Im nachfolgenden Interview mit Esther Andradi, die selbst einen Beitrag zu dem Band beisteuerte, geht Lilian Elphick auf die Entstehungsgeschichte von „Brevirus“ ein.
Erinnerst du dich an den Moment, als du beschlossen hast, herauszufinden, wie die Mikrofiktion an die Situation herangeht, in der wir derzeit leben? Oder gab es diesen Moment gar nicht, und die Idee entwickelte sich allmählich?
Mir fiel schon im März ein, eine Anthologie mit Minifiktionen zu machen, als noch niemand sicher wusste, was uns bevorstand, uns aber schon die Haare zu Berge standen. Ich hatte großen Stress, da ich wegen der Quarantäne und der geschlossenen Grenzen meine Familie nicht besuchen konnte: Ein Teil lebt in Toronto/Kanada, der andere in der Region von Valparaíso/Chile. Die einzige Möglichkeit, Unsicherheit und Angst in den Griff zu bekommen, sah ich darin, mich auf etwas zu konzentrieren, das nicht nur für mich, sondern für alle von Wert wäre. Die Thematik lag auf der Hand: Ausgangssperre und kollektive Psychose. Ich wollte Covid-19 nicht explizit nennen. Wie bei anderen Anthologieprojekten der Zeitschrift „Brevilla“ rief der Vorschlag in den sozialen Medien eine sehr positive Resonanz hervor. Ich hatte die potenziellen Autor*innen gebeten, Titelvorschläge zu unterbreiten, es wurde demokratisch abgestimmt und am Ende fiel die Wahl auf Brevirus.
Der Name ist absolut genial: Er verbindet den Namen der Zeitschrift mit der Problematik, unter der wir leiden.
Welche Erwartungen hattest du, als du den Aufruf verbreitetest? Das geschah ja in einem sehr besonderen Moment.
Ganz genau, die Umstände sind nach wie vor fürchterlich, nicht wegen des Virus selbst, sondern weil mit ihm umso heftiger alte und bekannte zerstörerische Verhältnisse und Verhaltensweisen zum Vorschein kommen, wie der Schwarzmarkt, Plünderungen, Rassismus und Klassendünkel, Ungleichheit, Hunger und Gewalt jeder Art. Die Lage war und ist sehr schlecht und irgendwann dachte ich, die Anthologie würde nicht „zünden“. Aber sie zündete, und sogar mit titanischer Kraft. Ich muss dazu sagen, dass die Mühen bei „Brevirus“ nicht allein auf meinen Schultern lagen, vielmehr hat eine ganze Gruppe von Schriftsteller*innen, Freund*innen von Büchern und Lektüre und insbesondere von Minifiktion mitgearbeitet. Für die Sammlung der ankommenden Texte kann ich dem Team der Verantwortlichen nicht genug danken: Alejandro Bentivoglio (Argentinien), Eliana Soza (Bolivien), José Manuel Ortiz S. (Mexiko), Geraudí González (Venezuela), Guillermo Bustamante, Geraudí González und Cristian Garzón (Kolumbien), Sergio Astorga (Portugal und Brasilien), Jorge Etcheverry (Kanada, USA), Alberto Sánchez Argüello (Nicaragua), Rony Vázquez (Peru), und dem Schriftsteller und Professor Camilo Montecinos, der mir generell bei der Herausgabe geholfen hat. Gleichfalls danke ich dem spanischen Schriftsteller und Informatiker Lluis Talavera für seine technische Mitarbeit.
Wie löst du das Spannungsverhältnis zwischen Herausgeberin und Schriftstellerin? Oder gibt es das für dich nicht, und alles ergibt sich so, wie du es für richtig befindest?
Ich habe kein Problem damit, Schriftstellerin und Herausgeberin zu sein. Ich habe ungefähr seit den 90er-Jahren Literatur verbreitet, an Kongressen, Treffen, Foren und Gesprächen teilgenommen und sie organisiert. Von 2003 bis 2015 war ich zusammen mit dem Schriftsteller Miguel de Loyola Herausgeberin des Portals „Letras de Chile“. Mit Stolz kann ich sagen, dass die Website „Letras de Chile“ eine der ersten chilenischen Seiten war, die ab dem Jahr 2000 konstant Minifiktion verbreitet hat.
Ich glaube fest daran, dass die Arbeit des/der Schriftsteller*in sich nicht darauf beschränkt, vom Thron der Arroganz aus selbst Werke zu schaffen, sondern dass es seine und ihre Pflicht ist, das Buch und die Lektüre zu fördern. Und ich sage „Pflicht“, weil das meiner Meinung nach zum Erschaffen von Literatur gehört. Literatur ist ein dialektisches System der Gemeinsamkeit zwischen Schreibenden und Lesenden.
Die Pandemie, die Bedingungen der Isolierung, das Fehlen des physischen Kontakts, die Einschränkungen, die dies bedeutet – inwieweit beeinflusst und modifiziert das deinen Schaffensprozess?
Angesichts der Möglichkeit des Todes kann man nur Kraft aus der Schwäche schöpfen. Ausgangssperren hat es in der Geschichte der Menschheit immer gegeben. Ich muss immer wieder an Anne Frank und ihre Familie erinnern, die zwei Jahre in einem geheimen Anbau eines Hauses versteckt waren, bis sie entdeckt und in ein Vernichtungslager der SS verschleppt wurden. Edith, Anne und Margot Frank starben in jenen grauenhaften Baracken. Ich, die ich dies bei mir zu Hause schreibe, kann mich also nicht beklagen, ich habe kein Recht zur Klage, während es andere Annes gibt, die verbannt und verfolgt sind, Hunger leiden und an Covid-19 oder irgendeinem anderen Virus sterben. Die sogenannte „Normalität“ ist eine Täuschung. Wenn wir je wieder aus dieser Epidemie herauskommen, ist nichts mehr wie zuvor, weder im Guten noch im Bösen. Ich werde weiter schreiben und Literatur verbreiten. Das ist mein Widerstand und der von vielen anderen.
