Herr Professor Zeuske, wie kamen Sie zu Ihrer Beschäftigung mit Lateinamerika?

Das ist eine längere Geschichte. Es war mir nicht gerade in die Wiege gelegt. Ich wurde 1927 in Berlin-Lichterfelde geboren. Mein Vater hatte dort eine Schmiede gepachtet, die in der Weltwirtschaftskrise kaputt ging. Daran zerbrach die Ehe meiner Eltern. Ich zog mit meiner Mutter 1932 nach Sangerhausen im Südharz, wo ich aufgewachsen bin. Später, meine Mutter hatte wieder geheiratet und zwar einen Landwirt, ging ich nach Anhalt zwischen Dessau und Köthen, habe dort auch die letzten zwei Jahre eine einklassige Volksschule besucht und wurde dann auf Empfehlung meiner Lehrerin zu einer Lehrerbildungsanstalt geschickt. Dort war ich von 1942 bis 1944. Ich konnte die Ausbildung zum Lehrer aber nicht abschließen, weil ich 1944 zunächst zum Arbeitsdienst und dann zur Wehrmacht eingezogen wurde. In den allerletzten Kriegstagen, am 6. Mai, wurde ich noch verwundet. Das war direkt an der Elbe, wo ich mit meiner übriggebliebenen Gruppe den Auftrag hatte, in Richtung Osten zu verteidigen.
1946 hatte ich das Glück, die Vorsemester an der Universität in Halle besuchen zu können. Die Vorsemester waren eingerichtet worden, um die Kriegsfolgen im Bildungswesen überwinden zu helfen. Ehemaligen Soldaten und anderweitig Verhinderten wurde die Gelegenheit gegeben, die Hochschulreife zu erwerben. 1948 machte ich das Abitur. Danach begann ich Pädagogik zu studieren, ich wollte nach wie vor Lehrer werden. Das Studium
schloss ich auch ab – Lehramt mit dem Hauptfach Geschichte – kam aber nicht dazu, länger als Lehrer zu arbeiten, denn ich wurde 1953 nach Berlin geholt in das Staatssekretariat für Hochschulwesen. Ich arbeitete da als Referent in der Abteilung Pädagogik/Lehrerbildung. Von dort ging ich in die pädagogische Praxis nach Jena, wiederum an eine voruniversitäre Einrichtung, die aber Teil der Universität war, nämlich die Arbeiter- und Bauernfakultät. Wir hatten viele junge Arbeiter, die keine Gelegenheit hatten, eine höhere Bildung zu erwerben, die aber Interesse daran hatten. Wir holten diese jungen Leute aus ihren Betrieben. Sie bekamen Stipendien und Unterbringung und konnten je nach Vorbildung und Leistungsstärke in eineinhalb bis drei Jahren das Abitur erwerben. Später waren es grundsätzlich dreijährige Kurse. Die Vorläufer der 1949 gebildeten Arbeiter- und Bauernfakultäten waren die Vorsemester, wie ich eins besucht hatte.
An der Arbeiter- und Bauernfakultät in Jena war ich zwischen 1957 und 1960 tätig. In dieser Zeit führte ich einen dreijährigen Kurs von Anfang bis Ende durch. Dabei bekam ich auch den ersten Kontakt zu Lateinamerika, konkret zu Cuba. Es waren meine Studenten, die mich dafür interessierten.Die ersten Nachrichten über Cuba, über den Guerillakampf im Osten, erhielt ich im März oder April 1957.
Das fiel in eine Zeit, wo ich auf der Suche nach einem Thema war, um als Historiker weiter zu arbeiten. Ich wollte gerne promovieren und hatte mich schon mit verschiedenen Themen auseinandergesetzt, stieß aber immer wieder an die Grenzen von fehlendem Material und unzureichender Quellenlage. Nun kam Cuba. Ehe ich wirkliche Motivation bekam, mich ernsthaft damit zu befassen, verging einige Zeit, ich musste erst einmal die Sprache lernen. Das war damals in Jena nicht leicht. Da gab es nur einen Spanischkurs mit zwei Wochenstunden an der Volkshochschule. Das bringt natürlich nicht sehr viel, um eine Sprache wirklich zu lernen.

Sie kamen aber ziemlich bald nach Cuba?

