Ich bin nicht sicher, ob Sie das wissen, aber ich bin ja nun auch kein junges Mädchen mehr, sagt die etwas brüchige Stimme am anderen Ende der Leitung. Ich kann mir ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen, weiß ich doch um den Festakt, den das Goethe-Institut hier in Mexiko unlängst zu ihrem hundertsten Geburtstag veranstaltet hat. Noch während ich mich sammle, beginnt die Stimme Schillers „Glocke“ zu rezitieren, um anschließend mit fast kindlicher Freude zu fragen: Na, woher komme ich, was meinen Sie? Mariana Frenk-Westheim kann ihr norddeutsches Wesen auch nach über siebzig Jahren im mexikanischen Exil nicht verbergen: Hamburg! Dort wurde sie am 4. Juni 1898 geboren, dort ist sie aufgewachsen, nach Hamburg hat sie manches Mal Sehnsucht gehabt – mehr als Deutschland hat mir Hamburg gefehlt. Vom „Tor zur Welt“ hat das Schicksal sie an die Hänge des Popocatépetl verschlagen, wo der kulturinteressierte deutsche Besucher über Kurz oder Lang fast zwangsläufig auf ihren Namen stößt und nach einer telefonischen Anfrage gerne zu einem Besuch eingeladen wird.
Eine gutbürgerliche Wohnung in Mexikos Botschafts- und Businessviertel Polanco, schlicht und unaufdringlich eingerichtet – schon auf den ersten Blick ist klar: Hier lebt ein Kunstmensch; man findet sich zwischen Bücherwänden wieder, rechts eine breite Fensterfront, in einer Ecke des Raumes eine Vitrine mit archäologischen Fundstücken, geschmackvoll über den Raum verteilt Zeichnungen, Skulpturen, Pflanzen. Noch während ich mich umsehe, betritt eine leicht gebückte Frau, begleitet von ihrer Haushälterin, das Wohnzimmer und empfängt den Besucher mit Gebäck und wunderbar erfrischendem Agua de Jamaica, kaltem Hibiskustee. Nach einer herzlichen Begrüßung nehmen wir in einer eleganten alten Sitzgruppe Platz, den Blick auf ein großformatiges Gemälde von Antoni Peyrí gerichtet, mit dem die Gastgeberin eine langjährige Freundschaft verbindet.
Eigentlich sollte es ein Gespräch über Juan Rulfo werden – schließlich kennt kaum jemand ein literarisches Werk so gut wie derjenige, der es übersetzt hat. Mariana Frenk-Westheim übt sich lieber in Bescheidenheit und verweist auf das im Italienischen mögliche Wortspiel traduttore/traditore – den Verrat, den jeder Übersetzer zwangsläufig am Originaltext begeht. Dabei hat sie von Kindesbeinen an ihr Gespür für das Übertragen eines Textes von einer Sprache in die andere geschärft: Ich wollte übersetzen. Ich erinnere mich, dass ich schon mit sieben oder acht Jahren eine Erzählung, die „Von der Freude“ hieß, aus dem Deutschen ins Französische übersetzt habe – Französisch war in der Höheren Mädchenschule die erste Fremdsprache. Immer, wenn ich danach etwas gelesen habe, was mir besonders nahegegangen ist, habe ich mich gefragt, wie das auf Französisch oder auf Spanisch klingen muss. Für die spanische Sprache hatte ich immer schon ein besonderes Interesse; wir wohnten in Hamburg lange unter einem Dach mit einer spanisch-argentinischen Familie mit zehn Kindern, daher habe ich das Spanische schon früh im Ohr gehabt. Als 13-Jährige erbat ich mir dann im Brief an den Weihnachtsmann ein Spanischlehrbuch. Erst Jahrzehnte später habe ich erfahren, dass meine Vorfahren Sepharden waren, 1492 aus Spanien vertriebene Juden.
