Caliban, die Hexe und Lateinamerika

Sicher ist schon alles gesagt. Von Männern. Shakespeare, Rodó, Césaire, Retamar (siehe „Ariel und Caliban“ auf S. 35). Aber alle, selbst die scharfsinnigsten unter ihnen, mit einem männlichen blinden Fleck. Die Marxistin Silvia Federici, Italo-Amerikanerin, hat einen solchen, besonders schwerwiegenden, bei Marx entdeckt und dazu gemeinsam mit Leopoldina Fortunati 1984 „Il Grande Calibano” veröffentlicht. In dem Buch vertieft sie explizit auch die Thesen der ökofeministischen Soziologin Maria Mies zur entscheidenden Bedeutung der Ausbeutung neuer Territorien, also der kolonialen Eroberungen, bei der Entfaltung des Kapitalismus. Diese war die konterrevolutionäre Antwort auf bäuerliche Rebellionen und den wirtschaftlichen Niedergang der europäischen Feudalregime und geschah unter Anwendung grausamer Gewalt bei der Vertreibung kleinbäuerlicher Menschen von Gemeinschaftsland, um sie zur Lohnarbeit zu „befreien”. Ohne die Erträge aus der Sklaven-Plantagenwirtschaft, so Mies, wäre die ursprüngliche Akkumulation nicht erfolgreich gewesen.

Ohne die Unsichtbarmachung von Frauenarbeit hätte sie auch nicht funktioniert, sagt Silvia Federici. Zur Ausbeutung der Territorien nimmt sie die Ausbeutung der Frauenkörper in den Blick. Das Patriarchat modernisiert sich. Die erste „Maschine“ des Kapitalismus ist der Frauenkörper. Produktion wird nur profitträchtig, wenn unbezahlte, öffentlich „unwerte” Reproduktion mit einfließt. Reproduktion der Arbeitskraft ist dabei in einem sehr weiten Sinne gemeint: von Nahrungsbeschaffung, Hausarbeit und Pflege bis zum Gebären künftiger Arbeiter. Disziplinarmaßnahmen, von physischen Strafen bis zu religiösen und moralischen Doktrinen, waren jahrhundertelang notwendig, um die durch privatisierten Besitz vertriebenen ehemaligen männlichen Bauern in Lohnarbeit zu bringen und die Frauen in „natürlich” untergeordnete, „mithelfende” Stellungen. Die neue geschlechtsspezifische Arbeitsteilung!

Nicht zuletzt nach den Erfahrungen des demographischen Niedergangs nach der großen Pestepidemie (1347-1352) war Geburtenförderung angesagt. Die Kirche, stets im Verein mit den Mächtigen, verbot Sodomie und Homosexualität (die in norditalienischen Städten durchaus frei praktiziert wurde), Städte untersagten Verhütung, Mediziner verdrängten und kriminalisierten Hebammen. Frauen wurden im Recht infantilisiert und sollten nicht mehr „wissen“ dürfen. Überhaupt wurde festgeschrieben, was „Frauen“ sind und zu sein haben (Männer übrigens auch). Die Hexenverfolgung und -verbrennung im 16. und 17. Jahrhundert schafft selbst die Idee freier, selbstbestimmter Frauen ab und war gleichzeitig der Eisberg, unter dem sich eine Jahrhunderte währende, schmerzvolle Zurichtung und Unterordnung weiblicher Körper vollzog.

Die Aufspaltung von Körper und Geist, von der Wissenschaft bestätigt, nutzt ideologisch bei der Disziplinierung der Körper als Herrschaftstechnik, die schon Foucault beschrieb (der laut Silvia Federici seltsamerweise nicht auf die Hexenjagd und Disziplinierung von Frauenkörpern eingeht). Dazu beugen sich Ärzte über die Leichname Gehenkter, um sie zu sezieren. Philosophen sinnieren, wer den Körper kommandiert, wenn der Geist nicht zur Materie gehört.

Der wilde Körper, das ist Calibán, der dekoloniale Kämpfer und Proletarier. Ihm fügt Silvia Federici die Hexe als zweites unabdingbares Symbol für Gegnerschaft gegen und Ausbeutung durch den Kapitalismus hinzu. Frucht der Erweiterung ihres Blicks ist „Caliban and the Witch“ (2004; dt. Caliban und die Hexe, 2012). Was wäre, wenn sich beide durchgesetzt hätten? Eine rhetorische Frage, meint Silvia Federici. Wichtiger ist, weiterzuforschen, aktiv zu werden.

Eine zündende Idee, auch in Lateinamerika. Silvia Federici ist dort so etwas wie ein Guru für feministische Wirtschaftsbetrachtung. Die in Barcelona 2010 erschienene spanische Übersetzung wird benutzt, in Mexiko (2010), Argentinien (2011) und Ecuador (2016) erschienen eigene Ausgaben. In Peru zirkulieren fotokopierte Exemplare. Im Jahr 2016 diskutierten in Paraguay 300 Teilnehmer*innen eines Kongresses Kämpfe und Alternativen feministischer Ökonomie. Silvia Federici hielt die Einführungsrede.

In Brasilien stammt die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2017 unterstützte Übersetzung des Buchs von einem Kollektiv, das sich vielsagend Sycorax nennt: die Hexe aus Shakespeares „Der Sturm“, Calibans Mutter, verbannt, weil sie sexuelles Begehren zeigte. Die Übersetzerinnen interessierte feministische Emanzipation jenseits marxistischer Orthodoxie und falscher Fährte „Integration in Lohnarbeit“, Kolonialgeschichte, Kapitalismuskritik aus Reproduktionsperspektive, Zusammendenken mit afrobrasilianischer und indigener Frauenbewegung, Intersektionalität. Ein Schlüssel zu verstehen, warum Krieg gegen Frauen und Zerstörung der Reproduktionssysteme, also ebenso von Natur und Umwelt, auch nach 500 Jahren Kolonialismus der kapitalistische Königsweg ist (und beendet werden muss).