Ja. Eine zufällige Begegnung stellte endgültig die Weichen. 1960 war ich von der Arbeiter- und Bauernfakultät in Jena an die Universität Leipzig gewechselt. Anfang Dezember 1962 fuhr ich von dort aus für ein paar Tage ins Zentralarchiv nach Potsdam. Da sprach mich ein älterer Herr an – mein späterer Kollege Professor Basler, den ich damals aber noch kaum kannte –, ob ich nicht Interesse hätte, eine Zeitlang in Cuba zu arbeiten, um dort eine Arbeiter- und Bauernfakultät aufzubauen. Ich sagte ihm, das könne ich alleine nicht entscheiden, das müsse ich mit meiner Frau bereden. Außerdem seien meine Spanischkenntnisse noch sehr bruchstückhaft. Er meinte, das könne überwunden werden und es gäbe ja auch Dolmetscher.
Am nächsten Wochenende fuhr ich nach Hause und sprach mit meiner Frau. Die konnte ich zunächst überhaupt nicht überzeugen. Wobei noch nicht daran gedacht war, dass die ganze Familie umsiedelt, sondern dass ich alleine auf eine etwas längere Dienstreise gehen würde. Ich dachte damals an vier/fünf Monate, wenn es hoch käme, vielleicht ein halbes Jahr, länger auf gar keinen Fall.
Dann ging es Schlag auf Schlag. Es gab einen jungen Sachbearbeiter im Staatssekretariat für Hochschulwesen, Klaus Baltruschat. Er setzte sich mit aller Kraft dafür ein, dass ich die nötigen Genehmigungen bekam, das heißt die Erlaubnis vom Staatssekretariat und den dahinter stehenden Dienststellen, ich vermute mal vom Zentralkomitee, dem Ministerium für Staatssicherheit und dem Außenministerium.
Mit Baltruschat stehe ich heute noch in Verbindung. Er betreibt zusammen mit seiner Frau einen kleinen Buchladen im Erdgeschoss des Wahlkreisbüros von Gregor Gysi in Berlin-Marzahn. Im vergangenen Jahr kam eines Morgens ein junger Neonazi in den Laden und schoss Baltruschat nieder. Dessen Arm wurde durch die Kugel so schwer verletzt, dass er amputiert werden musste. Der Täter, der später noch einen Polizisten erschoss, wurde inzwischen verhaftet und verurteilt.
Anfang Dezember 1962 hatte mich Basler in Potsdam angesprochen und keinen Monat später ging es schon los: Ich fuhr am 31. Dezember 1962 bei minus 24 Grad mit dem Zug in Leipzig ab. Von Prag aus ging das Flugzeug am nächsten Morgen. Unsere Reise endete aber erstmal in Gander in Neufundland, weil der Flughafen von Havanna an diesem 1. Januar aus militärischen Gründen gesperrt war. Am 2. Januar kam ich in Havanna an. Dort wurde ich zunächst sehr gut in einem Hotel untergebracht. Die Cubaner fragten sofort, wo denn meine Familie sei. Sie rechneten damit, dass ich mit der Familie käme und die nächsten zwei bis drei Jahre in Havanna tätig sei. So sei ich angefordert. Das hörte ich zum ersten Mal.
Wieder mit Hilfe von Klaus Baltruschat konnte ich im Mai 1963 meine Familie nachholen, das heißt meine Frau und unsere beiden Söhne. Die Älteste, unsere Tochter Bärbel – sie war damals 14 – wollte nicht mit. Sie wollte nicht schon wieder die Schule wechseln, wir waren wegen meiner beruflichen Tätigkeiten ja schon mehrmals umgezogen. Als meine Frau und die beiden Jungen eintrafen, bekamen wir eine Wohnung in Miramar. Michael, der ältere Sohn, ging auf eine cubanische Schule, der kleine Thomas ging in die Botschaftsschule im Sierra Maestra, dem Hotel, wo unsere Diplomaten fast alle wohnten.
Der Aufenthalt in Cuba wirkte sehr formierend bei unseren Kindern, besonders bei Michael, der inzwischen Professor für lateinamerikanische Geschichte in Köln ist und sich bis heute intensiv mit Cuba beschäftigt (vgl. Buchbesprechungen in dieser Ausgabe).
In die Arbeit als Berater beim Aufbau der Arbeiter- und Bauernfakultät konnte ich wegen der mangelnden Sprachkenntnisse nicht sofort voll einsteigen. Für Besprechungen stand mir zwar eine Dolmetscherin zur Verfügung, eine Promovendin aus der DDR, die über José Martí arbeitete. Aber um mit den cubanischen KollegInnen reden und selbst auch unterrichten zu können, musste ich die Sprache natürlich sprechen. Um das schnell zu erreichen, hatte ich zwei Hauptmethoden. Die eine war eine systematische Zeitungslektüre, die andere war der alltägliche Kontakt mit den Cubanern. Ins Gespräch kam man ja schnell, wurde angesprochen, woher man kommt, wer man ist usw. Nach etwa vier Monaten hatte ich soviel Spanisch intus, dass die Kommunikation mit meinen Kollegen ohne Übersetzung möglich war. Im Februar 1964 übernahm ich auch selbst eine Vorlesung.

Wie funktionierte der Aufbau der Arbeiter- und Bauernfakultät in Havanna?

Das war zunächst gar nicht so einfach, wie sich in den ersten Monaten meiner Anwesenheit zeigte. Juan Marinello, Schriftsteller und damals Rektor der Universität von Havanna, hatte seit Jahrzehnten den Wunsch, nach dem Vorbild der Rabfak (Arbeiterfakultäten) in der Sowjetunion eine Bildungseinrichtung für junge Arbeiter in Cuba aufzubauen. Nach der Revolution wollte er das endlich durchzusetzen.
Das sowjetische Modell und auch unser Modell der Arbeiter- und Bauernfakultät waren aber nicht ohne weiteres auf Cuba übertragbar. In der DDR gab es ein großes Potential an Facharbeitern, die für die Weiterbildung in Frage kamen. In Cuba waren die wenigen Facharbeiter, die es gab, hart umkämpft. Das heißt, niemand wollte sie aus ihrer Arbeit freigeben. Das Organisationsmodell DDR entfiel also von vornherein. Es gab harte Auseinandersetzungen vor allem zwischen Juan Marinello und Ernesto Che Guevara, der damals Industrieminister war. Letzterer bestand darauf, alle Arbeiter in der Produktion zu belassen. Man einigte sich schließlich auf ein Abendkurs-System.
Im September 1963 wurde die Arbeiter- und Bauernfakultät eröffnet, zunächst mit zweitausend zugelassenen Schülern, von denen nach wenigen Wochen noch siebenhundert übrig waren. Von diesen siebenhundert machten nach zwei Jahren etwa zweihundert ein fachspezifisches Abitur für das Studium technischer Fächer. Das heißt, zehn Prozent der ursprünglich Zugelassenen hielten durch. Interessenten hatte es zu Anfang angeblich sieben- bis achttausend gegeben. Die Schülerzahl pendelte sich sehr schnell bei 200 ein, die tatsächlich die Kraft aufbrachten und die familiäre Unterstützung hatten, sich Abend für Abend, Montag bis Freitag auf die Schulbank zu setzen. Es war eine enorme Belastung: Die hatten ihre acht bis zehn Stunden Arbeit, fuhren nach Hause, machten sich frisch. Um acht ging der Unterricht in der Fakultät los und endete erst kurz vor  Mitternacht. Das alles unter den Verkehrsverhältnissen, wie sie damals waren und heute wieder sind. Wir haben oft stundenlang gestanden, um zur Fakultät und nachts wieder zu unseren Wohnungen zu kommen. Ich kam oft erst gegen zwei Uhr morgens zu Hause an. Damals war es noch undenkbar, in Havanna Fahrrad zu fahren.

Woher kamen die Lehrkräfte?