Ihr eigenes Schicksal ist dem ihrer Vorfahren nicht unähnlich: 1930 erkennt sie die Zeichen der Zeit – schon damals sind Pöbeleien gegen jüdische Mitbürger an der Tagesordnung, sei es im Hutgeschäft an der Binnenalster oder im Urlaub in Timmendorfer Strand – und kehrt Deutschland den Rücken. Als sie an Bord der „Spaarn“ in Rotterdam in See sticht, ist Mariana zweiunddreißig, verheiratet und hat zwei Kinder, ihr Leben also in vermeintlich feste Bahnen gelenkt. Stattdessen wagt sie in Mexiko mit der Familie den Neuanfang, wobei sich das Interesse an allem, was mit Spanien zu tun hat, auszahlen sollte: Bald werden ihre beiden großen Lieben Sprache und Literatur zu ihrem wichtigsten Handwerkszeug. Meine Lehrzeit in Mexiko bestand zunächst darin, konsequent nur noch Literatur in spanischer Sprache zu lesen und ganze Bücher mit meinen Anmerkungen vollzuschreiben. Von Beginn an übt sich Mariana im Verfassen von Kurzgeschichten, nimmt an zahlreichen Literaturwettbewerben teil. Vom Preisgeld kauft sie sich ihre erste Schreibmaschine, auf der sie jahrzehntelang ihre eigenen Texte tippt und die ersten Übersetzungen, die sie in Mexiko anfertigt. Meine erste veröffentlichte Übersetzung war Otto Rühles „Arbeitsschule“, ein Buch über die sozialistischen Schulreformen, das hier in Mexiko in einer Zeitschrift abgedruckt wurde. In den folgenden Jahren überträgt sie Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ ebenso wie Wilhelm Worringers „Abstraktion und Einfühlung“ ins Spanische, später die Kommentierungen Eduard Selers zum „Códice Borgia“. Nach unserer Ankunft in Mexiko habe ich deutschsprachigen Flüchtlingen hier Spanischunterricht gegeben. Zur deutschen Sprache hätte ich damals wohl einen so engen Kontakt nicht gewollt. Ich habe auch fast ausschließlich ins Spanische übersetzt, was vielleicht erstaunen mag, da das Deutsche ja meine Muttersprache ist. Aber man darf nicht vergessen, dass ich damals mit deutschen Verlegern nichts zu tun hatte, es war ja die Hitlerzeit. Sie arbeitet deshalb immer mehr mit mexikanischen Zeitschriften zusammen, übersetzt für sie kurze Texte von Rilke, Mann, Grass und reicht immer öfter auch eigene Kurzgeschichten ein. Zum Schreiben fehlte mir lange das Selbstbewusstsein. Natürlich habe ich mich einerseits enorm überschätzt; es gab Zeiten, in denen ich überzeugt war, dass ich Talent hätte, und dann aber wieder schreckliche Minderwertigkeitsgefühle. Dieses tut mir sehr leid; wären die Verhältnisse anders gewesen, ich hätte Literatur studiert und wäre dann Schriftstellerin geworden. Die Zeiten waren nicht danach. Ihre Eltern, die bis dahin in gesicherten Verhältnissen gelebt hatten, verloren ihr Vermögen 1919 in Kriegsanleihen und so war ihr eine reguläre universitäre Ausbildung unmöglich. Sie verdiente in Hamburg Geld mit ersten Übersetzungen und lernte nebenbei als Gasthörerin zunächst Portugiesisch, dann Spanisch. Später sagte sie in Bezug auf ihr Berufsleben in Mexiko oft, sie habe zwar keinen Titel, aber Talent besessen. Dieses Talent ermöglichte es ihr, jahrzehntelang an verschiedenen Universitäten Mexikos zu unterrichteten, deutsche Sprache, Literatur, Kunstgeschichte. Da ich ja keinerlei Titel hatte, wurde ich an einer dieser Universitäten, die damals sehr exklusiv war, nur dank eines Empfehlungsschreibens von Alfonso Reyes zugelassen, dem damals besten mexikanischen Schriftsteller, der außerdem ein entzückender Mensch war.
Insgesamt schließen die Frenks innerhalb der deutschen Kolonie kaum tiefere Freundschaften, sondern bewegen sich mehr in mexikanischen Künstler- und Intellektuellenkreisen; Mariana lernt bald Xavier Villaurutia kennen, Carlos Pellicer, Arqueles Vela, Celestino Gorostiza. Mit der Machtergreifung der Nazis bekennen sich große Teile der alteingesessenen Deutschen in Mexiko zu Hitler. Der jüdische Arzt Ernst Frenk verliert daraufhin viele seiner Patienten, um gleich darauf neue unter den ankommenden deutschen Flüchtlingen zu finden, unter denen viele Juden sind, aber auch viele politische Flüchtlinge, die ideologisch untereinander heillos zerstritten sind, wie etwa Ludwig Renn und Otto Rühle, die dennoch beide im Haus der Frenks verkehren. Mein erster Mann, Ernst Frenk, hatte Rühle auf einem Vortrag kennengelernt und es wurde eine wirkliche Freundschaft daraus. Deshalb waren wir allerdings unter den Stalinisten hier in Mexiko als Trotzkisten verfemt, was wirklich ein großer Blödsinn war… Die meisten Exilanten kehren nach dem Krieg in das eine oder das andere Deutschland zurück, die Frenks haben in Mexiko längst eine zweite Heimat gefunden und bleiben.
Und dann kommt sie doch noch kurz auf Rulfo zu sprechen: Das einzige, was ich aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzt habe, ist das Werk von Juan Rulfo und da war ich ja bereits fünfundzwanzig Jahre hier. Die Übertragung seines Romans „Pedro Páramo“ war damals ein verlegerisches Wagnis, heute ist Rulfo der meistübersetzte mexikanische Autor überhaupt. Ihre Tochter hatte ihr das Werk kurz nach seinem Erscheinen in Mexiko empfohlen und Mariana erinnert sich, das kleine Bändchen in einem Zug verschlungen zu haben, bevor sie zu sich selbst sagte: „Dies ist ein Meisterwerk und ich werde es übersetzen.“ Als ich mich an meine Schreibmaschine setzte und mit der Übersetzung begann, bekam ich Herzklopfen. Ich schrieb: „Ich kam nach Comala, weil man mir gesagt hatte, dass mein Vater hier lebe, ein gewisser Pedro Páramo“ – heute ist das wohl der bekannteste Romaneinstieg der mexikanischen Literatur. Mariana Frenk-Westheim schlug Rulfo die Übersetzung vor und wandte sich an den Münchener Carl-Hanser-Verlag, der sich sofort interessiert zeigte. Später übersetzte sie dann auch die anderen beiden schmalen Werke Rulfos ins Deutsche, den Erzählungsband „Der Llano in Flammen“ und das Filmdrehbuch „Der goldene Hahn“. Es blieb das einzige, was sie in die Sprache ihres Herkunftslandes übertrug.
