Um die aktuelle Situation besser zu verstehen, lohnt sich ein Rückblick auf das letzte Jahrzehnt. In dieser Zeit lief die internationale Wirtschaft auf Hochtouren, was zur Folge hatte, dass viel internationales Finanzkapital nach Brasilien kam. Der Wirtschaftsaufschwung brachte für Brasilien zwischen 2002 und 2010 einen durchschnittlichen jährlichen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes von vier Prozent. Durch diesen Zuwachs konnte der Staat in die nationale Produktion investieren. Die Nationalbank BNDES (Banco Nacional de Desenvolvimento Econômico e Social) gab Millionenkredite an Privatunternehmen wie Vale do Rio Doce, Usiminas, Odebrecht, Tim oder Renault. Durch diese Politik konnte sich die Regierung die Unterstützung der PrivatunternehmerInnen sichern. Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva sagte einmal treffend: Es brauchte einen Metallarbeiter, um Brasilien in ein kapitalistisches Land zu verwandeln.
Mit diesem Wachstum stiegen auch die Kredite für Immobilien und das Sozialwohnungsprogramm Minha Casa Minha Vida (Mein Haus, mein Leben). Sozialwohnungen wurden mit staatlicher Finanzierung gebaut, was wiederum ein gutes Geschäft für die Baufirmen bedeutete. Durch diese sozialpolitischen Maßnahmen konnte die extreme Armut beträchtlich gesenkt werden, auch die Arbeitslosigkeit ging zurück.
Zwischen 2002 und 2012 gab es allerdings keine strukturellen Veränderungen. Die Regierungen der PT waren letzten Endes eine Fortsetzung der neoliberalen Vorgängerregierungen. Die Wirtschaft wuchs, UnternehmerInnen in den Bereichen Agrar- und Finanzwirtschaft und der Industrie profitierten davon.
Dann deckte 2014 die Operation Lava Jato (zu deutsch etwa Hochdruckreiniger oder Waschstraße) auf, dass all diese Investitionen und Aufträge in einem weiten Netz der Korruption verwoben waren, in dem Geldflüsse umgeleitet, Bestechungsgelder gezahlt und angenommen wurden sowie unerlaubte Bereicherung und unbegründete Bevorzugung stattgefunden hatten. Darüber hinaus zwangen die Exportkrise und der Rückgang der Kapitalzuflüsse von außerhalb die Regierung dazu, ihre Investitionen drastisch zurückzufahren. Seit 2012 befindet sich die Wirtschaft deutlich in einem Abwärtstrend. Die globale Wirtschaftskrise verstärkte dies noch und das Bruttoinlandsprodukt sank 2015 um 3,8 Prozent.
Die Unterstützung von Seiten der PrivatunternehmerInnen geriet mit diesen Entwicklungen ins Wanken, die Bevölkerung war mit einem Korruptionsskandal konfrontiert im Übrigen der erste, bei dem in diesem Maße ermittelt wird. So stieg die Unzufriedenheit mit der Regierung in rasender Geschwindigkeit. Die Sonntags-Demonstrationen, bei denen sich meist wohlhabende und weiße BrasilianerInnen in die Nationalflagge hüllen, um ihr Fora Dilma! (Weg mit Dilma!) zu rufen, gewannen an Popularität. Bei den Protesten wurde das Impeachment-Verfahren, das die Präsidentin vorzeitig aus ihrem Amt entheben soll, mit steigender Vehemenz gefordert. In die Defensive gedrängt, riefen auch Lula und die PT zu einer Reihe von Protesten auf, die wiederum die Regierung verteidigen sollten. Das Ziel war, einen nationalen Zusammenschluss von ArbeiterInnen und ArbeitgeberInnen zu erreichen, um den Prozess des Impeachment zu verhindern. Trotz aller Anstrengungen, die eigenen Reihen zu mobilisieren, konnte nun das Amtsenthebungsverfahren in der ersten Instanz, der Abgeordnetenkammer, durchgesetzt werden.
Man kann in diesem Prozess von einem kalten Putsch reden, bei dem eine konservative politische Gruppierung ihre GegnerInnen in der Staatsverwaltung wegfegen will. So soll mithilfe einer einfachen Mehrheit im Parlament in aller Eile eine legale Grundlage dafür geschaffen werden, um eine wirtschaftliche Austeritätspolitik zu implementieren, ohne dabei die Wahlergebnisse zu respektieren. Zusammen mit dem Impeachment gewinnt das Team der rezessiven Strukturanpassung, das nun die wichtigsten Posten in der Regierung neu besetzt. Die Präsidentin wird dabei weder für irgendeine Straftat verurteilt, noch, entgegen der weit verbreiteten Meinung, aufgrund des Korruptionsskandals. Die Medien tragen zu dem Eindruck bei, das Impeachment sei eine direkte Konsequenz der Operation Lava Jato. Auf legaler Ebene besteht allerdings keine Verbindung. Tatsächlich wird Dilma Rousseff vorgeworfen, auf exzessive Weise staatliche Gelder ausgegeben zu haben. Im Rückschluss heißt das, dass es darum geht, eine Gegenreform durchzusetzen, die die Verwaltung der Staatsausgaben neu regelt.