Sie kamen zum Teil aus Schulen, zum Teil über die Bildungsgewerkschaft und die Lehrerverbände, oder sagen wir besser den Lehrerverband, weil die Vielzahl der Lehrerverbände 1963 schon sehr, sehr zusammengeschmolzen war.
Als ich später bei den Historikern las, hatte ich sehr interessante Kollegen, beispielsweise den Schriftsteller Alejo Carpentier, Julio LeRiverend, der führende Wirtschaftshistoriker Cubas, Sergio Aguirre, ein alter Pädagoge und Historiker, der seit den dreißiger Jahren eine führende Rolle in der Linken spielte, Carlos Rafael Rodríguez, damals schon Minister, der aber noch Unterricht an der Fakultät gab, dazu verschiedene ausländische Kollegen, vor allem Argentinier.
Das war natürlich mein Vorteil, ich bin sehr rasch in die Bildungsproblematik eingestiegen, auch in heftige Diskussionen mit Marinello, mit dem Bildungsministerium, sogar mit Che Guevara, das aber nur kurz – er hatte einfach zu wenig Zeit, um sich groß mit Ausländern zu unterhalten. Ich lernte bei passender Gelegenheit auch Fidel persönlich kennen. Auch das nur ganz kurz, aber es hat natürlich zusätzliche Motivation gegeben.
Über die Verbindung mit Carpentier kam ich in ein weiteres Projekt. Carpentier leitete damals einen Verlag, Editora Nacional, der zentrale Projekte bearbeitete, darunter eine cubanische Übersetzung des Kapital. Der Übersetzer war Sánchez Bustamante, ein hochgebildeter Mann, der die deutsche Sprache hervorragend beherrschte, Sohn eines weltbekannten Juristen und Präsidenten des Völkerbundes. Er sprach mich an, ihn bei der Übersetzung zu unterstützen. Daraus entwickelte sich eine sehr interessante Zusammenarbeit. Es gab unter den cubanischen Intellektuellen im Umfeld des Verlages allerdings Vorbehalte gegen die Arbeit von Sánchez Bustamante, weshalb das Projekt nach etwa 300 Seiten des ersten Bandes gestoppt wurde. Ich hielt die Übersetzung für ausgezeichnet, wesentlich besser als die Übersetzung von Wenzeslav Roces, die in Mexico erschien. Die hat sich aber durchgesetzt, der Mann war einfach schneller und auch geschäftstüchtiger bzw. hatte größeren politischen Einfluss. Die Cubaner brachten also keine eigene Kapital-Übersetzung heraus. Aus meiner Beratertätigkeit bei Sánchez Bustamente hatte ich aber den Gewinn, dass ich ein vernünftiges Spanisch lernte, das ich unter anderen Umständen nie gelernt hätte.

Wie war das Verhältnis von Männern und Frauen bei der Zahl der SchülerInnen der Arbeiter- und Bauernfakultät?

Es waren fast durchweg Männer. Das Geschlechterproblem war damals zwar schon in der Diskussion und es gab die massive Forderung seitens der Revolutionsführung, speziell von Fidel, nach Gleichberechtigung und gesetzlicher Regelung dieser Gleichberechtigung. In der Realität war das noch nicht so weit. Es war – glaube ich – erst ein Ergebnis der siebziger und achtziger Jahre, dass sich das real durchsetzte. Allerdings, unter meinen Studenten, die ich 1964 in Weltgeschichte instruierte, waren schon die Hälfte Mädchen. Und die, die als Historiker übrig geblieben sind, sind fast alles Frauen. Die haben offensichtlich ein größeres Stehvermögen und hatten möglicherweise damals auch weniger Gelegenheit, als Historiker anderweitig tätig zu werden, etwa im Journalismus. Ich kann mir den Mechanismus auch nicht ganz erklären, weshalb die Männer, die ich damals in meinen Vorlesungen hatte, fast keine Rolle in der cubanischen Geschichtswissenschaft spielen.

Wie lange waren Sie in Cuba tätig?

Bei meinem ersten Aufenthalt exakt vom 2. Januar 1963 bis zum 15. Dezember 1964, im zweiten Jahr mit verminderter Aktivität als Berater, sondern zunehmend als Historiker im Unterricht der allgemeinen Geschichte. Ich las ab Februar 1964 einen Kurs Weltgeschichte. Die Vorlesungsskripte erschienen in Cuba später als Lehrbuch und wurden bis Mitte der achtziger Jahre mehrmals aufgelegt.
1966 kam ein Ruf aus Havanna, dort auf einer höheren Stufe wieder eine Arbeit aufzunehmen, nämlich in der Ausbildung von wissenschaftlichen Assistentinnen. Das waren neun junge Frauen, die ich in einem Crashkurs durch die neuere Weltgeschichte zu führen hatte. Damals deutete sich in Leipzig die Richtung „Vergleichende Revolutionsgeschichte“ an, die später von Manfred Kossok sehr gezielt und durchdacht aufgebaut wurde. Aus den Anfängen heraus kam ich mit dieser Fragestellung nach Havanna und konzipierte das Seminar als „Vergleichende Revolutionsgeschichte in der Neuzeit“. Das war ein bisschen sehr mutig, denn in Cuba existierte keinerlei Literatur, um diese Themen zu bearbeiten. Wir mussten also auf die vorhandene veraltete spanische Literatur zurückgreifen, auf englischsprachige, soweit sie bis 1958 in Cuba gelandet war, denn ab 1959 gab es dafür kaum noch Geld. Und als ab 1963 die Blockade einsetzte, war nicht mehr daran zu denken, modernere Literatur einzukaufen. Wir hatten dennoch ein hochinteressantes Seminar, das leider vorzeitig beendet wurde. Ich hatte eine unvorsichtige Bemerkung zu einer Frage gemacht, die sich auf eine Rede Fidels bezog, und wurde nach fünf Monaten gebeten, das Land zu verlassen. Das ist dann später überwunden worden. Ich hatte aber die ganze Zeit danach mit den jungen Damen und mit anderen, die bei mir 1964 gehört hatten, eine regelmäßige Verbindung und bin unter ihnen, noch nicht als Methusalem, aber doch als Maestro voll anerkannt.

Wie haben Sie – abgesehen von Ihrer Arbeit – Cuba zu Beginn der sechziger Jahre erlebt? Es war eine ungemein spannende Zeit und es gab dort damals auch eine andere Art von sozialistischer Entwicklung als in der DDR.

Für mich als DDR-Bürger  – damals noch unter Ulbricht – und als Wissenschaftler, war vom ersten Moment an nahezu ein Bruch zu spüren. Ich sage das nicht überspitzt, aus Sicht des Jahres 2000, ich habe es damals tatsächlich so empfunden: Fidel sprach mit seinen Leuten, was in der DDR unvorstellbar war. Das Verhältnis der Revolutionsführung zur Masse und das Bemühen um das Verständnis der Masse war ein ausgesprochen befreiendes Erlebnis. Das hat mich persönlich – aber auch alle meine Kollegen und Genossen – unerhört beflügelt. Ich habe später begriffen, dass manches daran auch manipuliert oder manipulativ angeordnet und bestimmt war. Aber ich hatte nie den Eindruck – und ich habe es sehr bewusst verfolgt – das sei bloße Manipulation oder bloßer Populismus. Der Eindruck war vielmehr, der Mann da oben glaubt, was er sagt, auch wenn er träumt. Und er hat sehr, sehr häufig geträumt – das sage ich aus heutiger Sicht. Ich habe hier seine Reden der ersten Jahre. Die habe ich alle durchgearbeitet für das Projekt einer Agrargeschichte Cubas, was ich leider nie realisieren konnte. Wenn ich diese Reden unter heutigen Gesichtspunkten lese und überschlage, was von den damaligen Vorhaben realisiert worden ist, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Speziell in der Landwirtschaft und die ist vom Zucker angefangen bis hin zur tagtäglichen Ernährung der elf Millionen zählenden Bevölkerung das Grundlegende zum Überleben. Da muss ich sagen, Fidel Castro war – möglicherweise ist er es immer noch – ein Loco (ein Verrückter). Aber gleichzeitig ist es natürlich immer soweit begründet, dass vieles, was fantastisch klang, in irgendeiner Form doch Realität wurde – sei es im erwähnten Beispiel Landwirtschaft, sei es in der Biotechnologie oder auch in der Medizin. Ich war dieses Jahr nach langer Zeit wieder in Cuba und habe Sachen gesehen, die hätte ich nie geglaubt, wenn ich sie nicht gesehen hätte. Es ist teilweise unglaublich, was trotz aller Widrigkeiten erreicht worden ist. Und letztlich erklärt sich auch das zehnjährige Überleben der cubanischen Revolution seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers nur aus dieser tatsächlichen Kraft, alle inneren Reserven bis zum Letzten zu mobilisieren. Insofern muss man die Sache bewundern und Fidel ist nach wie vor der Hauptverantwortliche dafür, bei aller sicher berechtigten Kritik. Man kann eigentlich nur ein widersprüchliches Urteil abgeben, weil die Situation in sich extrem widerspüchlich ist.

