Die Straße von Tingo María nach Tocache wäre eine ausgezeichnete Teststrecke für die härtesten Geländewagen. Nicht nur die Schlaglöcher erfordern gute Fahrkünste und einen robusten Magen, zudem muss der Wagen ständig im Zickzack fahren, um den Betonmauern auszuweichen, die alle zehn Meter abwechselnd rechts und links auf der Straße stehen. Sie wurden in den 80er und 90er Jahren gebaut, um zu verhindern, dass Kleinflugzeuge aus Kolumbien auf der Straße landen, um Coca abzutransportieren, die im Huallaga-Tal in großen Mengen angebaut wurde. Bis Mitte der 90er Jahre war die Region Alto Huallaga das El Dorado für Abenteurer und Glücksucher aus allen Teilen des Landes; ein Zentrum der Subversion, des Drogenhandels und der Gesetzlosigkeit. Das Ende des Terrorismus, die Coca-Vernichtungsfeldzüge, das Cocaverbot unter Fujimori und der Fall der Cocapreise setzten diesen herrlichen Zeiten – und der mit ihr einhergehenden Gewalt zunächst ein Ende.

Doch trotz aller Vernichtungsversuche: Der Coca-Strauch mit seinen grünen Blättern ist weiterhin die Haupteinnahmequelle für Tausende von BäuerInnen. Und die Anbauflächen für Coca steigen. Anfang der 90er Jahre, als die Hochzeit im Alto Huallaga schon dem Ende zuging, zog Cheo (Name geändert) aus Lima ins Alto Huallaga. Er war verzweifelt, weil sie ihm auf der Straße seine gesamte Ware gestohlen hatten. Als er dann seinerseits eine Geldwechslerin in Lima überfiel, war er erschrocken darüber, wie einfach es war. Um nicht einer der vielen Kleinkriminellen auf Limas Straßen zu werden, zog er ins Alto Huallaga und stampfte Coca-Blätter. Cheo verstand nichts von Landwirtschaft, aber er lernte, das Land zu bestellen und im Urwald zu überleben, im Spannungsfeld von Drogenhandel und der Guerilla Sendero Luminoso. „Sendero hat viele Leute umgebracht, aber die Coca haben sie beschützt“, sagt Cheo. Er musste auch einige Monate bei Sendero mitmachen. „Gott sei Dank musste ich niemanden töten“. Denn Cheo hat moralische Prinzipien: Stehlen und töten findet er schlecht. Aber dass der Anbau und Verkauf von Coca etwas Schlechtes sein soll, will ihm nicht in den Kopf. Für die Leute hier ist der Coca-Anbau nichts moralisch Verwerfliches. Es ist völlig in Ordnung, unterliegt aber politischen Gesetzen, die sie nicht beeinflussen können. 

Die peruanische Gesetzgebung trägt nicht viel dazu bei, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden: Der Coca-Anbau kann gesetzlich oder ungesetzlich sein, je nach Auslegung. Wenn die Pflanzungen nicht bei der ENACO (staatliches Unternehmen, das Cocatee herstellt und die Coca zu medizinischen Zwecken exportiert) registriert sind, kann der Staat sie vernichten. Wenn Coca in der Nähe eines Maischbeckens1 – wo die Coca-Paste, ein Vorprodukt zur Kokainherstellung, hergestellt wird – angebaut wird, wird damit das Risiko eingegangen, dass die Pflanzen vernichtet werden. Der Verkauf an die ENACO hingegen ist legal. Der Verkauf an den informellen Markt – wo die Coca-Blätter für den chaccheo, den einheimischen Verbrauch der Blätter gehandelt werden, ist weder legal noch illegal. An die Kokainproduzenten zu verkaufen ist illegal. Die Coca-Blätter selbst in den Maischbecken oder Laboratorien weiterzubearbeiten, ist illegal. Also sagen alle, sie verkauften ihre Coca-Blätter an die ENACO oder an den traditionellen Markt, wo Coca-Blätter für medizinische und kultische Zwecke oder den direkten Verbrauch gehandelt werden.

