Ungezählt sind mittlerweile die Zeitungsartikel, Bücher, Radiosendungen und Fernsehdokumentationen über die deutsche Sekte, die 1961 nach Chile ausgewandert war, als die Staatsanwaltschaft in Bonn gegen den Sektenführer Paul Schäfer ermittelte, weil Schäfer die Jungen der Gruppe jahrelang sexuell missbraucht hatte.
Mit eiserner Disziplin und dem Motto Arbeit ist Gottesdienst bauten die Sektenmitglieder auf dem etwa 350 Kilometer südlich von Santiago gelegenen Gelände ein florierendes landwirtschaftliches Gut einschließlich Großbäckerei auf und betätigten sich auch im Straßen- und Brückenbau sowie in der Betreibung eines Restaurants und eines Lebensmittelladens. Die Mitglieder waren einem internen Terrorregime von Schlägen, Verabreichen von Psychopharmaka, Freiheitsberaubung und Folter unterworfen. Das Gut wurde als isolierter Staat im Staate bezeichnet.
Nach dem Militärputsch am 11. September 1973 stellte die Colonia Dignidad ihr Gelände bis 1976 dem chilenischen Geheimdienst DINA als Verhör-, Folter- und Ausbildungszentrum zur Verfügung. Zahlreiche politische GegnerInnen der Pinochet-Diktatur wurden dort gefoltert und ermordet (vgl. vorstehender Beitrag Ein deutsches Verbrechen in Chile).
Mit zahlreichen Prozessen ging die Sekte gegen ihre KritikerInnen vor, so, unter anderem, seit April 1977 gegen die Publikation der deutschen Sektion von Amnesty International Colonia Dignidad ein Folterlager der DINA. Der Prozess vor dem Landgericht Bonn wurde erst im November 1997 zugunsten von Amnesty beendet. Während der Zeit Pinochets blieb die Colonia unangetastet.
1999 wurden endlich sieben Führungsmitglieder der Kolonie wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch Minderjähriger verhaftet, bald aber wieder freigelassen. Schließlich kam es 2004 zur Verurteilung Schäfers und weiterer Mitglieder der Sekte. Schäfer wurde im März 2005 in Argentinien verhaftet und nach Chile ausgeliefert. Dort starb er am 21. April 2010 in Haft.
Der mit internationaler Besetzung produzierte Film nach dem Drehbuch des aus München stammenden Regisseurs und Autors Florian Gallenberger kommt zu einer Zeit in die Kinos, in der das juristische und gesellschaftliche Kapitel der Colonia Dignidad noch nicht abgeschlossen ist.
Der Film ist als spannender Thriller aufgebaut, der auch von der schauspielerischen Leistung der Hauptdarstellerin Emma Watson (bekannt durch die Harry Potter-Verfilmungen) lebt. Außerdem merkt man dem Film an, dass der Regisseur mehrere Jahre im Umfeld und auch direkt in der Villa Baviera (Bayerisches Dorf), so nennt sich die Colonia Dignidad seit einigen Jahren, für den Film recherchiert hat.
Die Handlung beginnt 1973, dem Jahr des Putsches gegen den sozialistischen Präsidenten Allende. Der deutsche Student Daniel (Daniel Brühl), der sich einer chilenischen Studierendenorganisation angeschlossen hat und Grafiken und Plakate entwirft, wird vom chilenischen Geheimdienst verhaftet und in die Colonia Dignidad verschleppt. Dort wird er brutal gefoltert. Seine Freundin Lena (Emma Watson), eine Stewardess der Lufthansa, erfährt den Aufenthaltsort von Daniel und beschließt trotz Warnungen, ihrem Freund in die Colonia Dignidad zu folgen. Die adrette Schönheit verwandelt sich in ein äußerlich unscheinbares Mädchen, das bei der Sekte den Weg zu Gott sucht. Sie wird, wenn auch mit Misstrauen, in die Kolonie aufgenommen. Es gelingt ihr, Kontakt mit Daniel aufzunehmen, und schließlich fliehen die beiden unter abenteuerlichen Umständen mit dem Flugzeug nach Deutschland. Die deutsche Botschaft spielt dabei eine unrühmliche Rolle.
Der Film hat einen guten Spannungsbogen, der die ZuschauerInnen mitleiden und -hoffen lässt. Er zeichnet sich in bestimmten Szenen als sehr realitätsnah aus. Dies gilt zum Beispiel für die pervers-perfekten psychologischen Methoden der Überwachung und die Schaffung von Abhängigkeit der Sektenmitglieder von ihrem Führer Paul Schäfer. Die Trennung der Eltern von ihren Kindern und auch kleine Details, wie die Art der Pullover, die die männlichen Mitglieder der Sekte getragen haben, stimmen mit der Wirklichkeit überein. Die Herrenabende, bei denen tatsächliche oder mutmaßliche AbweichlerInnen selbst für Kleinigkeiten brutal zusammengeschlagen werden, gab es ebenso in der Realität wie auch im Film. Der Einsatz von Psychopharmaka war Alltag.
Im Film spielt ein unterirdisches Tunnelsystem eine wichtige Rolle. Ein solches Tunnelsystem, wohl aber nicht in der Größe wie im Film, hat es tatsächlich gegeben und wurde bei Razzien 1997/98 entdeckt. Was es nicht gab, waren Selbstschussanlagen, die im Spielfilm gezeigt werden. Teilweise war aber die Wirklichkeit viel brutaler, als im Film dargestellt. Dies gilt für die permanenten Überwachungsmaßnahmen, die es den Sektenmitgliedern praktisch unmöglich machten, sich ungestört mit Anderen zu treffen. Und eines hätte bestimmt nicht geklappt: am Tor der Colonia Dignidad aufzutauchen und dann ohne Weiteres dort aufgenommen zu werden. In der Realität hätte Paul Schäfer vermutlich jede Neuankommende so durch die Mangel gedreht, bis er die tatsächlichen Motive herausgepresst hätte. Dies tut der Qualität des Films aber keinen Abbruch.
Der Film kommt zu einer Zeit in die Kinos, und zwar weltweit, in der das Kapitel Colonia Dignidad noch nicht zu Ende ist. Sektenmitglied Hartmut Hopp floh 2011 aus Chile nach Deutschland, um einer fünfjährigen Haftstrafe zu entgehen. Er lebt mit seiner Frau in Krefeld. Vielleicht bewirkt die erneute öffentliche Aufmerksamkeit, dass die seit mehreren Jahren andauernde Prüfung der Staatsanwaltschaft Krefeld, ob das chilenische Urteil in Deutschland vollstreckt werden kann, endlich mit einer Entscheidung endet.
In Chile stellt sich außerdem die Frage, in welcher Form an die Verbrechen erinnert werden kann, die auf dem Gelände der Villa Baviera an den politischen Gefangenen begangen wurden. Die Entscheidung darüber ist schon lange überfällig. (siehe Kasten: Colonia Dignidad Der Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit)
Schließlich wirft der Film auch noch ein schrilles Licht auf die Rolle der deutschen Botschaft in Chile. Jahrelang hatte sie dem Treiben der deutschen Sekte nahezu tatenlos zugesehen und sich sogar der Tat- und Arbeitskraft der KolonistInnen bedient. Auch hier kann der Film weiteren Druck erzeugen, damit das Auswärtige Amt endlich alle Akten über die Colonia Dignidad freigibt.