Laurence, wie entstand Voodoohop und wie hat sich das Kollektiv bis heute entwickelt?
Als ich nach São Paulo kam, nahm mich eine Freundin mit in eine Bar in der Rua Augusta, die „Bar do Netão”. Sie sagte mir, dass ein verrückter Deutscher angefangen hatte, dort Partys zu organisieren. Es waren etwa 20 Personen da, sie tanzten und hatten Spaß. Als ich die Gelegenheit hatte, mich mit dem „verrückten“ Thomas zu unterhalten, sagte er mir, dass er sich entschlossen hatte, dort aufzulegen, weil es keinen Ort gab, wo man eine gute Mischung von Menschen und Musik finden konnte. Eine Electro-Szene gab es nur in den großen, überteuerten Clubs, in die man nicht so einfach hinein und wieder hinaus kam. Fast wie ein Gefängnis, das von Sicherheitsleuten bewacht wird.
Ich hatte in Paris ähnliche Erfahrungen gemacht. Dort gründete ich mein eigenes Kollektiv, die Soukmachines. Wegen der fehlenden Freiheit in den Clubs und Kulturzentren organisierten wir Partys in Besetzungen. So begannen wir, uns zu vernetzen und gemeinsam Veranstaltungen zu machen, das ist jetzt schon fast sieben Jahre her. Von Bordellen bis hin zu Parkplätzen und leer stehenden Gebäuden – wir waren immer hinter den Räumen im Zentrum der Stadt her. São Paulo hat so eine post-apokalyptische Atmosphäre, alte Luxus-Kinos der 20er Jahre, die in Parkhäuser umgewandelt wurden, Porno-Kinos, Ecken der Prostitution, von Crack und Armut. Auf der anderen Seite ist es sehr lebendig, ein urbaner Dschungel. Alles kann hier passieren. Wir wohnten einfach im Zentrum und bewegten Dinge dort. Viele Menschen, die vorher nie einen Fuß ins Zentrum gesetzt und Angst vor dieser Annäherung hatten, kamen her und begannen sich zu öffnen. Wir machten auch andere Sachen, etwa die Nutzung von Fahrrädern anzuregen, das Treffen in den Straßen, die Vermischung von Ästhetiken, die Freiheit des Körpers, Nacktheit und Sexualität. Ich glaube, in dieser Zeit war das Zusammenkommen von Menschen aus verschiedenen Vierteln und Klassen im Zentrum wichtig. Über die Jahre stießen viele KünstlerInnen zu uns und so entstand das Kollektiv.
Kann man sagen, dass Voodoohop bei seinen Interventionen ein politisches Ziel hat?
Voodoo hatte nie ein klar definiertes Ziel. Es gibt allerdings verschiedene Werte, die implizit hinter unseren Aktionen stecken, wie die Suche nach mehr Freiheit, Autonomie, Aufwertung der Diversität und Liebe! Wir versuchen, nicht so explizit in unseren Veränderungswünschen zu sein, sondern unsere „Message“ auf subtile Weise rüberzubringen, um so Veränderung ohne große Schwere, Protest oder Forderung zu ermöglichen. Mit dieser sanften und leichten Art hat Voodoohop es geschafft, ein breites Publikum und viele KünstlerInnen einzubeziehen, verschiedene Stile und Ausdrucksformen zu vermischen. Ich finde es extrem wichtig, eine Möglichkeit zu schaffen, in der sich unterschiedliche Welten kreuzen können, was zu einem Ende der Vorurteile und der Angst vor dem Anderen führt.
Wir diskutieren trotzdem viel über Politisches. Es ist klar, dass Transparenz in der Regierung fehlt, dass die Gesellschaft machistisch ist, dass es viel Ungleichheit gibt. Du kannst das alles in Worte fassen, protestieren, kämpfen, du kannst aber auch durch deine eigenen Aktionen einen Raum öffnen, damit das, was dir fehlt, entstehen kann. Mit Voodoohop haben wir diesen Weg gewählt. Wir machen keine großen Anklagen und greifen andere an, wir versuchen lediglich, eine Linie in unseren Aktionen zu halten. Wir verteilen die Gewinne und beteiligen uns an kostenlosen Events auf der Straße, an denen viele verschiedene Menschen teilnehmen können. Selbst die Dynamik des Kollektivs ist ausgeglichen zwischen weiblicher und männlicher Energie, Norden und Süden, drinnen und draußen, dunkel und hell. Die Stärke des Ganzen ist, dass es läuft, ohne notwendigerweise einen Diskurs zu schaffen.