Sie haben während Ihres ersten Aufenthaltes auch begonnen, sich wissenschaftlich mit der Geschichte Cubas zu beschäftigen?

Ja. Irgendwann begann mein Interesse an der cubanischen Geschichte – nicht im allgemeinen, das war vom ersten Tag an vorhanden – sondern ich fragte mich, wie es überhaupt zu dieser Revolution 1959 gekommen war. Bei meiner Lektüre bin ich darauf gestoßen, dass die unruhige Periode der frühen dreißiger Jahre (Herausbildung einer breiten Volksbewegung gegen die Diktatur von Gerardo Machado Morales, die zum Sturz des Diktators im August 1933 führte – G.E.) eine entscheidende Voraussetzung der Ereignisse der späten fünfziger Jahre war. Darüber, die Revolution von 1933 als Vorgeschichte der 59er Revolution, habe ich im Dezember 1965 in Leipzig promoviert. Das war eigentlich das erste Mal, dass sich ein Historiker mit diesem Thema befasst hat. Später wurde es auch mehrfach von cubanischer Seite bearbeit, aber bis dahin war es im Bewusstsein der cubanischen Historiker fast nicht präsent. In der 33er-Revolution organisierten sich Kräfte, die in der 59er Revolution wirksam geworden sind. Ebenso spielten die Erfahrungen des Kampfes gegen die Diktatur Machados eine wichtige Rolle im Kampf gegen Batista. Dies wurde damals auch mehrfach formuliert. Weniger von Fidel Castro, der hat in seinem „La Historia me absolverá“ mehr eine strukturelle und moralische Analyse zum Ausgangspunkt genommen. Ich denke da in erster Linie an Raúl Roa. Während meiner Zeit in Cuba war er schon Außenminister, aber vorher war er ein sehr wirksamer Soziologieprofessor in Havanna. Er hatte das tiefste Verständnis für die 33er-Revolution und ihre Lehren für die revolutionäre Bewegung der fünfziger Jahre.
Ende 1964 kehrten wir nach Leipzig zurück. Im Mai 1965 setzte ich mich hin und habe bis September 1965 meine Arbeit geschrieben. Ich legte sie Kossok und Markov vor, ohne vorher das genaue Thema abzustimmen. Sie wurde gut angenommen und es fiel mir relativ leicht, sie im Dezember 1965 bei Markov zu verteidigen.
So begann meine universitäre Beschäftigung mit Lateinamerika. 1966 hatte ich das Glück, mit einer ersten Universitätsdelegation als Sekretär und Dolmetscher auf den amerikanischen Kontinent zu kommen, nach Uruguay, Chile und Kolumbien. Wir waren fast ein Vierteljahr unterwegs. Das brachte mir einen Einblick in die Gesamtproblematik Lateinamerikas. Es war lebendiger Anschauungsunterricht, was wir da an den Universitäten und deren Umfeld erlebten. Zu dieser Zeit war die DDR von den meisten Staaten noch nicht diplomatisch anerkannt. Die Reise unserer Delegation hatte daher zum Ziele, vermittels universitärer Freundschaftsverträge ein bisschen zum Kampf um die Anerkennung beizutragen. (Seitens der BRD galt zu dieser Zeit die sogenannte Hallstein-Doktrin, die verfügte, zu allen Ländern, die die DDR anerkannten, die diplomatischen Beziehungen abzubrechen, was natürlich auch Regierungskredite und den Erhalt von Entwicklungshilfegeldern betraf – G.E.) Bei unseren Diskussionen an den lateinamerikanischen Universitäten ging es natürlich entsprechend immer um die Fragen: Was ist die DDR? Welche Lebensberechtigung hat sie? Was bedeutet die Mauer? Wie kann man für eine Mauer sein? Alles sehr komplizierte Fragen, die es bis heute geblieben sind.

Was waren die Schwerpunkte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Lateinamerika in der DDR?

