Die Verliererin Keiko Fujimori versucht mit allen Mitteln, das Ergebnis der Stichwahl noch zu ihren Gunsten umzudrehen, während die hegemoniale Medienmacht devot ihre Absichten sekundiert. Sie blockiert die Verkündung eines offiziellen Endresultats mit dem Versuch, bis zu 200 000 Stimmen von ca. 800 Wahlbezirken annullieren zu lassen. Dabei zählt sie auf die Crème de la Crème der Anwälte der peruanischen Eliten, die mit fadenscheinigen und vielfach erfundenen Begründungen ihre Anfechtungen einreichen. Gegen eine Gebühr von über 1000 Soles kann das Gesamtergebnis eines Wahlbezirks mit einigen Hundert Stimmen annulliert werden, wenn ein systematischer Betrug oder andere gesetzeswidrige Eingriffe von außen nachgewiesen werden können. Kurzfristig konnte sie erreichen, dass die abgelaufene Frist für die Eingaben plötzlich erweitert wurde. Durch massiven Protest und eine Mehrheit des Obersten Wahlgerichts wurde dies allerdings rückgängig gemacht, sodass nur ein Teil der Einwendungen angenommen wurde.
In Fujimoris juristischer Strategie offenbart sich der für Peru typische und tief verwurzelte Rassismus, der wie noch nie zuvor in einem Wahlkampf so sehr seine hässliche Fratze gezeigt hat. Die Annullierung soll vorwiegend in den entlegensten Winkeln der Andenregionen stattfinden, in denen Castillo teilweise bis zu 90 Prozent Zustimmung erzielen konnte. Größtenteils handelt es sich um die ärmsten der armen Andenbewohner*innen, die kaum Möglichkeiten haben, sich juristisch gegen Anschuldigungen zur Wehr zu setzen. Jeder annullierte Wahltisch kann eine Anklage wegen Wahlbetrug gegen die Wahlvorstände, häufig mittellose Bauern, Bäurinnen und Landarbeiter*innen, mit sich bringen.
Es muss immer wieder betont werden, dass für Keikos Umfeld und die sie derzeit noch unterstützenden dominanten städtischen Ober- und Mittelschichten die Anden- und Amazonasbewohner*innen im Grunde als unzivilisierte, ungebildete, rückständige und „rassisch minderwertige“ Menschen gelten. Daran hat sich in 200 Jahren Republik kaum etwas geändert. Allein Castillo gewählt zu haben gilt ihnen als Beweis für die (vermeintliche) Ignoranz in den Anden und am Amazonas.
Inzwischen wurden alle Annullierungsversuche in einem tagelangen Wahlgerichtsmarathon der speziellen Wahlgerichte auf Regionalebene abgeschmettert. Nicht eine Begründung hat sich als begründet und stichhaltig erwiesen.
Da diese Strategie im Scheitern begriffen ist, setzt Fujimori nun auf die Delegitimierung der Wahl als Ganze und propagiert nun die Mähr eines systematischen Wahlbetrugs, begangen durch Perú Libre und die „kommunistisch“ infiltrierte Wahlbehörde (sic!). Diese Woche hat ihr juristischer Vertreter und ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofs, Javier Villa Stein, eine Schutzklage (Recurso de Amparo) zur Annullierung des zweiten Wahlgangs vor der Justiz eingereicht. Die Aussichten sind gering, und eine Klage gegen dieses Vorhaben ist auf dem Weg, da die Begründungen lediglich auf politischem Hörensagen beruhen und die Justiz missbräuchlich und verfassungswidrig in Anspruch genommen wird.
Derweil nutzt Literaturnobelpreisträger Vargas Llosa, der inzwischen zum bedingungslosen Anhänger Keikos mutiert ist[fn]Dass Vargas Llosa Keiko unterstützt, könnte ein gutes Omen für Pedro Castillo sein, denn alle Kandidaten, die Vargas Llosa nach seiner eigenen gescheiterten Präsidentschaftskandidatur 1990 unterstützt hatte, landeten nach ihrer Amtszeit wegen Korruption vor dem Kadi – die Red.[/fn], sein internationales Prestige, um den Boden für eine internationale Unterstützung der beabsichtigten Annullierung der Wahl zu mobilisieren und um Keiko einen sicheren Hafen zu verschaffen, sollte sie sich als „politisch Verfolgte“ aus Peru absetzen und den ihr drohenden 30 Jahren Gefängnis entziehen wollen.
Inzwischen hat sich eine Gruppe pensionierter Generäle zu Wort gemeldet und ebenfalls Neuwahlen gefordert. Dies nährt nun Putschgerüchte, auch wenn sich das Militär mehrfach eindeutig hinter den demokratischen Prozess gestellt und diese Wortmeldung verurteilt hat.
Eine weitere Karte wird im Kongress ausgespielt. Vertreter eines fraktionsübergreifenden rechten Bündnisses möchten das Kongresspräsidium und damit auch den amtierenden Interimspräsidenten Francisco Sagasti durch eine Vertrauensabstimmung stürzen. Ist der Weg freigeräumt, sollen sofort neue Verfassungsrichter*innen ernannt und durch diese die Präsidentschaftswahl annulliert werden. So die Strategie, ob sie aufgeht, wird sich nach der Kongressdebatte und Abstimmung am 30. Juni herausstellen.