Ich respektiere die Arbeit der traditionellen politischen AktivistInnen: Demonstrationen mit beschrifteten Bannern, Texten und Ideen. Ich bin Französin, wuchs also in diesem Umfeld auf. Die Franzosen sind die größten Demonstranten der Welt, von der französischen Revolution bis zu den sozialen Bewegungen dieses Jahrhunderts. Trotzdem gibt es für mich keine reale Veränderung des Paradigmas, alles wiederholt sich. Ich denke, dass wir mit dem Internet ein Werkzeug haben, das uns die Möglichkeit gibt, uns gesellschaftlich neu zu organisieren, ohne bei den öffentlichen Machtinstanzen zu landen. In Frankreich haben wir immer noch das Ideal des „Sozialstaats“, der stets helfen kann. Es funktioniert tatsächlich vieles, aber das beendet nicht den Frust, auch nicht den Rassismus, die Machtspiele und die tagtägliche Unterdrückung. Weil ich die Fehler dieser Aktionen erlebt habe, kann ich es hier in Brasilien nicht genauso machen. Wir glauben an eine Bewegung der Dezentralisierung. Wir glauben an Mikropolitik, in der wir durch unsere eigenen Aktionen mehr Bewusstsein und Autonomie erreichen.
In einer Megametropole wie São Paulo gibt es an vielen Punkten einen Vertreibungsprozess: Menschen werden aus ihren (potenziellen) Wohnorten vertrieben, um Platz für Gebäude des kommerziellen Interesses zu schaffen, von der Straße werden sie vertrieben, um Platz für Autos zu schaffen etc. Seht ihr in Voodoohop einen Akteur des Widerstandes gegen die entmenschlichte Stadt?
São Paulo ist total überfüllt, die Stadt explodiert fast, die Flüsse wurden zu Abflusskanälen. Der Stadt fehlt es an grünen Flächen und Erholungsorten, sie wird immer ungesünder und unnachhaltiger. Es ist schwierig, gegen die Strömung der Stadt zu gehen, die Massen, die sich um den Raum streiten. Wie im Wald, wo die Bäume immer höher wachsen, um Licht zu bekommen, wächst auch São Paulo mit seinen Wolkenkratzern immer weiter in den Himmel. Die Stadtplanung selbst wurde für die Autos gemacht, nicht für die Menschen. In diesem Kontext versuchen wir, ein Netz zu mobilisieren, Momente der Begegnung in den Straßen und auf den Feiern zu schaffen – Katharsis, Austausch, Vermischung.
Wie ist die Erfahrung von Voodoohop mit Repression?
Es gefällt uns, eine Explosion von Freude und Humor zu benutzen, um Räume der Freiheit zu schaffen. Viele Male versuchte die Polizei, unsere Feiern zu unterbrechen, die bereis auf der Straße begonnen hatte. In den meisten Fällen lassen sie es dann doch, da sie die ansteckende Freude der Anwesenden spüren. Ich glaube nicht an Agressivität, um Probleme zu lösen. Ich denke auch, dass es in Brasilien mehr Toleranz im Hinblick auf Feiern gibt als anderswo. Bei den Demonstrationen ist die Repression sehr viel sichtbarer.
Die Bewegung der Straßenfeiern traf zufälligerweise zusammen mit dem Beginn einer „linken” Kulturpolitik, nachdem in den fünf vorherigen Jahren die „Rechte” StraßenkünstlerInnen unterdrückt hatte. Die neue Politik war ideologisch mit der Idee verbunden, auf kultureller Ebene Bewegung in das Zentrum zu bringen, zum Beispiel in Cracolândia, wo viele Crack-Abhängige leben. Aus diesem Grund gab es nicht so viel Repression. In unserem Kollektiv gibt es eine Migration hin zur Natur Brasiliens und auch nach Europa. Diese Neuorientierung hängt mit einer gewissen Erschöpfung zusammen, in einem Ort zu leben, der nicht nachhaltig ist. São Paulo übt eine große Anziehungskraft im ganzen Land aus, sogar in ganz Lateinamerika. Vielleicht ist der Moment gekommen, zu dezentralisieren, sich auszubreiten und in anderen Orten Begegnungen neu zu organisieren.