Lateinamerikanistik in der DDR bedeutete zunächst die Aktivität an zwei Stellen, in Leipzig und in Berlin – nicht mehr. In Rostock fing etwas an, was uns damals ein administrativer, von oben kommandierter Akt war, nämlich die Gründung einer „Sektion Lateinamerikawissenschaften“, für die wir aus der Leipziger Perspektive in Rostock keinerlei Voraussetzungen sahen.
In Leipzig entwickelte sich von der Geschichte her ein Interesse an Lateinamerika, das in erster Linie bestimmt worden ist von Manfred Kossok. Kossok hatte in den fünfziger Jahren über die Handwerker in Buenos Aires im 19. Jahrhundert promoviert. Diese soziologische Analyse der bewegenden Kräfte der Unabhängigkeit ist zum Klassiker geworden und ist auch in Argentinien ein historisches Standardwerk. Während ich in Cuba war, verbrachte Kossok ein Jahr in Chile. So standen wir schon auf drei Beinen: Argentinien und Chile durch ihn, ich brachte Cuba ein. Es kamen Andere dazu, die die Länderpalette ergänzten und auch die Zeitstaffelung. Zusammen – wir waren am Ende knapp zehn Mitarbeiter – deckten wir schließlich das ganze Länderspektrum Lateinamerika und auch die gesamte Zeitleiste ab. Das mündete in verschiedene Projekte – ich nenne insbesondere die Kirchenproblematik, die Armeeproblematik und schließlich die sogenannte Hacienda-Problematik, die seit Ende der sechziger Jahre weltweit diskutiert wurde.
Wie schon erwähnt, begann in den sechziger Jahren in Leipzig die Auseinandersetzung mit vergleichender Revolutionsgeschichte. Als wir das Konzept methodisch und theoretisch so weit ausgebaut hatten, bearbeiten wir in diesem Rahmen auch die lateinamerikanische Geschichte, speziell 19. und frühes 20. Jahrhundert. Dabei gab es ein stillschweigendes Übereinkommen, nicht über die Grenze von 1917 hinauszugehen. In der Vorlesung musste natürlich auch Zeitgeschichte gelesen werden, aber in der Forschung bemühten sich Walter Markov, Manfred Kossok, Max Zeuske und auch fast alle anderen, diese Grenze nicht zu überschreiten. Für die Zeit bis 1917 konnten wir auf der Basis unserer Forschungen wissenschaftlich fundierte Aussagen machen. Für alles, was danach geschah, war es widersinnig, irgend etwas Definitives behaupten zu wollen, denn es konnte von jeglichem ZK-Beschluss von heute auf morgen umgeworfen werden.
Das heißt, wir kamen uns da mit der Partei und der herrschenden politischen Ideologie nicht ins Gehege. Natürlich waren wir ideologisch ein Teil der DDR, das will ich damit überhaupt nicht negieren. Aber politisch-taktisch waren wir zum Teil als gebrannte Kinder – da erwähne ich vor allem Walter Markov[fn]Der 1909 in Graz geborene und in Ljubljana aufgewachsene Walter Markov kam nach einem Geschichtsstudium in Leipzig, Köln, Berlin und Hamburg 1933 zur Promotion nach Bonn. An der Bonner Uni wurde der junge Assistent bald Kopf einer antifaschistischen studentischen Widerstandsgruppe. Im Februar 1935 wurde Markov verhaftet und 1936 vom Volksgerichtshof wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Bis 1945 war er im Zuchthaus Siegburg inhaftiert. Nach der Befreiung aus dem Zuchthaus im April 1945 war er ein Jahr als politischer Organisator der KPD in Bonn aktiv. Im Oktober 1946 ging er nach Leipzig und wurde dort 1949 Professor für Geschichte. Anfang der fünfziger Jahre wurde er wegen Titoismus aus der SED ausgeschlossen, damit wurde ihm auch der Status als Verfolgter des Naziregimes aberkannt! Er wurde später rehabilitiert, trat aber nicht wieder in die SED ein. Walter Markov war einer der bekanntesten Historiker der DDR, seine Arbeiten über die französische Revolution wurden zu Standardwerken. Er starb 1994 in der Nähe von Berlin. In Bonn trägt heute ein Antiquariat für linke und antifaschistische Literatur in der Breite Straße 51 den Namen des Widerstandskämpfers und Wissenschaftlers. Zum Weiterlesen: Walter Markov: Zwiesprache mit dem Jahrhundert, Dokumentiert von Thomas Grimm, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1989.[/fn] – zum Teil aus Erfahrung, so klug, mit Parteibeschlüssen nicht anzuecken bzw. sie zu umgehen, ohne das natürlich zu deklarieren. Anders wäre unsere Arbeit nicht möglich gewesen, auch nicht über das 18. oder 19. Jahrhundert. Aber so war es möglich, dass wir am Ende ein ständiges Kolloquium „Vergleichende Revolutionsgeschichte“ in Leipzig hatten, das sich nicht nur auf Lateinamerika, sondern auf die Weltgeschichte bezog. Darüber kamen wir mit Leuten in die Diskussion, von denen wir nie geglaubt hätten, dass sie uns auch nur über die linke Schulter schauten. Auch international wurde unsere Arbeit zur Kenntnis genommen und anerkannt. Das war hoch interessant, sehr befriedigend und sehr förderlich.
1979 ging ich von Leipzig nach Rostock, unter verstärktem Druck sowohl der Partei als des damals schon existierenden Ministeriums für Hochschulwesen. 1980, nach meiner Habilitation, erhielt ich die Berufung zum Professor und damit gleichzeitig die Ernennung zum Direktor der „Sektion Lateinamerikawissenschaften“ an der Universität Rostock, eine Funktion, die ich bis 1984 innehatte. Der Wechsel nach Rostock war für mich keine leichte Entscheidung, denn die Situation dort war nicht einfach. Die Sektion stand 20 Jahre – seit ihrer Gründung – unter der Einzelleitung des 1984 verstorbenen Adalbert Dessau und war damit ihrer ganzen Verfassung nach ein bloßes Personalprodukt eines Wissenschaftlers. Womit ich gegen Adalbert als Literaturwissenschaftler überhaupt nichts sagen will, aber eine solche Institutsherrschaft war einfach auf die Dauer zu einseitig und – ich möchte sagen – bedrückend und beschränkend.
Ein zweites Problem war die Abhängigkeit der Sektion von der Abteilung Wissenschaft des Zentralkomitees. Als neue Gründung hatte sie keine Wissenschaftstradition, nicht das Gewicht der Tradition, aber auch nicht die Vorteile, die Tradition bietet. Anders als andere Universitäten konnte sie sich bei Einflussbestrebungen nicht auf ihre Traditionen berufen und war damit weitaus abhängiger von den politischen Tagesurteilen der Abteilung Wissenschaft des ZK. Wobei man zu Gunsten dieser Abteilung – ich wage das auch aus der Sicht des Jahres 2000 zu sagen – bemerken muss, dass es dort auch sehr vernünftig denkende Leute gab, die begriffen, dass man wissenschaftliche Orientierungen nicht jedes Jahr ändern kann.
Bei meiner Zusage für Rostock hatte ich die Bedingung gestellt, bei aller Rücksichtnahme auf Adalbert meine eigene wissenschaftliche Politik machen zu können. Ich wurde dabei nicht spezifisch, denn wenn ich spezifisch geworden wäre, wäre ich nicht nur nicht nach Rostock gegangen, sondern wäre wer weiss wohin gegangen. Mir ging es einfach darum, den jungen Leuten Luft zum Atmen zu geben. Das heisst, diese harte und immer fühlbare Hand Adalbert Dessaus verschwinden zu lassen, ohne mit ihm zu brechen, sondern im Konsens eine Politik zu machen, die das ideologische Klima an der Sektion erträglicher machte. Das ist mir nicht gänzlich gelungen. Aber persönlich hatte ich eine gute Zusammenarbeit mit Adalbert und ein gutes Verhältnis zu ihm. Immerhin konnten wir in dieser Zeit wenigstens einige Leute zur Produktion, zur Veröffentlichung der eigenen Arbeiten, bringen. Wenngleich damals schon ganz stark gehemmt durch die bürokratischen Reglungen in Berlin. Also Zugang zum Verlag, Erhalt von Papier, Erhalt von Druckkapazität usw. Daran sind viele Projekte gescheitert. Wir sind in den achtziger Jahren zunehmend verkümmert durch die Unfähigkeit, unsere Arbeiten wirklich zur Publikation zu bringen.

