Ich gebe Einsteigerkurse für Fotografie an Schulen, die in sogenannten „roten Zonen“ liegen. Bevor ich nun über diese Erfahrungen berichte, möchte ich verdeutlichen, dass die unterschiedlichen Spielarten von Gewalt und deren Auswirkungen auf die Jugend vielschichtig sind und sich deshalb auch auf unterschiedliche Art und Weise im Schulalltag manifestieren. Kinder wie auch Jugendliche sind die beiden Bevölkerungsgruppen, die am stärksten von physischer, psychischer, kultureller und soziopolitischer Aggression betroffen sind. Aggression meint hierbei auch das Fehlen von Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten, wirtschaftliche Ungleichheit, den Einfluss der Konsumkultur, eine gesellschaftliche Toleranz von Gewalt, ein nicht funktionierendes Rechtssystem sowie einen Anstieg des Drogenkonsums und -handels. Diese Aspekte haben direkten Einfluss auf den Schulalltag und sind häufig nicht auf den ersten Blick erkennbar.
Gewalt tritt immer dann auf, wenn der Wunsch, etwas Bestimmtes zu erreichen, nur mit Hilfe von gewaltsamen Mitteln erfüllt werden kann. Die meisten Menschen greifen zu gewalttätigen Mitteln, wenn sie sich verletzt, jemandem unterlegen oder gedemütigt fühlen. Auf jeden Fall ist es eine Position der Schwäche, aus der heraus die gewalttätige Person handelt. Schulkinder erleben diese Situationen häufig in ihrem Alltag.
Es ist sehr wichtig zu verstehen, wie diese Gefühle bei Kindern und Jugendlichen umgeleitet werden können; dafür ist es notwendig, ihnen beizubringen, ihre Gefühle zu erkennen und damit umzugehen. Was ist der Grund für ein bestimmtes Gefühl? Wie kann mit bestimmten Emotionen umgegangen werden, ohne Gewalt (gegen mich oder andere) anzuwenden? An dieser Stelle gilt es darauf hinzuweisen, dass in der herkömmlichen, „traditionellen” Schulbildung die Lehrperson immer Recht hat und ihr Wissen sozusagen unantastbar ist; ihnen gegenüber stehen diejenigen, die zuhören und lediglich den Lerninhalt zu empfangen haben. Diese Art von Bildung und Lernen zeigt sich als überholt, wenn es um Gewaltprävention geht; denn hier sind Erzieher*innen und Sozialarbeiter*innen ebenso wie Eltern Vorbilder und stehen in der Pflicht, besonders darauf zu achten, gewaltfreies Handeln gegenüber ihren Kindern an den Tag zu legen – das gilt im Alltag, in der Schule und in der Familie. Weder physische noch psychische oder verbale Gewalt, wie Spott oder Demütigung, sind erlaubt. Stattdessen geht es darum, den Jungen und Mädchen kreative Konfliktlösungen und einen gewaltfreien Umgang miteinander aufzuzeigen.
Aus diesem Gedanken heraus hatte ich die Idee, Fotografie als therapeutisches Mittel einzusetzen, als ich gefragt wurde, den Workshop „Den Frieden einfangen” durchzuführen. Für mich bedeutet das, dass die Teilnehmer*innen nicht nur eine Kamera zur Verfügung gestellt bekommen oder erstes Wissen über die fotografische Sprache erlernen; vielmehr geht es um die Interaktion zwischen den Teilnehmer*innen durch das gemeinsame Fotografieren, Erstellen von Videos und Spielen. Zum einen konnten sie in diesen Arbeiten ihren eigenen sozialen Kontext mit aufnehmen und reflektieren, zum anderen wurde dadurch eine alternative Form der emotionalen Kommunikation und des emotionalen Verarbeitens eingeübt.