Die Wahlkampfatmosphäre war, ausgehend von den rechten politischen Kräften, vergiftet wie noch nie. Noch nie hat der Terruqueo[fn]Terruqueo geht auf den Begriff terruco für Terrorist zurück. Dabei geht es darum, politischen Gegner*innen eine Nähe zu Terrororganisationen, wie Sendero Luminoso oder MRTA anzudichten. Dies kann auch zur Eröffnung von Verfahren und Verfolgung der so Diffamierten führen.[/fn] derart massive und hasserfüllte Ausmaße angenommen. Soziale wie hegemoniale Medien beschuldigen ohne Rücksicht auf Normen und Persönlichkeitsrechte gezielt Unterstützer*innen von Castillo der Sympathie oder gar Anhängerschaft von Sendero Luminoso (SL, terroristische Guerillagruppe Leuchtender Pfad)oder Sendero-nahen Organisationen. Der rechtsextremistische TV-Sender Willax marschierte voran. Im Format „Beto a saber“ des berüchtigten TV-Journalisten Humberto Ortiz wurde die renommierte linke und feministische Schriftstellerin und Kongressabgeordnete Rocío Silva Santisteban zur Sympathisantin und Freundin von Terroristinnen im Gefängnis erklärt. Dazu diente ein Foto, auf dem sie mit einer Gruppe Gefangener gezeigt wird. Darunter befinden sich auch ehemalige Führerinnen von SL. Das Foto wurde offiziell von der Gefängnisleitung aufgenommen, zur Dokumentation eines Literaturworkshops, wie ihn Santisteban als Pastorale Betreuerin bis 2010 häufig durchgeführt hat. Sie wird juristisch gegen Ortiz und den Sender vorgehen. Dieses Beispiel beleuchtet, wie täglich Fake News in die Welt gesetzt werden, einfach um das Umfeld des künftigen Präsidenten zu diskreditieren und Peru reif für Neuwahlen oder einen Militärputsch zu machen. Das wird auch nach der Ernennung des neuen Präsidenten so weitergehen. Die radikalsten Kräfte lassen nicht locker, bis Keiko vor dem Gefängnis gerettet und die verhasste linke Regierung gestürzt ist.
Nicht alle Gegner*innen Castillos sind so borniert und verblendet. Schon finden Gespräche wichtiger Wirtschaftsgruppen mit den technischen Beratern von Castillo zur Sondierung des Terrains statt. Wer nicht dem antikommunistischen Wahn verfallen oder davon wieder heruntergekommen ist. weiß, dass Castillo und Perú Libre eine parlamentarische Minderheit darstellen und nur mit weitgehenden Kompromissen regieren können.
So versuchen die konservativen Kräfte aus Wirtschaft und Politik, die noch vor dem ersten Wahlgang Verónika Mendoza mit ihrer Partei Juntos por el Perú als terroristische Gefahr und Totengräberin der peruanischen Demokratie gebrandmarkt hatten, Castillo dazu zu bewegen, sich von der sozialistischen Partei Perú Libre und Vladimir Cerrón zu trennen und Mendozas Expert*innenteam zu übernehmen. Das erscheint ihnen inzwischen als geringere und überschaubarere Gefahr.
Tatsächlich hat Castillo zahlreiche Expert*innen aus Juntos por el Perú und der Frente Amplio und namhafte Parteilose aufgenommen. Wirtschaftspolitischer Sprecher ist der renommierte Ökonom von Nuevo Perú Pedro Franke, der maßgeblich für die Erarbeitung des Plan del Bicentenario (Zweihundertjahrfeier der Gründung Perus) für die ersten 100 Tage im Amt verantwortlich zeichnet.
Die Annäherung Castillos an andere politische Kräfte ist nicht nur seitens intelligenterer konservativer Kräfte erwünscht. Für die moderne Linke wie für viele indigene Gemeinden, deren Anliegen bei Perú Libre und Castillo bisher nicht oder nicht ausreichend aufgehoben sind (vgl. ila 445), ist eine vielseitigere Repräsentanz in Castillos Regierung unerlässlich.
Über die Entwicklung der nächsten Monate lässt sich nur spekulieren. Am 19. Juni gingen über eine Million Unterstützer*innen Castillos in Lima und anderen Städten auf die Straße. Die eindrucksvolle Demonstration, in der die ganze Diversität Perus zum Ausdruck kam, verlief friedlich, fröhlich, kämpferisch und kreativ.[fn]Eindrucksvolle Bilder von der Demonstration aus Drohnenperspektive: https://youtu.be/k38p3d3WIsk[/fn] Sollte Castillo der Wahlsieg gestohlen werden, muss mit schwersten politischen Unruhen bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen gerechnet werden.
Wird Peru sozialistisch? Bisher haben alle Regierungen Lateinamerikas des vermeintlichen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ die ökonomischen Eliten weitestgehend unbehelligt gelassen. Es entstanden neue Mittelschichten, die am ökonomischen Erfolg beteiligt wurden, und die bitterste Armut verschwand. Zur Finanzierung der sozialen Maßnahmen wie Armutsbekämpfung, Bildung und Gesundheit musste letztlich auf den Extraktivismus und Agrarexport gesetzt werden, auch mit entsprechenden Schäden für die Umwelt und die betroffene Bevölkerung. Daraus entstehende soziale Konflikte konnten nur teilweise übertüncht, aber nicht wirklich gelöst werden. Zur Umsetzung nennenswerter Technologie- und Industrialisierungsprogramme kam es nicht. Ich gehe davon aus, dass Peru darin keine Ausnahme sein wird, sollte sich eine Castillo-Regierung längerfristig etablieren können. Allerdings werden die Eliten nicht mehr drum herumkommen, sich auf andine kulturelle Bedürfnisse, gewachsene ökonomische Ansprüche und mit gestärktem Selbstwertgefühl ausgestattete Interessengruppen aus den Provinzen ebenbürtiger und umfassender als bisher einzulassen.
Foto: Cheep