Das spanische Namensrecht bietet einen großen Vorteil, wenn es darum geht, Familienverbindungen aufzuzeigen: Die Namen ändern sich nicht durch Heirat und die doppelten Nachnamen ermöglichen nicht nur die Familiennamen beider Großväter zu kennen, sondern auch darüber hinaus einen Teil der weit zurückreichenden männlichen Ahnenreihe zu rekonstruieren. In einem bevölkerungsarmen Land wie Uruguay, das nur über eine relativ kurze Nationalgeschichte verfügt, ergeben sich damit schnell erhellende Einsichten. So zum Beispiel im Fall der Ende 2022 zurückgetretenen Vize-Außenministerin Carolina Ache. Zwar ist der Name Ache durchaus in der politischen Sphäre geläufig, ihr Onkel war bereits Senator und Minister. Ihr familiärer Hintergrund erschließt sich aber erst dann vollständig, sobald man ihren vollen Namen kennt: Carolina Ache Batlle. Allein vier Präsidenten Uruguays hießen mit Nachnamen Batlle, mindestens ein weiterer entstammte ebenfalls dieser Dynastie, die ohne Zweifel die wichtigste „politische Familie“ der liberalen Partei Partido Colorado ist.
Bei deren historischer Konkurrenz, den „Blancos“ von der konservativen Partido Nacional, gibt es entsprechende Strukturen. Die bekannteste Dynastie ist die des aktuellen Präsidenten Luis Alberto Lacalle Pou, dessen Vater Luis Alberto Lacalle Herrera in den 1990er-Jahren Staatsoberhaupt war. Dessen Großvater war wiederum Luis Alberto de Herrera, der zwar nie Präsident wurde, jedoch unbestritten der wichtigste konservative Politiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Bereits dessen Vater hatte zeitweise das Amt des Außenministers inne.
Auch jenseits der Batlles oder Herreras sind in Uruguay weitere geschichtsträchtige Familiennamen anzutreffen. Dies legt die Hypothese nahe, dass Abstammung nach wie vor ein Garant für eine Karriere in den staatlichen Strukturen sein könnte, was insofern überrascht, da Uruguay in der Region als „demokratisches Musterland“ gilt. Vermutlich war und ist die uruguayische Demokratie bei weitem nicht so mustergültig, wie gerne dargestellt.
Parteien entstanden auf dem Schlachtfeld
Zu den großen Mythen der uruguayischen Nationalgeschichte gehört die Behauptung, das Land habe nach Großbritannien die ältesten politischen Parteien im bürgerlich-demokratischen Sinn, schließlich gebe es die „Colorados“ und „Blancos“ schon seit 1836. Entstanden sind diese jedoch nicht in der Debatte oder im Wahlkampf, sondern auf dem Schlachtfeld. Es waren weiße respektive rote Stoffstreifen, die sich die Soldaten um den Arm banden, um, mangels einheitlicher Uniformen, Freund und Feind unterscheiden zu können. Damit begründeten sie eine politische Farbenlehre, die nicht nur die militärischen Auseinandersetzungen in den darauffolgenden 15 Jahren dominieren sollte, sondern auch die politischen Machtverhältnisse in Uruguay in den kommenden 150 Jahren. Dass sich das Führungspersonal der „Colorados“ wie „Blancos“ anfangs aus wenigen Familien speiste, dürfte auch der Demografie geschuldet gewesen sein. Uruguay war zu diesem Zeitpunkt weitgehend unbewohnt. Mitte des 19. Jahrhunderts lebten in dem Land – immerhin halb so groß wie Deutschland – nicht mehr als 140 000 Menschen. Hinzu kam, dass den meisten per Verfassung politische Teilhabe untersagt war. Vom aktiven wie passiven Wahlrecht waren sowohl alle Frauen ausgeschlossen als auch Tagelöhner, Bedienstete, Analphabeten und Personen, die dem Staat Geld schuldeten, sowie die Menschen, die ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts im großen Umfang aus Europa einwanderten und bald die Bevölkerungsmehrheit bildeten. Eine logische Konsequenz davon war, dass die uruguayischen „demokratischen“ Parteien lange Zeit nicht viel mehr waren als der politische Ausdruck einer kleinen wirtschaftlichen beziehungsweise administrativen Elite, die über Jahrzehnte hinweg ihre Privilegien über familiäre und klientelistische Strukturen zu verfestigen verstand.