Durch das Stilmittel des Selbstporträts oder eines „Selfies“, wie es heutzutage in den sozialen Netzwerken heißt, haben die Teilnehmer*innen ein sehr intimes Ausdrucksmittel gefunden, das wie ein Spiegel (der sogar über den Moment hinaus über einen längeren Zeitraum gespeichert werden kann) Beobachtungen und Reflexionen über die eigene Identität zulässt. Natürlich werden die Aufnahmen der Teilnehmer*innen zu Symbolen und Metaphern, die aus dem Unterbewussten heraus entstehen und ganz im Stillen erlauben, ins eigene Innere zu schauen sowie tiefe Gefühle und Stimmungen auszudrücken. In diesem Workshop konnte ich beobachten, wie jede/r einzelne der Teilnehmer*innen die Fotografie als ein Werkzeug zur Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung nutzte. Die Kamera dient dazu, ein künstlerisches Bild mit unvermeidbarem therapeutischen Effekt zu erschaffen; sie erlaubt, tiefe Emotionen auszudrücken, ohne daran die Verpflichtung zu knüpfen, dass die teilnehmende Person unmittelbar verbal von ihren persönlichen Konflikten erzählen muss.
Die Mehrheit der Teilnehmenden in den Foto-Workshops waren Mädchen im Alter von 14 bis 16 Jahren. Ich konnte erkennen, dass für sie das Selbstporträt ein wichtiges Mittel ist, um sich auszudrücken und sich mit sich selbst zu identifizieren. Man könnte daraus schließen, dass das Selbstporträt sie dabei unterstützt, sich gut mit sich selbst, sich wohl in ihrer Haut zu fühlen. Oder auch, dass sie dadurch den Druck der Schule oder des sozialen Umfelds vergessen können. Zum Beispiel berichtete mir eine Gruppe von Jugendlichen, wie ihre Lehrer*innen sie mit einem enormen Pensum an Hausaufgaben ohne erkennbar pädagogische Ziele überhäuften. Die Lehrkräfte gaben an, dass sie damit die Jugendlichen von den kriminellen Gruppen fernhalten wollten. Den Jugendlichen erschien die Schule allerdings wie ein Gefängnis, in dem sie die ganze Woche eingeschlossen waren.[fn]Schulen in El Salvador sind teilweise tatsächlich von hohen Mauern umgeben, haben Sicherheitspersonal, viele Schüler*innen in kleinen Räumen und wenig Pausenräume.[/fn] Die Teilnahme am Fotokurs war dagegen ein wirklicher Freiraum, in dem sie lernen konnten, sich zu entspannen und sich selbst und andere durch die Kameralinse zu sehen und zu beobachten.
Ich konnte dabei zuschauen, wie sich die Teilnehmer*innen gut untereinander koordinierten, wenn sie sich gegenseitig in Porträts fotografierten. Koordination ist ein wichtiges Element für Teamarbeit. Der Workshop fand in verschiedenen Räumen statt: im Klassenzimmer, im Innenhof oder Garten, an einer Wand; dies gab den Jugendlichen die Möglichkeit, sich einer neuen Gruppe zugehörig zu fühlen. Eine Zugehörigkeit ohne die Erfahrung von Druck oder Demütigung. Eine Inklusion, ein Mit-dabei-sein, eine gemeinsame Teilhabe am Fotoprojekt, das zulässt, alte Muster und verdrehte Ideen zu verändern und somit den gegenseitigen respektvollen Umgang und das Miteinander innerhalb der Gruppe zu stärken.
In den Porträt-Fotosessions sprachen sich die Jugendlichen ab und verkleideten sich (mit Perücken, Brillen, Clownsnasen, Ketten etc.). Zu keinem Zeitpunkt wurde sich hier über die Wahl der Accessoires einer anderen Person lustig gemacht. In diesem Moment gab es ausgezeichnete Teamarbeit. Die Konzentration lag ganz auf der Beobachtung durch die Linse, bevor dann für das Foto abgedrückt wurde. Es braucht solche Räume, ohne sozialen Druck. Räume, in denen sich Jugendliche integriert fühlen und Teil eines – ihres – Projektes sind.
Aus diesem und aus anderen Gründen sage ich als Fotografiebegeisterter, dass die Fotografie mehr als ein künstlerischer Zeitvertreib ist: Sie ist vielseitig einsetzbares Handwerkszeug, um soziokulturelle Grenzen zu überwinden, gesellschaftliche Realitäten zu beschreiben, eigene Perspektiven mitzuteilen und somit das Wissen über die Problematiken der Jugendlichen zu erweitern.