Nach der Mobilisierung von Januar 2001 errang die Pachakutik, der politische Arm der indigenen Bewegung Ecuadors, im Folgejahr eine große Anzahl der Wählerstimmen und ging eine Koalition mit dem Ex-Putschisten Lucio Gutiérrez ein. Diese Koalition war von kurzer Dauer. Bereits 2003 verließ die indigene Partei aufgrund massiver Differenzen mit Gutiérrez, der von seiner linken Wahlrhetorik nun nichts mehr wissen wollte, die Allianz. Gutiérrez verfolgte daraufhin seinen rechten Kurs ohne die Pachakutik weiter und suchte sich neue Alliierte im Lager des ehemaligen Präsidenten Bucaram.
Am 20. April 2005 mußte Lucio Gutiérrez seinen Hut nehmen. Er hatte Abdala Bucaram die Rückkehr aus dem Exil versprochen und zu diesem Zweck die Richter des obersten Gerichtes ausgetauscht. Die BürgerInnen der Hauptstadt Quito, von Gutiérrez als Forrajidos (Straßenräuber) abqualifiziert, gingen massenhaft auf die Straße und erzwangen seinen Rückzug. Die indigene Bewegung beteiligte sich zwar an diesen Aktionen, die Speerspitze bildete jedoch nicht sie, sondern eine diffuse BürgerInnenbewegung, die sich den Spottnamen Forrajidos, den ihr Gutiérrez gegeben hatte, zu Eigen gemacht hatte. Die CONAIE ging geschwächt aus dem Kapitel Gutiérrez hervor. Sie hatte sich an einer Regierung beteiligt, die später der politischen Korruption bezichtigt und gestürzt worden war. Dazu kamen innere Spaltungen, die durch den Gegensatz zwischen Hoch- und Tieflandindigenen geprägt waren. Gutiérrez schürte diese Spannungen aktiv, um seinen damaligen Koalitionspartner zu schwächen. Heute haben sich die politischen Rahmenbedingungen für die Bewegung grundsätzlich geändert.
Die CONAIE steht nicht mehr an der Spitze der Kämpfe gegen ein neoliberales Regime. Solange sie sich in der Opposition gegen korrupte Regierungen befand, war ihr die Sympathie anderer sozialer Bewegungen und großer Teile der Bevölkerung sicher. Aktuell wird der soziale Diskurs von der Regierung abgedeckt, soziale Bewegungen haben also keinen Grund mehr, die Indigenenorganisation besonders zu unterstützen. Die befindet sich derzeit in einem Diskussionsprozess: Wie gestaltet sich die Suche nach einer neuen Verfassung und welche Hoffnungen und Ängste verbinden die Indígenas mit diesem Prozess? Dazu habe ich in Quito verschiedene Aktivistinnen und Aktivisten der CONAIE sowie ihre Sympathisanten und Berater befragt. Zentraler Ansatzpunkt der Debatte ist die Verfassunggebende Versammlung, die derzeit in Montecristi tagt. Luis Macas, ehemaliger Präsident der CONAIE und Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen 2006, sagt dazu: „Schauen Sie, als wir 1990 den Vorschlag zu solch einer Versammlung machten, waren wir sehr von dieser Idee überzeugt. Wir waren jung und begeistert.“
Die CONAIE war der Meinung, dass auf dem Wege einer Verfassunggebenden Versammlung wichtige Veränderungen zustande kommen würden. Jedoch steht die Bewegung den Vorschlägen der aktuellen Versammlung, die die Position des Präsidenten betreffen, ablehnend gegenüber: „Wir glauben an kollektive Regierungsformen, an eine Regierung der Gemeinschaft. Diese Idee verfolgen wir seit 1990. Wir lehnen die Stärkung des Präsidentialismus, wie ihn die Regierung anstrebt, ab.“ Stattdessen fordert die Bewegung ein semipräsidentielles System und eine Art Rat, der dem Präsidenten zur Seite stünde und ihn gegebenenfalls kontrollieren könnte. Diese Politik verfolgend ist die CONAIE dabei, autonome Gemeinderegierungen zu bilden und diesen Prozess in den verschiedenen indigenen Gemeinschaften zu fördern: „Das haben wir uns ja nicht gestern ausgedacht“, meint Macas. „Es gibt ein politisches System und einen rechtlichen Rahmen. Wir fahren mit der Bildung der Regierungen fort, ob der Staat sie nun anerkennt oder nicht.“ Ariruma Kowii, ein indigener Aktivist aus der Provinz Chimborazo, der im Erziehungsministerium tätig ist, widerspricht: „Ich bin nicht einverstanden mit der angestrebten Autonomie, wie sie die CONAIE für die Indigenen anstrebt.“ Er wendet ein, dass es in der Geschichte immer wieder zu Teilungsversuchen gekommen sei. Den Indigenen wurden jedoch immer die schlechtesten Böden zugewiesen. „Sie leben auf den Gipfeln der Berge in unwirtlichen Gegenden, bei einer Autonomie würden ihnen diejenigen Gebiete zuerkannt, in denen sie zur Zeit leben.