Ich habe noch eine Nachfrage zur frühen Phase der Beschäftigung mit Lateinamerika. In der DDR lebte eine ganze Reihe von Leuten, die in der Emigration in Lateinamerika waren. Hatten die LateinamerikanistInnen Kontakt zu EmigrantInnen, konnten sie deren Erfahrungen, Kenntnisse und Kontakte nutzen?

Bedauerlicherweise fast gar nicht. Erstens führe ich das darauf zurück, dass es schon Anfang der fünfziger Jahre unter Ulbricht eine Linie gab, sich nach Möglichkeit mit Leuten, die im Westen in der Emigration waren, nicht zu belasten. Diejenigen, die von sich aus, gewissermaßen ohne Ulbricht, vor der Durchsetzung seiner Monopolmacht zurückgekehrt waren, hatten oft ihre Schwierigkeiten. Ich denke nur an meinen Lehrer Walter Markov, der Anfang der fünfziger Jahre aus der Partei ausgeschlossen wurde wegen angeblichem Titoismus. Der Mann war zwar in Ljubljana aufgewachsen und sprach serbokroatisch, hatte aber ansonsten mit Tito nichts zu tun.
Ein anderer Fall war Paul Merker, der Kopf der „Bewegung Freies Deutschland“ in Mexico. Er landete sogar im Gefängnis. Leute, die aus der sogenannten Westemigration kamen, mussten sich sehr zurückhalten, vor allem wenn sie jüdischer Herkunft waren. Da ist in den fünfziger Jahren in der DDR zu viel geschehen, von anderen Ländern wie der Tschechoslowakei ganz zu schweigen. (Vgl. dazu das Lebenswege-Interview mit der tschechischen Mexico-Emigrantin und Schriftstellerin Lenka Reinerova in der ila 210.)
Ich hatte zeitweilig Kontakt zu einem Mann, der in bolivianischer Emigration war. Sein Name war Silberstein, er war vermutlich jüdischer Herkunft. Er war Ende der vierziger Jahre zurückgekehrt und in Berlin im FDGB tätig, wo ich ihn auch kennenlernte. Ich bat ihn mehrfach, uns bei bestimmten Publikations- und Forschungsprojekten zu unterstützen. Er hat mir immer ohne weitere Begründung abgesagt. Dafür kann es natürlich verschiedene Gründe gegeben haben, vielleicht hatte er einfach keine Zeit. Aber ich vermute, es war die Angst, sich irgendwie in die Nesseln zu setzen, die Leute waren gebrannte Kinder.

Über das Lateinamerikanistik-Studium in Rostock war im Westen wenig bekannt. Wie funktionierte das, wie kam man überhaupt als StudentIn dahin?

Das Interesse am Studium der Lateinamerikawissenschaften war sehr groß. Es gab sehr viel mehr Bewerber als Studienplätze. Die Sektion in Rostock hatte daher im Unterschied zu anderen Universitäten das Recht, Aufnahmeprüfungen zu machen, also die eigenen Studenten auszuwählen. Das gab es nur an wenigen anderen Sektionen. Dafür gab es eine Auswahlkommission, der Leute aus den verschiedenen Fachrichtungen angehörten. Die waren verpflichtet, sachlich zu entscheiden, und mein Eindruck war, dass sie das auch gemacht haben. Ich habe mich als Direktor tunlichst gehütet, da auch nur einen Finger zu rühren. Was an neuen Studenten kam, war gut ausgewählt. Das waren informierte, interessierte und in der Regel leistungsmäßig gute Leute, die ihre fünf Jahre durchstanden. Aber es war natürlich die Crème de la Crème. Von 100 Bewerbern konnten nur 14 aufgenommen werden.

Was waren die Schwerpunkte des Lateinamerikanistik-Studiums?

Die Grundausbildung bei uns war Sprache und Ökonomie, daneben gab es Geschichte, Philosophie, Ethnologie, Literaturwissenschaft und etwas Geographie. Da kam ein Absolventenbild heraus, das im Westen in dieser Form völlig unbekannt war. Die konnten natürlich selbst als Dolmetscher mit all den Kenntnissen glänzen, die sie im Hintergrund zur Verfügung hatten. Möglicherweise waren die Dolmetscher im Westen sprachlich etwas besser, weil sie fünf Jahre nur Sprache gemacht hatten. Aber auch bei uns erhielten die Studenten eine sehr gute sprachliche Ausbildung. Viele Sprachlehrer waren „native speakers“, zum Beispiel chilenische Emigranten, die in der DDR lebten. Aber auch Peruaner und natürlich Brasilianer für Portugiesisch, die dafür nach Rostock kamen. Es hat immer Mühe gemacht, sie mit der entsprechenden Menge an Dollars zu versorgen, auf die sie als Teil ihres Gehalts Anspruch hatten. Aber davon abgesehen war es kein Problem, gute Leute in Lateinamerika zu finden, die Interesse hatten, ein paar Jahre in Rostock tätig zu sein.
Wenn sich unsere AbsolventInnen weiter spezialisieren wollten, etwa um als Literaturwissenschaftler oder Historiker zu promovieren, gingen sie nach vier Jahren in Rostock für zwei oder drei Jahre als Forschungsstudenten nach Berlin oder Leipzig, um dort eine vertiefte Ausbildung in ihrem Schwerpunktfach zu machen.
Das Vorbild dieser Sektionsstruktur mit einer möglichen späteren fachspezifischen Spezialisierung waren die Area-Oriented Studies in den USA. Das war an den westdeutschen Universitäten mit ihrer reinen Institutsstruktur und auch an anderen Fachbereichen in der DDR, wo sich das alte System trotz mehrfacher Hochschulreform noch teilweise erhalten hatte, so nicht möglich gewesen. Spätestens nach ihrem ersten oder zweiten Einsatzjahr merkten unsere Absolventen, welche Voraussetzungen sie im Vergleich mit den Absolventen osteuropäischer, aber auch westdeutscher Hochschulen hatten. Aber es war auch so, dass unser Modell nur gegen sehr viele Widerstände und offensichtlich auch nur mit extremem Zwang durchgesetzt werden konnte. Das galt weniger für Neugründungen wie Rostock. Aber an traditionellen Fachrichtungen – in Leipzig habe ich es teilweise mitbekommen – hat es jahrzehntelang Schwierigkeiten gemacht, diese Umgestaltung zu bewältigen. Vieles von dem, was den DDR-Universitäten heute in der Retrospektive vorgeworfen wird, hängt mit diesen Schwierigkeiten auch zusammen. Das war nicht in erster Linie ideologischer Terror – obwohl es den auch gab, das will ich um Gottes Willen nicht negieren – sondern diese Zielrichtung, eine moderne Universitätsstruktur durchzusetzen.