Voodoohop ist ein Kollektiv, das sich aus verschiedenen Personen zusammensetzt, die aus unterschiedliche Ländern, Kulturen und Erfahrungen kommen. Das macht das Kollektiv vielseitig und einzigartig zugleich. Kannst du aufgrund eurer Erfahrungen die möglichen Schwierigkeiten in Brasilien und Deutschland vergleichen, die eine illegale Party mit sich bringt?
Ich glaube, dass jeder Ort seine Vorteile und seine Schwachstellen hat. Deutschland zieht zwar viel Kraft aus der Organisation und Disziplin sowie einem extremen Bewusstsein des Respekts für den Anderen. Gleichzeitig wird es dadurch schwierig, etwas außerhalb der Regeln zu machen und es verliert die Magie der Improvisation. Im Gegensatz dazu ist Brasilien bekannt für sein Chaos, in dem aber viel Überraschendes passieren kann, Gutes als auch Schlechtes. Daher denke ich, dass Thomas, Deutscher, und ich, Französin, nur in São Paulo einen offenen und fruchtbaren Boden gefunden haben, um mit diesen Partys zu experimentieren.
Vernetzt sich Voodoohop auch mit anderen Kollektiven, KünstlerInnen, linken sozialen Bewegungen, AnarchistInnen?
Wir haben uns schon vernetzt und mit Wohnungslosenbewegungen zusammengearbeitet. Eine Zeit lang haben wir in einem Gebäude im Zentrum gearbeitet, das „Trackers“ heißt, dort haben wir viele Partys gemacht, umgeben von Besetzungen. Wir haben auch Partys in den Besetzungen selbst organisiert. Ebenso haben wir mit den zwei einzigen künstlerischen Besetzungen zu tun, der „Casa Amarela“ („gelbes Haus“) und „Ouvidor 63“. Wir waren beim ersten Festival des Augusta-Parks dabei. Der Augusta-Park hat ein Stück wunderschönen atlantischen Wald, mitten im Herzen São Paulos. Es war nie offiziell ein Park, war aber öffentlich zugänglich. Dann kaufte eins der größten Bauunternehmen das Grundstück und plant nun, dort private Luxuswohnungen zu bauen. So wird wieder einmal das Recht auf öffentlichen Raum eingeschränkt. Die Bewegung „Parque Augusta“ entstand also zur Verteidigung der Grünfläche und des Raums für Freizeit und Erholung. Das Festival war ein Zusammentreffen für einen gemeinsamen Kampf. Ein ähnliches Netz entstand auch im unteren Zentrum, das sich selbst organisiert und finanziert und Partys auf dem Minhocão („Wurm“) macht, einer hochgelegten Straße, die durch des Zentrum der Stadt führt. Einige Personen, die bei Voodoohop mitmachten, organisierten ein queeres Festival und das „Ovney“, beide Ergebnis von einem Zusammentreffen verschiedener, transdiziplinärer künstlerischer Praktiken. Letztlich ist Voodoohop all dies: geteilte Erfahrungen, Besetzungen, Suche nach Horizontalität und Transparenz in den menschlichen Beziehungen, technoschamanische Forschung, Leben in Kreativität, Schaffen neuer Ausdrucksformen, Experimentieren in den Alltagspraktiken.
Nachklapp:
Auf der Allerweltsparty in Köln am 9. Juli 2016 traten Laurence und Tomas immer noch als Voodoohop-Kollektiv auf. In einer Diskussionsrunde wurde die Genderfrage stark thematisiert. Zudem erzählten sie, dass sich das Kollektiv im Umbruch befinde. Einige werden nach Deutschland zurückkehren, andere werden in Brasilien aufs Land ziehen.