In El Porvenir (span. die Zukunft) ist die Zukunft eher trist. Dieses Dorf am Mishollo Fluss hatte bisher mehr Kontakte mit dem Tod als mit dem Leben. Zweimal wurde es von der Armee abgebrannt, und danach haben sie alle Coca-Pflanzen vernichtet. Die Häuser bestehen gerade mal aus vier Holzwänden, drinnen eine Feuerstelle, ein rustikaler Tisch, und manchmal nur ein Brett als Bett. Im Laden gibt es nur staubige Coca-Cola- und Speiseölflaschen. Der Rest muss aus dem Dschungel kommen: Bananen, Mais, Coca. Hier gibt es weder Elektrizität noch Telefon, nur Gerüchte und die Erinnerung an den Terror. Für die Leute ist die Vernichtung der Cocapflanzungen dasselbe wie die früheren Überfälle durch das Militär oder die Guerrilla. Es gibt dabei vielleicht keine Toten, aber das Gefühl von Vertreibung, Verzweiflung und Ohnmacht ist dasselbe. Durch die Ausrottung der Coca-Pflanzungen wurden sie ihrer Existenzgrundlage beraubt. Andere Pflanzen wie Mais, Reis oder Kaffee werden nur zum eigenen Verbrauch angepflanzt. Verkaufen können sie nur ihre Coca-Blätter.

Nancy Obregón ist der Ansicht, dass sie nicht arm sind. Sie lebt in dem Dorf Santa Rosa de Mishollo, ist Vorsitzende der Coca-BäuerInnen von Tocache und in der peruanischen Vereinigung der Coca-BäuerInnen aktiv. Außerdem ist sie Mutter von fünf Kindern, Bäuerin, Ankäuferin für ENACO, betreibt in ihrem Haus ein Restaurant, verkauft selbstgebraute Chicha und Coca-Cola und kandidierte auch schon mal für das Amt der Bürgermeisterin der Provinzhauptstadt Tocache. Nancy ist eine der AnführerInnen, die den Marsch der CocabäuerInnen 2002 nach Lima initiiert haben, die erste gemeinsame Aktion fast aller Coca-Anbaugebiete Perus. Während sie davon erzählt, sitzen wir in ihrem halbfertigen Haus, zwischendurch verkauft sie Getränke oder verschwindet in der Küche, um mit einem Teller für eins ihrer Kinder oder einen Kunden zurückzukehren. Als sie damals nach einem mehrtägigen Marsch in Lima ankamen, bestand Nancy darauf, von Präsident Toledo empfangen zu werden. Vielleicht hat der Präsident das hinterher bereut, wenn er auch zunächst von den Bildern in den Medien, die ihn zusammen mit der charismatischen Coca-Verteidigerin zeigten, profitierte. Nancy nahm in dem Gespräch kein Blatt vor den Mund: „Wir sind für Sie und die Demokratie auf die Straße gegangen, aber Sie haben Ihre Versprechen nicht erfüllt“, warf sie ihm vor. 

Der Empfang durch Toledo war wichtig für die Cocaler@s, denn damit wurden sie ihren Ruf als „DrogenhändlerInnen“ los und als Gesprächspartner der Regierung anerkannt. Als die US-amerikanische DEA (Drogenbekämpfungsbehörde) Nancy Zamora, Bürgermeisterin des Pólvora-Distrikts, mitteilte, sie hätte ein Problem, denn in ihrem Gebiet gebe es mit am meisten Coca-Pflanzen, und die müssten jetzt vernichtet werden, ließ sie sich nicht erschrecken. Sie wehrte sich energisch. In Puerto Pizana wurden bereits zweimal Coca-Pflanzungen zerstört, und die Leute pflanzen wieder an, denn die gewaltsame Zerstörung brachte Hunger, Armut und Verzweiflung. Bisher wurde nicht wieder vernichtet, aber die Angst vor den Helikoptern, aus denen Dutzende von zivilen coreanos2 aussteigen, die die Büsche per Hand ausreißen, bleibt. Nancy Zamora sagt, ihr Dorf wolle Sicherheit und Frieden und von daher einen Anbaumix von verschiedenen Pflanzen, darunter auch Coca. Bisher jedoch haben die meisten Cocaler@s zwei Identitäten: eine für die ENACO, und eine für den Drogenhandel. Peru hat sich gegenüber den USA verpflichtet, einen großen Teil der Anbauflächen zu vernichten. Gegenüber den Coca-BäuerInnen hat die Toledo-Regierung versprochen, diese Vernichtung mit ihnen abzusprechen und graduell vorzunehmen. Dass aber die Cocaler@s der Vernichtung von 90 Prozent ihrer Anbauflächen zustimmen, ist unwahrscheinlich.