Die CONAIE fordert eine Integration der Indigenen in den Staat, die in der Verfassung fixiert werden soll. Sie steht auf dem Standpunkt, dass die Indigenen nach wie vor ausgegrenzt werden, was sich zum Beispiel in den Wahlen für die Verfassunggebende Versammlung gezeigt hätte. Macas erklärt, dass die Indigenen garantierte Plätze in der Versammlung gefordert hätten, da sie in allgemeinen Wahlen möglicherweise keine Mandate errungen hätten: „Die Antwort seitens der Regierung war negativ, sie sagten, dass sich alle dem demokratischen Spiel zu unterwerfen hätten.“ „Die Regierung sieht die CONAIE als eine unter vielen korporativistischen Gruppen an, die partikuläre Interessen verteidigt. Neben den Lehrern, dem Transportwesen oder den Gewerkschaften. Es gibt keine Politik des Respekts gegenüber diesen autonomen Organisationen. Hier sehe ich Konfliktpotential“, meint Pablo Ospina, Professor für Geschichte an der Universidad Andina.
Die indigene Aktivistin Carolina Mite, die bis Januar 2008 die Frauen- und Familienbeauftragte der CONAIE war, beklagt: „Correa räumt der indigenen Bewegung einen geringen Stellenwert ein und empfindet die indigenen Nationalitäten und Völker als künstlich geschaffene Einheiten. Er wertet uns ab und er unterscheidet sich kaum von den Vorgängerregierungen.“ Sie nennt als Beispiel die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der lokalen Bevölkerung in der Provinz Orellana, bei denen es um den Erdölabbau und die negativen Folgen dieser Aktivitäten geht. Die Bewohner der Gemeinde Dayuma wehren sich schon gegen die Erdölförderung und werden dafür immer wieder gewaltsam von der Polizei verfolgt. Es fehle ein Dialog mit den indigenen Institutionen, konstatiert der Historiker Ospina. Diese mangelnde Dialogbereitschaft schlage sich auch im sozialen Bereich nieder, wo die indigenen Organisationen einen wichtigen Beitrag leisten könnten.
Ecuador ist ein Exporteur von Primärgütern wie Bana- nen, Blumen und Schalentiere. Das Hauptexportprodukt ist jedoch Erdöl, das im Osten des Landes, im Oriente, gefördert wird. In den 70er Jahren bescherte das Öl dem Land einen wirtschaftlichen Boom. Es kam aber auch zu Konflikten mit indigenen Ethnien des Gebietes, die ihre Lebensgrundlage und ihre Kultur durch die Ölförderung bedroht sahen. Der Abbau von Erdöl und anderen Rohstoffen ist ein ständiger Zankapfel zwischen den Indigenen und den verschiedenen Regierungen. Das derzeitige Interesse, den natürlichen Reichtum des Landes zu veräußern und seine Gewinne gerechter zu verteilen, kollidiert mit dem Wunsch der Indigenen, in ihren Siedlungsgebieten ihrer traditionellen Lebensweise nachzugehen. Der Historiker Pablo Ospina sieht Konfliktpotential auch mit der Regierung Corra: „Bei den Investitionen, beispielsweise in der Erdölförderung, aber auch im Minensektor oder beim Bau neuer Staudämme, sind Konflikte mit den Indigenen sehr wahrscheinlich.“ Luis Macas meint dazu: „Ich komme aus Loja, im Süden Ecuadors. In meiner eigenen Gemeinde baut eine kanadische Firma Silber ab. Sie haben eine Mauer gebaut und verwehren den Bewohnern den Zutritt.“ Diese Aneignung gemeinschaftlichen Territoriums stoße auf das Unverständnis und den Widerstand der DorfbewohnerInnen.