Erst mit der großen Verfassungsreform von 1917 wurden die Weichen für ein allgemeines Wahlrecht gestellt. Aber es dauerte noch über 20 Jahre, bis alle Vorgaben vollständig umgesetzt wurden. Somit dürfte der Urnengang 1942 der erste gewesen sein, der tatsächlich das Prädikat „demokratisch“ verdiente – 100 Jahre nach der Gründung der ersten Parteien. Der sozialistische Politiker und Historiker Vivían Trías vertrat die Ansicht, dass man nicht mehr als 100 Familien berücksichtigen müsse, um „alle Politiker aller Parteien zu finden, die es jemals in diesem Land gab“. Nach Jahrzehnten, in denen sich die Mitglieder dieser Elite gerne untereinander vermählten, waren nicht wenige dieser „politischen Familien“ auch miteinander verwandt.
Fürstliche Erziehung
In der politischen Kultur des Landes gibt es Elemente des Personenkults, die die Rolle einzelner exponierter Familienmitglieder so wiedergeben, als hätten sie als Einzelpersonen die Geschicke des Landes zum Besseren gewendet. So prägten Batllistas respektive Herreristas auch Jahrzehnte nach dem Ableben der historischen „Lichtgestalten“ – José Batlle y Ordóñez beziehungsweise Luis Alberto de Herrera – die uruguayische Politik entscheidend mit. Und damit auch deren Nachkommen, als seien sie qua Geburt die legitimen politischen Erben glorreicher Vorfahren.
Der uruguayische Politologe Oscar Bottinelli zieht eine weitere Parallele zur Aristokratie: „Der Begriff Fürst bezieht sich auf ein Konzept der Politikwissenschaft. Er bezieht sich auf Menschen, die eine fürstliche Erziehung erhalten, die, weil sie zu politischen Familien, zu Regierungsfamilien gehören, diese Erziehung haben, die dem ähnelt, was Fürsten erhalten, die darin besteht, dass sie die Politik praktisch mit der Muttermilch aufnahmen. Politik ist für sie eine Selbstverständlichkeit. Sie lernen es von ihren Eltern, von den Freunden ihrer Eltern, von der Umgebung, in der sie sich ständig bewegen. Menschen, die auf diese Weise ankommen, sind in gewisser Weise anders (oder früher) vorbereitet als diejenigen, die von außen kommen, ohne familiären Hintergrund.“ Hinzu kommt ein weiteres Erbe, das bis heute die politische Kultur Uruguays prägt. Die politischen Eliten haben administrative und gesetzliche Strukturen ersonnen, die ihnen nicht nur ein sorgenfreies Auskommen garantieren, sondern auch genügend Mittel zur Verfügung bereithalten, um sich Loyalitäten zu erkaufen. Anders gesagt: Es geht um viel Geld.
Hoch dotierte „Vertrauenspositionen“
Mögen sich in Deutschland die Gehälter von Politiker*innen im Vergleich zu denen des Spitzenpersonals in Großkonzernen „bescheiden“ ausmachen, so ist dies in Uruguay nicht der Fall. Das liegt daran, dass es in dem Land keine vergleichbare Kapitalstruktur gibt, die Angestellten Millionengehälter ermöglichen würde. Gleichzeitig ist das allgemeine Lohnniveau ungleich niedriger als in Deutschland. Entsprechend sind bei Top-Verdienenden Monatsgehälter von über 10 000 Euro brutto die absolute Ausnahme. Präsident Lacalle Pou bekommt das Doppelte. Damit ist er aktuell nicht nur das Staatsoberhaupt Lateinamerikas mit den höchsten Bezügen, sein Gehalt entspricht zudem dem 20-fachen des Durchschnittseinkommens.1 Auch sonst lässt sich in der politischen Sphäre sehr viel Geld verdienen. Nicht nur als Mandatsträger*innen im Parlament, in Ministerien oder Leitungsgremien öffentlicher Unternehmen, sondern auch in unzähligen Behörden, Kommissionen, Instituten, Referaten, Beratungsgremien und anderen staatlichen Organen – sowohl auf zentralstaatlicher Ebene als auch in den 19 Regierungsbezirken. Insgesamt sind es tausende Stellen, die ein Einkommen garantieren, von dem die meisten Menschen in Uruguay nur träumen können.