Die Alternative zur Zerstörung der Pflanzungen hieße, den Verkauf der chemischen Stoffe zu kontrollieren, die für die Herstellung der Coca-Paste und von Kokain benötigt werden, die Maischbecken und Laboratorien im Dschungel zu zerstören und die Transportwege zu kontrollieren. In der Region Tingo María ist das die Aufgabe von Kommandant Luis Gonzales Romero. Er hat keinen Zweifel daran, dass es dort, wo es Coca-Sträucher gibt, auch Maischbecken gibt, die, gut versteckt im Dschungel, von der Luft aus nicht entdeckt werden können. Deshalb bezahlen sie Informanten, um die Becken und Laboratorien zu finden. Im Jahr 2003 haben sie 51 Becken und ein Laboratorium zerstört. Aber die BäuerInnen behindern sie in ihrer Arbeit und greifen die Einsatzkräfte mit Knüppeln und Macheten an. Denn jedes Einweichbecken kostet 4000 bis 5000 Dollar an Investitionen, und ohne Becken und Laboratorium gibt es keine Coca-Paste und kein Kokain, mit dem sich die meisten Gewinne erzielen lassen. Kommandant Gonzales sagt, die BäuerInnen griffen sie deshalb an, weil sie wüssten, dass sie nicht schießen dürfen: „ Wir respektieren schließlich die Menschenrechte“. Für ihn ist die Tatsache, dass die BäuerInnen seine Männer daran hindern, in das Gebiet einzudringen, der Beweis dafür, dass sie etwas zu verbergen haben.

Im November 2003 sind sie sich begegnet, der peruanische und der bolivianische Morales. Evo Morales, neuerdings bolivianischer Präsident, und Iburcio Morales, Anführer der Cocaler@s aus dem Monzón-Tal. Aber mit dem Namen enden die Ähnlichkeiten. Der peruanische Morales ist weit über 60. Er sagt voraus, dass aufgrund der Trockenheit in einigen Jahren keine Coca-Pflanzen mehr wachsen würden. Tatsächlich ist die Trockenheit ein Problem in Monzón. Die BäuerInnen sagen, es liege an dem Pilz Fusarium Oxysporum, den die Regierung strategisch versprüht hätte. Die Regierung widerspricht, gibt aber zu, dass in den Jahren 1991/92 gesprüht worden sei. Die Techniker der UNO sagen, die Trockenheit liege an der Überbeanspruchung der Böden. Iburcio sagt, allein aufgrund der Trockenheit sei die Behauptung der Regierung, in Monzón würde auf 10 000 Hektar Coca angebaut, falsch, und bald wären sie hier in Monzón arm wie die Kirchenmäuse. In dem Dorf ist von Armut nichts zu sehen: Mindestens 20 Toyota Stations-Wagen sind auf der – nicht asphaltierten – Hauptstraße zu sehen, die Häuser sind frisch gestrichen und mindestens zweistöckig, viele haben eine Parabolantenne. In dem Dorfladen gibt es außer den üblichen Seifen und Cremes Parfüm und feine Seifen, die es auch in den teuren Läden in Lima gibt. Monzón hat den Ruf, das Tal zu sein, wo am meisten Coca angebaut und weiterverarbeitet wird. Jeden Monat tauchen durchschnittlich vier Tote auf. Alles Lüge, sagen die Anführer und behaupten, sie hätten sich der Nationalen Coca-Vereinigung nicht angeschlossen, weil sie den neuen Anführern nicht trauten. Hier im Tal würden sie Coca-Blätter nur an die ENACO verkaufen und Maischbecken gäbe es nicht.

