, ob der Mann vertrauenswürdig aussehe. Ich sagte, ja.

Ich fragte ihn, wohin wir gingen. Er sagte, wir müßten die Prater-Au durchqueren. Dann fragte er, ob ich müde sei. Ich schüttelte den Kopf. Ein Armeleutearzt ist das Laufen gewöhnt. Mehr hatte mich in letzter Zeit das Nichtstun gestört. Sicher ging es in die neue Siedlung am Donau-Ufer. Solange mein Titel noch galt, hatte ich oft dort zu tun.

Aber wir kamen nicht bis dorthin. Kurz vor der Hauptallee stürzten sich zwei Männer auf mich. Es geschah so plötzlich, daß ich mich gar nicht wehrte. Es hätte auch nichts genützt. Ein Siebzigjähriger gegen drei starke Männer! Sie banden mich an einen Baum. Vor mir stand eine Frau.

„Seht ihr? Der hat mein Kind umgebracht. Vor sieben Jahren. Erinnerst dich nicht, was?“

Und sie schleuderte mir den Namen ins Gesicht: „Hanni Brunnleitner“.

Ich erinnerte mich gut. Wie könnte ich das arme Kind vergessen? Lange genug hatte ich deswegen nicht schlafen können. Und es war mir kein Trost, daß ich getan hatte, was möglich war.

Ich schwieg. Die Frau genoß ihren Triumph.

„Tut ihm noch nichts. So lange hat er ruhig gelebt, und mein armes Kind ist unter der Erde. Laßt ihm Zeit, sich zu erinnern. Dann soll er haben, was er verdient.“

Ich brauchte nicht viel Zeit. Hatte den Fall gut im Gedächtnis. Auch damals hatten sie mich nachts geholt. Damals galt mein Titel noch. Wir gingen schnell, fast im Laufschritt. Und der Mann, der mich geholt hatte, drängte noch mehr zur Eile. Ich sah das Kind. Es war ganz blau im Gesicht, und mit verzweifeltem Keuchen rang es um ein bißchen Luft für seine Lungen.

Dia Diagnose war klar: Diphterie-Krupp. War denn dieses Kind nicht geimpft? Es gab die furchtbare Krankheit doch kaum mehr!

Ich verlor keine Zeit mit Fragen. Verlangte eine Rasierklinge. Die Frau schrie: „Was tun Sie dem Kind?“ Aber der Mann gab mir zum Glück, was ich brauchte.

Ich brauchte auch eine Gummi-Röhre, und es gab keine. Da fiel mir mein Blutdruck-Apparat ein. Mit der Klinge schnitt ich ein Stück Schlauch ab.

Und dann, ohne Anästhesie, machte ich einen tiefen Schnitt am Hals. Ich hätte die Schilddrüse verletzen können oder die Arteria Recurrens. Aber ich hatte Glück. Die Luftröhre war geöffnet und ich konnte den Schlauch einführen. Die Wunde blutete stark, aber das Mädelchen holte einmal tief Atem, atmete dann langsamer und das Gesicht bekam wieder seine natürliche Farbe.

Sieben Jahre war das her. Wie lange hatte meine Intervention gedauert? Nicht viel länger als jetzt die Erinnerung. Der Blick der Frau war voll Haß. Hat so viel Haß denn Platz in einer Menschenseele?

Damals hatte sie sich auf die Knie geworfen und versucht, meine Hände zu küssen. Sie schrie, ich sei ein Gott und könne die Toten wecken. Es war entsetzlich. Aber ich war glücklich wie immer, wenn mir ein Leben zu retten vergönnt war. Das Kind atmete ruhig, und auf seinen Lippen war so etwas wie ein Lächeln.

Ich machte mich los von der Frau und verband die Wunde. Legte einen nassen Lappen auf die Öffnung des Röhrchens und sagte, sie sollten das Kind ins Hospital bringen.

Am Morgen rief ich dort an, und man sagte mir, es sei alles in Ordnung.

Dann hörte ich nichts mehr. Aber einige Wochen später sagte man mir im Hospital, das Mädelchen sei gestorben. Bronchopneumonie. Die Familie sei voll Wut auf mich abgezogen. Jemand hatte ihnen gesagt, ich hätte einen schmutzigen Schlauch verwendet.

So endete das. Ich hatte rasch und richtig gehandelt. Aber ein unvermeidliches Detail hat alles zunichte gemacht. Nein, der Arzt ist kein Gott!