Was waren die Berufsperspektiven der Leute, die Lateinamerikawissenschaften studiert hatten?

Erstens Sprachmittler, das heißt Übersetzer, Dolmetscher usw. für Spanisch und Portugiesisch, mit einer der beiden Sprachen in der Vorderhand. Die wurden meist in Afrika eingesetzt und verdienten für DDR-Verhältnisse horrendes Geld, sehr viel mehr als wir Professoren. Das waren natürlich auch schwere Einsätze, Mozambik, Angola. Die wenigsten sind nach Lateinamerika gekommen, die mit vorwiegend spanischer Ausbildung vielleicht mal als Übersetzer bei einer Reise eines hohen Partei- oder Staatsfunktionärs nach Lateinamerika. Die erzählten dann nach ihrer Rückkehr die interessantesten Stories über das Verhalten unserer Funktionäre auf Auslandsreisen.
Eine zweite Einsatzmöglichkeit war die Verwaltung. Viele unserer jungen Leute gingen in die größeren VEB (Volkseigene Betriebe – G.E.), wo sie Mitarbeiter für Organisation oder Protokoll wurden und natürlich bei Bedarf auch als Dolmetscher eingesetzt werden konnten. Als weltoffene Mitarbeiter mit einer Rundum-Ausbildung standen ihnen viele Möglichkeiten offen, besonders natürlich in Betrieben, die Waren für den Außenhandel mit Lateinamerika herstellten oder umgekehrt Produkte aus Lateinamerika verarbeiteten.

Sie sagten, Sie waren bis 1984 Direktor der Sektion Lateinamerikawissenschaften in Rostock. Was haben sie danach gemacht?

Danach war ich bis 1990 Professor für lateinamerikanische Geschichte in Rostock. Dann wurde die Sektion abgewickelt und ich wurde in Vorrente geschickt. 1993 ging ich dann ordentlich in Rente oder was man unter Vereinigungsbedingungen so ordentlich nennt. Ich weiss nicht, ob man noch von Strafrente reden kann, aber sie unterscheidet sich jedenfalls sehr von einer normalen Professorenrente.

Wir haben damals die Abwicklung der Rostocker Sektion – sehr aus der Ferne – mitbekommen und auch einen Aufruf von Rostocker StudentInnen für den Erhalt des Studiengangs abgedruckt. Warum wurde die Sektion damals abgewickelt? So viele interdisziplinäre Forschungsschwerpunkte zu Lateinamerika gab und gibt es in der BRD nicht, es hätte durchaus Platz für den Rostocker Studiengang gegeben?

Natürlich. Es gab viele Kollegen aus Westdeutschland und aus dem Ausland, die gesagt haben: Leute, macht diese Sektion nicht zu, das ist endlich mal ein Modell, wie an einer deutschen Universität Regionalstudien so organisiert sind, dass eine komplexe Erforschung komplexer Probleme möglich ist, die nicht nur fachspezifisch an die Sache herangeht. Es war hochinteressant, was da für Stellungnahmen kamen. Einer meiner jungen Leute, Jens Henschke, hatte sich da an die Spitze gestellt und an Tod und Teufel geschrieben, was ich mich gar nicht wagte. Der bekam Antworten, wo ich sagte, wenn wir das ein paar Jahre vorher gewusst hätten, wären wir hier ganz anders aufgetreten.
Bei der Begründung der Abwicklung wurden wieder die alten Argumente aus der Mottenkiste geholt: Wir hätten Guerilleros ausgebildet, wir hätten doch nur im Sinne und auf Kommando der Partei gearbeitet, wir machten doch reine Ideologie usw. Dagegen war zu argumentieren, aber jedes Argument wurde natürlich weggewischt als interessierte Argumentation, uns ginge es doch nur darum, unsere Stellen zu halten. Natürlich wurde auch ökonomisch argumentiert, es sei zu wenig Geld da. Dann kam die ganze Überprüfung wegen Stasi-Verstrickung. Ich verzichtete, vor einer Ehrenkommission zu erscheinen. Ich hätte dort von vorneherein sagen müssen, dass ich als Direktor selbstverständlich Stasi-Verbindungen hatte. Ich bekam mindestens einmal im Monat Besuch von einem Oberleutnant der Stasi. Der meldete sich immer an – da war nichts Geheimnisvolles dabei – und fragte nach der allgemeinen Lage, ob alles korrekt laufe, natürlich auch, ob es Hinweise auf gegnerische Aktivitäten gäbe. Das gab es in allen Einrichtungen, egal ob Wissenschaft oder Betrieb oder sonstwas. Folglich kann mir niemand, der irgendwo eine Leitungsfunktion ausübte, erzählen, er hätte keine Stasi-Verbindungen gehabt, natürlich hatte er die. Er hätte sonst in der DDR nicht überleben können.
Ich bin in allen Formen mit der Stasi zusammengestoßen, um es mal so zu sagen. 1988 erhielt ich aus Cuba die Einladung zu einem Besuch zum 25. Jahrestag der Gründung der Arbeiter- und Bauernfakultät. Ich wurde eingeladen, mit meiner Frau zu kommen. So stellte ich den Antrag, dass auch meine Frau – natürlich auf eigene Kosten – mitfahren dürfte. Das war eine Sache, die in der DDR nicht üblich war, Dienstreisen mit Ehefrauen, das gab es nicht. Folglich musste ich einen Antrag an den Rektor stellen, der Rektor musste einen Antrag beim Minister für Hochschulwesen stellen, dieser Minister einen Antrag beim Innenministerium. Dazwischengeschaltet war natürlich immer die Staatssicherheit. Nun passierte folgendes: Ich war Parteimitglied seit 1946. Da war ich in die SPD eingetreten, die dann mit der KPD zur SED vereinigte wurde – eine Vereinigung, die wir jungen Parteimitglieder damals sehr begrüßten, obwohl da natürlich auch Zwang im Spiel war. Später übte ich alle möglichen Funktionen in der Partei aus, zweimal war ich Sekretär einer Grundorganisation, zweimal war ich Mitglied von Parteileitungen an Fakultäten, ich war Direktor einer Sektion und hatte alle möglichen Bewährungen hinter mir. Dann kommt nach dem Antrag, mit meiner Frau nach Cuba fahren zu dürfen, jemand in unsere Wohnsiedlung und befragt unsere Nachbarn, was wir denn für eine Familie seien. Meine Frau war ungeheuer erschüttert, sie konnte das nicht glauben. Ich wusste, dass es so etwas gab und dass das gar nicht zu verhindern war.

Wie war Ihre persönliche Haltung zur Wende?