In der ebenfalls im Süden Ecuadors gelegenen Provinz Azuay befinden sich nach Aussagen des Bauernaktivisten Carlos Morales 60 Prozent des Bodens in Händen von 14 kanadischen Minenfirmen (Diario la Hora, 12.3.2008). Sie hätten, so der Aktivist, seitens der Regierung Konzessionen erhalten, um dort Gold, Silber und Kupfer auszubeuten. Die Schäden an der Umwelt und dem sozialen Gefüge seien irreparabel und es sei unverständlich, weshalb die Regierung dieses Tun nach wie vor dulde. Alfredo Luna, langjähriger Berater der CONAIE, bekräftigt: „Mir machen die Konzessionen im Wassersektor, bei der Telekommunikation und vor allem im Erdölbereich große Sorgen. Hier sind Indigene von den Folgen direkt betroffen.“ Luis Macas schließt sich der Sorge an. Der Zugang zu Trinkwasser sei ein Menschenrecht: „Wie kann es sein, dass sie uns, mittels der Vergabe von Konzessionen, den Zugang zu unseren Wasserquellen und Lagunen abschneiden?“
Neben der Privatisierung des Trinkwassers wird das kostbare Nass auch zur Energiegewinnung benutzt. Hier entstehen weitere Konflikte mit den Indigenen, wie Luis Macas verdeutlicht: „Es ist jetzt groß in Mode, Staudämme zu bauen. Angeblich, um uns eine bessere Energieversorgung zu ermöglichen. Aber die Förderfirmen bauen diese Kraftwerke für sich, das Land wird nicht von den neuen Energiequellen profitieren.“ Auch im Streit um die Erdölförderung im Nationalpark Yasuní im Gebiet des Ishpingo, Tibutini und Tambucocha (ITT), der von der UN zum Schutzgebiet erklärt wurde, besteht die CONAIE auf der Einhaltung der Menschenrechte der dortigen Indigenen, die in der Verfassung verankert seien: „Zunächst hat Correa dies anerkannt, um dann die Erlaubnis für die Ausbeutung des Blocks 31 zu geben, der sich in der Zone befindet“, so Alfredo Luna. „Man erkennt ein kleines Gebiet als Schutzzone an, den Nationalpark Yasuní, Siedlungsgebiet von 32 indigenen Gemeinschaften, jedoch nicht.“
Die aktuellen Forderungen der Indígenabewegung umfassen die Kontrolle der natürlichen Ressourcen seitens eines plurinationalen Staates, zweisprachige Bildungseinrichtungen, eine bessere Gesundheitsversorgung, die Festsetzung der Preise für Grundnahrungsmittel und die Revision der Verträge mit den multinationalen Konzernen, um nur einige zu nennen. Luis Macas beklagt die geringe Resonanz ihrer Vorschläge in der Verfassunggebenden Versammlung. Evelio Gende, ein Jugendaktivist aus Santo Domingo de los Colorados, pflichtet bei: „Es ist besorgniserregend, dass die Regierung der Revolución Ciudadana unsere Vorschläge bei den Themen der Biodiversität, in politischen Fragen und beim Thema der Wirtschaft gar nicht zur Kenntnis genommen hat.“ Aus diesem Grund mobilisierte die CONAIE am 11. März 2008 10 000 AnhängerInnen, die in Quito ihren Protest artikulierten. Hauptanliegen waren die Ablehnung der Privatisierung des Wassers, die Konzessionen der Minenkonzerne und die Position der Indigenen in der ecuadorianischen Gesellschaft (Diario la Hora, 12.03.2008). Die Forderungen der CONAIE wurden in einem Schriftstück zusammengefasst und Alberto Acosta, dem Präsidenten der Verfassunggebenden Versammlung, übergeben. Aus den dargestellten Kritikpunkten wird deutlich, dass es zwischen der Regierung Correa und der CONAIE bedeutende Unterschiede gibt.