Wenn man den riesigen Schildern entlang der Straßen Glauben schenkt, wären sowohl Alto Huallaga als auch Tingo María und das Monzón-Tal die bestentwickelten Zonen Perus. Zumindest die Schilderhersteller haben verdient, denn die alternative Entwicklung hat entweder nicht funktioniert oder ist nie angekommen, darin stimmen alle Leute überein. Das hat verschiedene Gründe: Die Preise für alternative Produkte auf dem Weltmarkt schwanken und können nie mit den für Coca-Blätter erzielten mithalten, geschweige denn für Coca-Paste oder Kokain. Aber auch weil – wie die Schilder zeigen – an jedem Alternativprojekt mindestens fünf Institutionen beteiligt sind: die USAID (US-amerikanische Entwicklungshilfe), manchmal ein EU-Land oder die UNO, die nationale DEVIDA, eine NRO mit Sitz in Lima und eine mit Sitz in der Region. Die Leute hier sind davon überzeugt, dass der größte Teil des Geldes bei den Vermittlerorganisationen hängen bleibt.

Ein Modellprojekt ist die Reismühle in Cachicoto, unten im Monzón-Tal. Die Vereinten Nationen und die DEVIDA haben die Infrastruktur gestellt und eine Bauernkooperative gegründet, die das Projekt übernehmen soll. María Valverde, Präsidentin der Kooperative, setzt viele Hoffnungen in das Projekt. Aber kann man die Gewinne durch den Reisanbau mit denen der Coca vergleichen? Es gibt sehr hohe Investitionskosten, sagt María, aber nach einigen Jahren kann ein Reisbauer aus einem Hektar 3000 Soles jährlich erwirtschaften. Dochder Reisanbau ist wesentlich arbeitsintensiver und braucht einen viel längeren Atem als die Coca, die viermal im Jahr geerntet werden kann und kaum Arbeit macht. Auch in Santa Rosa de Mishollo im Alto Huallaga gibt es ein Schild über ein Alternativprojekt zur Coca. Doch die Leute vertrauen dem Staat wenig und eher sich selbst. So haben sie die grausamen 90er Jahre überlebt, jetzt wollen sie in die Zukunft blicken. Mit Nancy, Cheo und David sitzen wir bei Papayasaft, als es Nacht wird und die Träume auferstehen. David, ein Cocalero aus Junín, träumt von einer eigenen Landwirtschaft mit Viehzucht. Cheo träumt von den blauen Augen einer Gringa, die einmal das Dorf besuchte. Und Nancy träumt, dass die Coca-Blätter und aus ihr hergestellte Produkte wie Seife, Mate, Coca-Wein etc. zu den wichtigsten legalen Exportgütern Perus werden und den Weltmarkt aufmischen. Plötzlich hören wir Gelächter von den Mädchen aus dem Dorf. Sie haben bei einem Fußballspiel im Nachbardorf den ersten Preis, ein Schwein, gewonnen, das sie nun stolz um den Dorfplatz führen. In dem Moment scheint der „Krieg gegen die Drogen“ und der „Drogenhandel“ zu einer anderen Welt zu gehören.

Nachtrag aus dem Jahr 2006 (die Reportage wurde 2003 geschrieben): Aktuellen Schätzungen zufolge werden zur Zeit jährlich 120 Tonnen Kokain in Peru produziert, in der Apurimac-Region beträgt der Kilopreis für Coca drei US-Dollar. Die Coca-Anbauflächen im Alto Huallaga sind weiter angestiegen, dort ist auch eine Kolonne des Leuchtenden Pfads wieder aktiv. Genau in dieser Gegend war in den 90er Jahren auch der damalige Militär Ollanta Humala zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt und soll an Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen sein. Die nationale Coca-Bauernvereinigung hat sich inzwischen gespalten. Nancy Obregón wird als Abgeordnete nach Lima ziehen – sie hat bei den vor kurzem stattgefundenen Wahlen einen Parlamentssitz auf der Liste Ollanta Humalas gewonnen.

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