Die wichtigste Protagonistin dieses sich anbahnenden institutionellen Staatsstreiches ist die PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira), die Partei, die bei den letzten Präsidentschaftswahlen eine knappe Niederlage einstecken musste und dies nie akzeptiert hat. So begann sie, die wachsende Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Konjunktur sowie die Protestbewegungen der Jugend für ihre Zwecke zu nutzen und sich in den konservativen Teilen der Gesellschaft zu etablieren, vor allem in der oberen Mittelschicht (mit einem Einkommen über 1500 US-Dollar im Monat). Mit ihrem bei den Wahlen geschlagenen Kandidaten Aécio Neves machte die PSDB eine intensive politische Kampagne, um diese unzufriedenen Stimmen in einer sozialen Bewegung zu kanalisieren, die eine rechte Opposition zur Regierung bilden könnte. Dieser politische Prozess vollzog sich, während gleichzeitig die Wirtschaft ins Stocken geriet und sich auf eine Rezession zubewegte. Damit bekamen diejenigen Zulauf, die einen konservativen Politikansatz vertraten sowie die Reduzierung der Staatsausgaben und der öffentlichen Investitionen forderten. Es wurde erbittert darum gekämpft, die neoliberalen Elemente der Politik zu verstärken.
Auch die PT widmete bereits einen Großteil ihrer Ausgaben für die Bereicherung der GroßgrundbesitzerInnen und der Agrarwirtschaft, der Banken sowie der Industrie und ist erneut dazu bereit, Gegenreformen in Angriff zu nehmen. Trotz alledem sind die PSDB und ihre Alliierten der Garant dafür, diese Veränderungen noch schneller und mit größerer Effizienz durchzusetzen. Die PSDB, die nun auch die Unterstützung der PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro die bisherige Koalitionspartei der PT) erringen konnte, versucht die politische Krise mit einem Krieg der Sterne, einem Streit weit oben zu lösen, um so zu verhindern, dass sie in einen direkten Kampf auf der Straße mündet, der eine Beteiligung der Bevölkerung bei der Lösung der politischen Krise mit sich bringen könnte. Aus diesem Grund stehen nicht allgemeine Neuwahlen, sondern das Impeachment-Verfahren im Vordergrund.
Man kann schlecht behaupten, dass die arbeitenden Klassen in Brasilien keine Probleme hätten, wenn man die PT in Ruhe walten ließe. Die nationale und internationale Krise bleibt auf der Tagesordnung. Aus diesem Grund müsste eine linke Politik unabhängig von der Regierung, von den ArbeitgeberInnen und den PutschistInnen geschaffen werden. Die Linke hat es allerdings bisher nicht geschafft, einen unabhängigen Weg einzuschlagen, der den schlechten Kompromissen und politischen Fehlgriffen der PT sowie den Putschversuchen der Konservativen durch das Impeachment und den Plänen der ökonomischen Strukturanpassung etwas entgegensetzen könnte.
Die PSTU (Partido Socialista dos Trabalhadores Unificado) und die PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) sind die zentralen linken Parteien in Brasilien. Die PSTU rief die Losung Weg mit allen (Fora todos) aus, neben der Forderung nach bedingungslosen Neuwahlen. Sie ruft zu einem Generalstreik auf, der die gesamte Regierung stürzen und Neuwahlen für alle Posten der Regierung herbeiführen soll. Der Sturz der Präsidentin soll also nicht verhindert werden, mit dem Hinweis darauf, dass eine Regierung, die gegen die Interessen der ArbeiterInnen agiert, nicht verteidigt werden könne. Die PSOL vertritt in ihrer Mehrheit die parlamentarische Opposition zum Impeachment und der Haushaltsanpassungen, ohne dabei das politische System an sich zu diskutieren. Ihr linker Flügel, der von Luciana Genro vertreten wird, positioniert sich ebenfalls gegen das Amtsenthebungsverfahren, fordert allerdings vorgezogene Neuwahlen. Keine der Parteien ist dazu bereit, eine gemeinsame Front gegen das Impeachment zu bilden, um die Verstärkung rechter und konservativer Kräfte rund um die PSDB zu verhindern und die Rechte der ArbeiterInnen zu verteidigen. Obwohl sie die Linke in Brasilien repräsentieren, bieten weder die Position der PSTU noch die des linken Flügels der PSOL einen fortschrittlichen Ausweg für die Linke. Auch ist die Alternative einer Selbstorganisierung der Basisbewegungen nicht in Sicht.
Letzten Endes bedeutet die Absetzung der Präsidentin Dilma und die Regierung des Vizepräsidenten Michel Temer mit seinem reaktionären politischen Projekt den Beginn einer neuen Phase des Klassenkampfes. Denn der Kampf gegen eine rückschrittliche Politik scheint tatsächlich an Stärke zu gewinnen. Die brasilianische Jugend ging im Juni 2013 mit Tausenden auf die Straße, besetzte 2015 mehr als 200 Schulen gegen die Bildungspolitik des Bundesstaates São Paulo und die ArbeiterInnen intensivieren ihre Streiks. Eine Alternative aufzuzeigen wird für die Linke immer wichtiger.