Wer sich hierzulande intensiver mit der politischen Situation in Chile und vor allem mit der revolutionären Explosion seit dem Oktober 2019 beschäftigt, wird ziemlich schnell auf Beiträge von Sophia Boddenberg stoßen. Ein Glücksfall. Denn während sich diverse Korrespondent*innen in den hiesigen Medien damals umgehend die Frage stellten, wann denn die Unruhen wieder beendet sein würden, schreibt sie im Dezember 2019 in ihrem Blog: „Bitte fragt mich also nicht, wann die ,Unruhen’ in Chile endlich vorbei sind. Fragt euch selbst, wann ihr anfangt, unruhig zu werden, während das Wirtschaftssystem, von dem vor allem die reichen Industriestaaten profitieren, weltweit die Umwelt und die Lebensgrundlage vieler Menschen zerstört. Chile ist ein Beispiel für die Welt.“
Warum Chile ein Beispiel für die Welt ist, lässt sich nun ausführlich in ihrem aktuellen Buch nachlesen. Die freie Journalistin lebt und arbeitet seit 2014 in Chile; den Aufstand und seine Vorgeschichte in diesen Jahren hat sie von Anfang an begleitet – auch als Teilnehmerin. Eine gute Voraussetzung, um die Leser*innen mitzunehmen auf ihrem Weg durch Santiago am Tag der Explosion, dem 18. Oktober. So beginnt das Buch, mit einer sehr anschaulichen Schilderung vom „Beginn von etwas viel Größerem“. Dieser Tag hat eine Vorgeschichte von Kämpfen und Bewegungen, auf die im Buch ausführlich eingegangen wird. Aber das erste Kapitel heißt „Evade!“ – der Schlachtruf der Schüler*innen bei ihrem Sturm auf die Metrostationen in Santiago. Wer immer die Idee dazu hatte: Die Bilder und Videos der Schüler*innen in Aktion (bei genauem Hinsehen übrigens sehr viele Mädchen in der ersten Reihe – kein Zufall, siehe unten) elektrisieren – hunderttausendfach geteilt – ein ganzes Land. Es geht nicht um die Fahrpreiserhöhung von 30 Pesos, „es geht um 30 Jahre“. Und Chile wacht auf. Erst sind es Zigtausende und schließlich gehen bei den großen Demonstrationen Millionen auf die Straße: „Es sind weder Parteien noch Gewerkschaften, die diese Bewegung antreiben, sondern die Nachbarschaftsversammlungen, die indigenen Völker, die Landbevölkerung und die feministische Bewegung. Die zahlreichen Lieder, Bilder und Personen, die zu Symbolen des Aufstands geworden sind, zeigen, dass sie aus den Erfahrungen der Vergangenheit ihre Kraft zieht. Die brutale Gewalt und Repression, die die Bevölkerung in dem Land, das heute Chile heißt, in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten erlebt hat, hat es nicht geschafft, den Wunsch nach einer gerechten Gesellschaft zu zerstören. Der Funke war immer da, er musste nur entzündet werden, und das haben die Schüler*innen geschafft, die im Oktober 2019 über die Drehkreuze der Metro gesprungen sind“, so die Autorin in ihrem Ausblick zum Schluss des Buches.
Um die Revolte zu verstehen, ist es notwendig, sich die Bedeutung des Neoliberalismus und die extrem gewaltsame Durchsetzung dieser Kapitalstrategie durch die Militärdiktatur und den Putsch von 1973 zu vergegenwärtigen. „Das neoliberale Experiment“ heißt das dazugehörige Kapitel, in dem kompakt die theoretischen Hintergründe und ihre dramatischen praktischen Folgen geschildert werden. Auch die 30 Jahre nach der Diktatur, in denen politische Parteien aller Couleur diese Strategie weiterverfolgen und damit jede Legitimation bei der Masse der Menschen verlieren. Die Privatisierung faktisch aller Lebensbereiche (Bildung, Gesundheit, Renten, Boden, Wasser etc.) führt zu einer ausweglosen Verarmung und den höchsten Selbstmordraten in Südamerika. Allein im Jahr 2018 sterben 26 000 Menschen, während sie auf einer Warteliste für Operationen stehen. Die Frontlineaktivist*innen der Primera Línea antworten darauf mit der Parole: „Lieber sterben wir hier auf der Straße als auf der Warteliste.“ Ein ebenso ernstgemeintes wie verständliches Angriffssignal, mit dem sie auch eine neue Form der Militanz erfinden, zu der nicht nur die erste Reihe, sondern tausende, genauso wichtige Menschen dahinter gehören. Die Bewegung und ihre Stärke, mit der sie gegen eine extreme Welle von Repression, vom militärischen Ausnahmezustand bis zu den täglichen Menschenrechtsverletzungen der Carabineros mit Folter, Mord und Vergewaltigung, bis heute ankämpft, wäre ohne die Basisbewegung der Nachbarschaftsversammlungen, der Asambleas und Cabildos gar nicht zu verstehen. Auch hierzu findet sich verdienstvollerweise ein Kapitel, ebenso wie weitere zu dem unverzichtbaren Anteil der starken feministischen Bewegung („Die Frauen sind immer in der ersten Reihe!“) sowie der indigenen Mapuche, die seit Jahrhunderten im Widerstand sind („Es sind nicht 30 Jahre, es sind mehr als 500“). Viele solcher Zitate, die Gespräche und Interviews und nicht zuletzt die farbigen Fotos machen das Buch lebendig und geben auch einen Eindruck von der kulturellen Explosion an Kreativität, die ein wichtiges Bindeglied zwischen den tragenden Teilen der Bewegung bildet.
Warum ist Chile jetzt ein Beispiel für uns? Weil es, wie 1973, wieder um alles geht. Es geht um mehr als eine neue Regierung oder eine neue Verfassung. Es geht ums Überleben, um Gesundheit, Bildung und ein Leben in Würde. Und weil wir dort sehen können, wie verschiedene Bewegungen in einer aussichtslos erscheinenden Lage zusammenkommen, verschmelzen und bei aller Diversität und unterschiedlichen Positionen mit Respekt vor den anderen mit ihnen agieren und nach vorne gehen. Das hört sich allgemein und einfach an, ist aber die überaus praktische und schwierige Alternative (im Buch mit vielen konkreten Beispielen belegt) zum modernen, neoliberalen und flexiblen Kapitalismus, der uns gerade (Corona, Klima etc.) exemplarisch vorführt, dass die Gesundheit und das Leben der Menschen eben „nicht alles sind“ und wirtschaftlichen Interessen unterzuordnen sind.
Also besser selbst unruhig werden, über die Drehkreuze springen (wie es bei uns übrigens schon viele, gerade Jüngere machen[fn]ZSK – Die Kids sind okay: www.youtube.com/watch?v=Nb0NMq5UojQ[/fn] und sich dabei inspirieren lassen von diesem sehr guten Buch über ein Land auf dem Weg von der Revolte zur Revolution; und von den wunderbaren Menschen, die zusammen mit Mon Laferte singen: „Somos caleta, más que los pacos, somos más choros, peleamos sin guanaco – Oye, no tenemos miedo.“[fn]Sinngemäß: „Wir sind mehr, mehr als die Bullen, wir sind cooler, wir kämpfen ohne Wasserwerfer. Hey, wir haben keine Angst“ aus „Plata Ta Tá“[/fn]