Die wenigsten davon werden nach Eignung vergeben. Dass einige von ihnen als „Cargos de Confianza“ (Vertrauenspositionen) gelten, mag noch schlüssig sein, da auch in anderen Ländern politische „Zuverlässigkeit“ Teil des Anforderungsprofils bei manchen Stellen ist. Allerdings ist es wenig nachvollziehbar, warum es etwa in dem relativ kleinen Ministerium für Soziale Entwicklung mit 2000 Angestellten momentan knapp 200 dieser Stellen bedarf. Außerdem werden viele Stellen ohne Ausschreibung direkt vergeben. Diese Praxis der „Designación directa“ betrifft alle Hierarchiestufen und ist vor allem auf Bezirksebene weit verbreitet. In einigen Teilen des Landes haben über ein Viertel der Bezirksangestellten ihre Stelle auf diesem Weg erhalten. Schließlich liegt verfassungsgemäß die Entscheidung über die „Ernennung und Suspendierung der unterstellten Mitarbeiter“ allein im Verantwortungsbereich der oder des Vorsitzenden der Bezirksregierung. Nach welchen Kriterien die Stellenvergabe erfolgt, ist nicht verbindlich festgelegt und öffnet den Mandatsträger*innen Möglichkeiten zur Schaffung von Abhängigkeitsverhältnissen, die die eigene Position absichern.
Hinterfragt wird dieses System nur in besonders dreisten Einzelfällen, beispielsweise 2021, als 135 neue Stellen für Mitglieder der rechtsextremen Koalitionspartei Cabildo Abierto in dem von ihr geleiteten Gesundheitsministerium eingerichtet wurden oder bei dem Regierungschef des Bezirks Artigas, der zeitweise sieben Verwandte mit „Cargos de Confianza“ versorgte. Eine grundsätzliche Kritik sowie Forderungen nach gesetzlichen Einschränkungen für diese Arten der Vergabepraxis sind indes kaum zu vernehmen. Schließlich bedient sich die politische Linke derselben Mechanismen, um Loyalitäten zu belohnen. In dem von ihr regierten Bezirk Canelones gibt es beispielsweise 60 „Cargos de Confianza“, darunter 35 hochdotierte Leitungspositionen.
Unrühmliches Beispiel der politischen Linken
Auch wenn die Kontinuität der „politischen Familien“ in Uruguay anachronistisch erscheinen mag, reproduzieren sie sich stets aufs Neue. Mögen manche Dynastien im Laufe der Zeit an Einfluss verloren haben oder gänzlich verschwunden sein, an dem zugrundeliegenden Prinzip von „Fürsten-Familien“ und gewinnbringender Loyalität hat sich wenig verändert. Auch die Linke, die einst erfolgreich angetreten war, die Dominanz der „politischen Familien“ der „Colorados“ und „Blancos“ zu brechen, entwickelte die Tendenz, Nachfahren populärer Personen ihrer Geschichte in politische Ämter zu bringen. Das bekannteste (und zugleich ernüchterndste) Beispiel dafür war der Aufstieg von Raúl Sendic, dem Sohn des gleichnamigen Gründers der Guerillabewegung Tupamaros, bis ins Amt des Vizepräsidenten. Dass er 2017, zur Mitte seiner Amtszeit, aus den eigenen Reihen nach mehreren Skandalen und Peinlichkeiten zum Rücktritt genötigt wurde, bestätigte nicht nur zuvor geäußerte Bedenken hinsichtlich seiner Eignung, sondern machte vor allem klar, worin seine Karriere letztendlich begründet war – er war ein Sohn „von jemandem“.