Es liegt auf der Hand, dass die VertreterInnen der indigenen Bewegung zunächst ausschließlich die Anliegen der eigenen Basis artikulieren. Dabei ist es durchaus möglich, dass sie, als Repräsentanten etwa der Urwald-Ethnien, einen Standpunkt vertreten, der aus nationaler Perspektive zumindest fraglich erscheint. Partikuläre indigene Interessen können durchaus dem Anliegen entgegenlaufen, die natürlichen Ressourcen zu einer Umverteilung des nationalen Reichtums zu verwenden. Ein Konflikt größeren Ausmaßes scheint hier recht wahrscheinlich. Andererseits ist Alfredo Luna zuzustimmen, wenn er im Zusammenhang mit dem Wasserkonflikt konstatiert, dass die Stadtbevölkerung von einer Privatisierung in weit geringerem Maße betroffen ist als die Indigenen. „Das Wasser kommt aus dem Wasserhahn, für die Leute in der Stadt macht es keinen Unterschied, wer es kontrolliert. Für die Gemeinden in den Quellgebieten ist es aber sehr wohl von Bedeutung, ob sie am Zutritt zu ihren Quellen gehindert werden.“ In den Gesprächen mit den indigenen AktivistInnen zeichnet sich ein Gefühl mangelnder Repräsentanz in der Regierung ab.
Trotz eines vagen Optimismus überwiegen bei den CONAIE-AktivistInnen die skeptischen Stimmen. Das Gefühl, wenig beachtet und als ethnische Gruppen nicht ernst genommen zu werden, ist weit verbreitet. Dieser Umstand ist von großer Signifikanz, ist doch der ethnische Charakter der Bewegung für die CONAIE von essenzieller Bedeutung. Über Jahrzehnte hinweg kämpften die Indigenen sowohl in Kirchenkreisen als auch innerhalb der Gewerkschaften sowie der linken Parteien um Anerkennung. Nach und nach bildete sich eine indigene Führungsschicht heraus und mit ihr eine indigene Identität, die erstmals in der Geschichte der Indigenen Gemeinde- und Sprachgrenzen überschritt. Die indigene Identität ist der Kitt, der die CONAIE zusammenhält und ihr den Impuls gibt, sich für die Anliegen ihrer Basis einzusetzen. Wenn Correa nun diese Dimension minimiert, trifft er auf den erbitterten Widerstand der AktivistInnen. Die prekäre ökonomische Lage der Indigenen ist ebenfalls zu beachten. Schafft es Correa nicht, ihre Situation, vor allem in den ländlichen Gemeinden, zu verbessern, könnte die CONAIE ihre Mitglieder ein weiteres Mal auf die Barrikaden rufen.
Nach einem Jahr im Amt könne man sagen, dass Correa, das ökonomische Modell nicht geändert hat. Die Preise für viele Grundnahrungsmittel seien gestiegen und die versprochenen Veränderungen im Gesundheitssektor, bei der Erziehung oder im Wohnungsbau nicht angegangen worden, beschwert sich Luna. „Dabei hätte es Correa gekonnt, er hätte die natürlichen Ressourcen verstaatlichen können. Warum wurde Petrobras nicht des Landes verwiesen wie seiner Zeit Oxy? Warum wird hier mit zweierlei Maß gemessen?“, fragt Luna. Auch Luis Macas’ Kritik geht in diese Richtung. Dem Beispiel Evo Morales’ folgend hätte die Regierung Correa die Konzerne stärker unter ihre Kontrolle zwingen können.
Grundsätzlich markiert die neue Regierung in Ecuador und mit ihr der Verfassungsprozess eine Entwicklung, die verschieden bewertet werden kann. Es kommt offensichtlich stark auf die Perspektive des Betrachters/der Betrachterin an. Der Aktivist der indigenen Partei Pachakutik, Ricardo Carrillo, bescheinigt der Regierung einen proaktiven Charakter: „Diese Regierung ist nicht revolutionär, sie kann aber den Grundstein für einen Umwälzungsprozess legen.“ Nach dem Ende der Verfassunggebenden Versammlung werden die Bürger zu den Urnen gerufen, um über den Verfassungsentwurf abzustimmen. Die Rechte werde versuchen, ein negatives Votum zu erreichen, die indigene Partei muss sich also zu Gunsten der Regierung positionieren, bevor es zur Abstimmung komme, meint Carrillo. Mehr Bedenken äußern die indigenen Vertreter, wie oben beschrieben wurde. Ecuador könnten stürmische Zeiten bevorstehen. Correa verfügt zwar nach wie vor über breite Unterstützung innerhalb der Bevölkerung, es gibt jedoch auch starke Widerstände, vor allem in der größten Stadt Guayaquil, deren konservativer Bürgermeister Jaime Nebot gegen Correa mobil macht. Es erscheint für die Regierung ratsam, die indigenen Einwände und Anliegen stärker als bisher ernst zu nehmen. Eine zweite Oppositionsfront würde sie mit großer Wahrscheinlichkeit in größere Bedrängnis bringen.