Die Frau meinte nun, sie hätte mir genug Zeit gelassen. Vielleicht ärgerte sie auch, daß ich nicht meine Würde verlor. Ich schrie nicht und zitterte nicht und bettelte auch nicht um Erbarmen. Aber das war weder Kraft noch Tapferkeit. Ich dachte einfach anderes: an das arme Kind, und daß der Mensch im Grunde so wenig vermag.

Jetzt gab die Frau den Männern ein Zeichen. Und sie gehorchten. Warum nur, mein Gott!? Sie war verblendet von Schmerz und Haß. Von den Rachegedanken, die mit der Zeit nur stärker geworden waren. Aber warum die drei Männer? So leicht bringt man den Menschen zur Bosheit?

Sie stülpten einen Sack über meinen Kopf und preßten ihn gegen den Baum. Einer hielt meine Füße. Dann kamen die Schläge. Gegen das Gesicht, gegen den Magen, gegen den Unterleib. Im Anfang übte mein Gehirn noch eine gewisse Kontrolle. Ich erinnerte mich, Dummkopf der ich bin, an die Physiologie. Daß mir der Atem stockte, das war der Lähmungsreflex infolge eines Schlages auf den Solarplexus. Dann war da nur mehr blindes Entsetzen. Vielleicht hätte es mich erleichtert zu schreien. Aber ich hatte einen Knebel im Mund und konnte auch nicht atmen.

Ich habe wohl das Bewußtsein verloren. Als ich plötzlich andere Stimmen hörte, lag ich am Boden.

„Was soll denn los sein? Das ist ein Jud, der sich für einen Arzt ausgibt. Kurpfuscherei. Wir haben in flagranti gefaßt.“

Da gab es anscheinend eine Diskussion, deren Sinn ich nicht begriff. Plötzlich schrie die Frau:

„Mischen Sie sich nicht ein! Mein Vetter ist bei der Gestapo. Ferdinand, zeig ihm den SA-Ausweis!“

Das Argument wirkte anscheinend. Aber die Wut der vier gegen mich hatte noch zugenommen. Jetzt traten sie mich mit den Stiefeln. Und die Frau hetzte weiter:

„Nur zu, Ferdinand! Los, Karl! Gebt ihm Saures! Er verdient’s. Saujud, der er ist. Reich geworden ist er vom Leutumbringen. Soll er’s jetzt selber spüren!

Wieder verlor ich das Bewußtsein. Und kam zu mir, mehrere Tage später, hier in der Zelle.

Bleistift und Papier! Der mir das brachte, wußte er, was mir geschehen war? Und warum tat er es? Wollte er mir helfen damit? Will ich denn überhaupt, daß jemand liest, was ich hier schreibe?

Was wird sein? Ich kann schon sitzen. Ich kann schon ein paar Bissen essen ohne diesen furchtbaren Schmerz im Mund. Was doch das menschliche Fleisch aushält! Wozu? Ich werde doch keine Gelegenheit mehr haben, den Menschen zu helfen.

Es kommt jetzt weniger Licht durch das Gitter. Sie zünden die Glühlampe früher an und löschen sie später aus. Es ist kalt. Der Wärter hat eine Decke gebracht. Wie lange habe ich gebraucht, um das aufzuschreiben? Sicher viele Wochen. Erst schrieb ich langsam. Wort für Wort, Zeile für Zeile. Ich wurde bald müde. Hab stundenlang nachgedacht, bevor ich weiterschrieb. Später, als meine Kräfte zurückkamen, ging es schneller. Und jetzt ist es ein richtiges Bekenntnis geworden, eine Bilanz meines Denkens und Lebens.

Was jetzt? Kann ich den Wärter bitten, diese Blätter meiner Frau zu geben? Oder ist es besser, sie mit der schmutzigen Wäsche hinauszuschmuggeln? Will ich denn überhaupt, daß jemand das liest?

Morgen werde ich versuchen, mich an die Tür zu stellen. Vielleicht schicken sie mich wohl auch zum Verhör. Daß ich ihnen Dinge sage, die ich sicher nicht weiß. Oder sie beschuldigen mich, diese Leute überfallen zu haben. Vielleicht sollte ich lieber auf der Pritsche liegenbleiben, damit sie mich in Ruhe lassen wie bisher.

Aber nein! Ich will mich nicht totstellen. Was geschehen soll, mag geschehen. Ich habe mein Leben gelebt.

Ist diese Frau jetzt zufrieden, nachdem sie sich an mir gerächt hat?

Was sind wir Menschen doch! Wird diese Erde immer ein Jammertal bleiben? Wie müßte die Welt wohl beschaffen sein, daß die Güte gedeiht und die Bosheit verschwindet?