Die Demokratisierung hatten wir seit langem für nötig empfunden. Im Herbst 1989 hoffte ich sehr, dass die Demonstrationen weitergehen würden. Aber als bis dahin Leitender konnte ich mich nicht einfach so wenden und an die Spitze einer Demokratisierungsbewegung stellen. Das ging nicht. Insofern waren wir – wenn man ganz offen ist – vor allem ängstlich. Wir stellten uns die Frage nach dem, was kommen würde. Mir ging alles mögliche durch den Kopf: Hängen wir bald an der Laterne? Arbeiten wir in Zukunft mit Schaufel und Spaten? Lässt man uns noch wissenschaftlich arbeiten? Natürlich hätte ich gerne als Professor weiter gearbeitet, aber es wäre mir auch denkbar erschienen, als wissenschaftlicher Mitarbeiter weiterzuarbeiten. Aber ich wollte weiterarbeiten, mit Kontakt zur Bibliothek und mit soviel Geld, dass man auch mal in ein etwas entfernter liegendes Archiv reisen kann. Jetzt kann ich mir nicht mal die tägliche Reise nach Berlin ins Lateinamerika-Institut, in die Iberoamerikanische Bibliothek oder in die Staatsbibliothek leisten, das geht nicht, das wird mir zu teuer, denn das sind allein an S-Bahn-Kosten neun Mark; von allem übrigen abgesehen. Das geht nicht.

Trotz dieser Einschränkungen war Ihr „Ruhestand“ nicht das Ende Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit. Sie haben weiter publiziert, zum Teil zusammen mit Ihrem Sohn, haben übersetzt, sogar literarisch.

In den ersten Jahren nach der Wende durchlebte ich eine tiefe Krise. Einfach weil es die für einen Historiker normale Beschäftigung nicht mehr gab und ich sie aus eigener Tasche nicht finanzieren konnte. Ich habe in meinem Vorruhestand 800 Mark bekommen, als „staatsnaher“ Hochschullehrer. Da war einfaches Überleben nötig und weiter nichts. Aber es gab natürlich auch inhaltlich eine Krise. Die habe ich erst nach Jahren überwunden, ehe ich wieder angefangen habe, gezielt und systematisch zu arbeiten, speziell zur cubanischen Geschichte. Das Ergebnis ist nicht nur dieses Buch, das unter der gemeinsamen Autorschaft von Michael und mir veröffentlicht worden ist (Michael Zeuske/Max Zeuske: Kuba 1492-1902, Kolonialgeschichte, Unabhängigkeitskriege und erste Okkupation durch die USA, Leipziger Universitätsverlag 1998), sondern da sind inzwischen auch andere Bücher Michaels, wo ich Korrekturarbeiten, Hilfsarbeiten und Beratungssachen gemacht habe. Das gibt mir sehr viel, denn vieles von dem, was er in Angriff nimmt, könnte ich nicht mehr machen. Das geht einfach nicht, durch die Begrenztheit meines Buchbestandes und die Unmöglichkeit, über längere Zeit in Bibliotheken und Archiven zu arbeiten.
Erfreulicherweise erhielt ich in den letzten Jahren einige Einladungen zu Vorträgen und wissenschaftlichen Konferenzen. So hielt ich etwa in Hannover einen Vortrag, wo ich wieder auf mein altes Projekt einer Agrargeschichte Cubas kam. Die Cubaner hatten mich gebeten, wenigstens meine Ideen und meine Fragen dazu aufzuschreiben. Ihnen fehlen dafür die materiellen Möglichkeiten und offensichtlich gibt es auch ideologische Probleme. Die Zeit ist wohl immer noch nicht reif, die Frage zu stellen, ob Cuba in aller Zukunft auf die Zuckerproduktion setzen soll oder ob nicht eine allgemeinere Landwirtschaftsproduktion sinnvoller wäre. Ich kann die Frage stellen, ob die in Cuba veröffentlich wird, ist eine andere Frage. Das wäre wissenschaftlich hochinteressant und eigentlich auch dringend. Angenommen, die Blockade dauert noch länger – und so sieht es aus – dann wird sich weiterhin jeden Tag die Frage stellen, wie das Land überleben kann. Daran sitze ich.
Sehr zufrieden war ich, als ich im vergangenen Jahr aus Richtung Marburg und Eichstätt die Einladung erhielt, an einer deutsch-cubanischen Konferenz teilzunehmen. Was passierte? Die cubanischen Referenten, sofern sie Historiker waren, eröffneten fast durchweg ihre Vorträge damit, dass sie sagten: „Diesen Beitrag widme ich meinem Lehrer Max Zeuske.“ Das war mir sehr peinlich, hat mich aber gleichzeitig emotional sehr berührt.
In einer Pause fragte mich ein Eichstätter Kollege: „Aber Herr Zeuske, wir wussten ja gar nicht, was sie alles gemacht haben.“ Das „sie“ bezog sich nicht auf mich, sondern offensichtlich auf die DDR insgesamt. Ich sagte ihm: „Herr Kollege, Sie haben ja gar keine Ahnung, auf welchem Gebiet die DDR in Cuba überall tätig war.“ Es existiert auch offensichtlich kein Überblick. Aber es war schon enorm, was gemacht wurde. Die DDR hat sich damals personalmäßig auf wissenschaftlichem Gebiet nahezu übernommen, soviel Leute hat sie rübergeschickt, oft nach langem Bitten der Cubaner. Die cubanischen Chemiker haben heutzutage aus einer uralten Rostocker Verbindung heraus intensivere wissenschaftliche Verbindungen, als sie zu DDR-Zeiten haben konnten. Die haben ständig vier/fünf Leute in Rostock, so wie Rostock zumindest mit zwei ordentlichen Professoren und ihrem Gefolge an den cubanischen Themen sitzt. Es gibt hochinteressante Projekte mit Produkten, die eigentlich Abfallprodukte der Zuckerrohrproduktion sind, aus denen Fette, Öle und Wachse hergestellt werden. Dafür waren seit 1963 ganze Akademiedelegationen drüben über Jahre tätig. Ähnlich sieht es in der Landwirtschaft aus, da gibt es Verbindungen nach Rostock, nach Halle. Ein eng befreundeter Wissenschaftler aus Santa Clara hat drüben ein landwirschaftliches Versuchsgut aufgebaut, wo ich große Augen machte, als ich es dieses Jahr gesehen habe. Er hat sich in Halle habilitiert über Kartoffelforschung und ist jetzt an einem Projekt dran, mit dem sich Cuba innerhalb weniger Jahre aus eigener Kartoffelproduktion voll versorgen will. Und das scheint zu laufen. Bis jetzt muss Cuba noch für zig Millionen Dollar Jahr für Jahr Kartoffeln aus Canada importieren. Es würde sich lohnen, einmal zusammenzustellen, was die DDR alles in Cuba und Lateinamerika auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet geleistet hat..