Sandra Bianchi (Argentinien)
Drei Pandemie-Haikus
Nur Gesichtsmasken.
In den Straßen eine Parade
von traurigen Augen.
*
Nur Gesichtsmasken
an einem Einkaufstag
als ob nichts wäre.
*
Nur Gesichtsmasken
Abstand wahrend
von anderen, von sich.
Nanim Rekacz (Argentinien)
Extreme Vorsorge
Auf die Spitzen meiner Finger zeichnete ich Augen, damit sie vorab schauen, wo sie sich abstützen können.
Omar Julio Zárate (Argentinien)
Seuche
Man erklärte mich für immun.
Man erklärte mich für immun und nahm mich mit, um zu versuchen, einen Impfstoff herzustellen.
Man erklärte mich für immun und ich bin der einzige Überlebende.
Man erklärte mich für immun und das war das Schlimmste, was mir passieren konnte.
Silvia Rózsa Flores (Bolivien)
Social Distancing
Während der Pandemie wird niemand als Rassist bezeichnet.
Ernesto R. Del Valle (USA)
Zwei Jahrhunderte später
Sehr später Nachmitttag. Ein Junge von acht oder neun Jahren und seine Mutter, mitten in der dichten Vegetation, die Bäume entlang laufend auf der Suche nach Blättern, Früchten und jedweder essbaren Pflanze, die alle in einen Beutel aus geflochtenen Lianen geworfen werden.
Der Junge sieht seine Mutter an und fragt:
„Mami, wann erzählst du mir endlich, was mit dem Coronavirus zu Zeiten meines Urgroßvaters passiert ist?“
„Heute Abend, mein Schatz, aber jetzt beeil dich, es wird schon dunkel und wir müssen zurück, um das Lagerfeuer in der Höhle anzuzünden, das uns vor den wilden Tieren schützen wird.“
Camilo Montecinos G. (Chile)
Was die Welt rettete
„Hiermit wird die Bevölkerung darüber informiert, dass der Impfstoff gegen das Virus zu den angegebenen Öffnungszeiten lieferbar ist“, hört man aus dem Lautsprecher. „Die Impfung ist kostenlos“, wird angefügt. Die Menge hört nicht hin. Die Leute erledigen weiter schnell ihre Einkäufe und bilden lange Schlangen und Menschentrauben, um sich einzudecken. Sie suchen weiterhin nur das Notwendige. Vor fünf Jahren brach die Pandemie aus, und sie lernten, damit zu leben, mit Gesichtsmasken und Handschuhen, als Sicherheitsmaßnahme Abstand und Isolierung. Für sie war die Quarantäne das Heilmittel.
Silvana Goldemberg (Kanada)
Isolierung
Müde von den Verpflichtungen, der Routine, all dem Konsum, der Heuchelei, der Ungerechtigkeit, den Medien, der Kriege, zog sie sich auf sich selbst zurück.
Sie überlebte die Pandemien.
Silvia Fabaretto (Venedig, Italien)
Monterroso in der Pandemie
Als er erwachte, war der Dinosaurier immer noch dort, zwischen Pumas und Enten auf der von Menschen entleerten Erde herumstreifend, endlich sauber und frei. Er atmete vor Erleichterung tief durch.
Lorena Escudero (Spanien)
Hausitis
Die Frau hatte mehrmals angerufen und sich darüber beklagt, dass das Haus immer kleiner würde und ihr die Wände auf den Kopf fielen. Es waren viele, die seit dem Beginn der Quarantäne unter dieser Vorstellung litten, und wir hatten einen spezialisierten Hilfsdienst für dieses Leiden. Wir nannten es Hausitis. An jenem Tag rief sie an, um ein letztes Mal Hilfe zu erbitten, da sie ab dann das Telefon nicht mehr erreichen können würde. Das machte uns Sorgen, und wir schickten sofort ein Team zu ihr. Aber als sie bei der Adresse ankamen, fanden sie niemanden im Haus. Was es jedoch gab, war, mitten im Wohnzimmer, ein Puppenhaus. Niemand traute sich, hineinzuschauen.
José Manuel Ortiz Soto (Mexiko)
Flügelschläge
Während der Quarantäne kam ein Vogel zu uns, einer von jenen, die wir im Dorf „Kreischer“ nennen, da sie nicht zwitschern. Weil die Nahrungsmittel rar sind, besonders das Fleisch, fing ich ihn. Bevor ich ihm den Hals umdrehte, kam es mir vor, als hörte ich ihn sagen: „Erinnere dich an Wuhan, Alter.“
Arnaldo Rosas (Venezuela)
Enttäuschung
So war das also. Ein Mundschutz aus Stoff. Ein Paar Handschuhe aus Latex. Das Gebot, zu Hause zu bleiben. Filme und Serien im Internet. Mal ein neues Buch, mal ein Buch noch einmal lesen… Dabei hatte ich gedacht, es kämen Pferde mit schrecklichen Reitern, Engel mit Trompeten, die erzittern ließen.
César Zetina Peñaloza (Mexiko)
Ermüdung
Nach einer langen Zeit des Eingesperrtseins wurde der Käfig des Vogels überdrüssig.