Mariana Frenk-Westheim macht eine längere Pause, nimmt einen tiefen Schluck heißen Kräutertee, um die Stimme zu glätten. Von den Wänden blickt den Besucher immer wieder das Konterfei Paul Westheims an, als Ölbild des amerikanischen Künstlers Masteller oder in Lithografien von Kokoschka und Dix aus den Zwanziger Jahren. Mariana lernte Paul Westheim 1941 – direkt nach dessen Ankunft in Mexiko – im Heinrich-Heine-Club kennen, einer kulturellen Einrichtung der deutschen Exilanten. Ich wusste von ihm bis dahin nur, dass er ein bekannter Kunstschriftsteller war, und entsann mich des Werbespruches für das „Kunstblatt“, das er gegründet und herausgegeben hatte: „Wer von Kunst keinen Dunst hat, der liest nicht das Kunstblatt“. Bei uns zu Hause wurde viel gelesen und Musik gemacht, meine Mutter war eine sehr gebildete und geistig interessierte Frau. So entdeckte ich meine Liebe für die Literatur schon sehr früh. Was die Annäherung an die bildenden Künste angeht, verdanke ich sehr viel Paul Westheim. Ich würde sagen, ich bin eine Schülerin Paul Westheims. Vor allem wurde Mariana bald zu Westheims engster Mitarbeiterin und übersetzte alle seine Manuskripte ins Spanische, darunter zeitlose Standardwerke wie „Die Kunst Alt-Mexicos“ oder „Der Tod in Mexiko“ sowie hunderte von Artikeln. Die größte Hürde vieler deutscher Exilanten in Mexiko, die fremde Sprache, war damit für Westheim genommen, der Weg für zwanzig Jahre hochproduktives Exilschaffen geebnet. Aber auch in den Arbeiten von Mariana Frenk-Westheim ist der Impuls hin zur Bildenden Kunst durch die Zusammenarbeit mit Paul Westheim unverkennbar. Sie, die sich bis dahin vor allem einen Namen als Literaturkritikerin gemacht hat, beginnt mehr und mehr über Fragen der Kunst und über aktuelle Ausstellungen zu schreiben; in späteren Jahren arbeitet sie sogar im Museum für Moderne Kunst und wird die rechte Hand des großen mexikanischen Ausstellungsmachers Fernando Gamboa. 1959, zwei Jahre nach dem Tod ihres ersten Ehemannes Ernst Frenk, heiraten Mariana Frenk und Paul Westheim.
Westheim stirbt wenige Jahre später, bei seinem ersten Deutschlandbesuch nach dem Exil, 1963. Für den Kritiker, der die künstlerische Aufbruchstimmung der Expressionistengeneration in Deutschland miterlebt und -gestaltet hatte, war die Rückkehr in sein Herkunftsland eine Enttäuschung. Auch Mariana Frenk-Westheim hat nie mehr wirklich in Erwägung gezogen, ganz nach Deutschland zurückzukehren. Von Hitler-Deutschland ihrer deutschen Staatsangehörigkeit beraubt, seit 1936 mexikanische Staatsbürgerin, der von ihrem Herkunftsland statt eines neuen deutschen Passes das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, teilte sie mit Marcel Reich-Ranicki nicht nur die Liebe zu Thomas Mann und seinem Tonio Kröger, „dieser Bibel jener, deren einzige Heimat die Literatur ist“. Der Sprache und Kultur ihres Herkunftslandes ist Mariana in den über siebzig Jahren ihres Exils immer eng verbunden geblieben.
Nach dem Tod von Paul Westheim zum zweiten Mal verwitwet und bald die meisten Zeitgenossen überlebt habend, widmet sich Mariana Frenk-Westheim noch nahezu vierzig Jahre lang ihrer Arbeit; im hohen Alter steht wieder, wie zu Beginn ihres Schriftstellerlebens, das eigene Schreiben im Vordergrund. Y mil aventuras, ein liebevoll geschriebener Band mit Aphorismen und Kurzgeschichten, den sie erstmals 1992 veröffentlicht hatte, erscheint mittlerweile in dritter Auflage; im vergangenen April richtete das Staatliche Institut der Schönen Künste (INBA) eine große Hommage an sie aus und gestaltete eine Sonderausgabe ihres Buches Mariposa, eternidad de lo efímero von 1982. Auch wenn ihre Auftritte als Ehrengast bei den verschiedensten kulturellen Veranstaltungen in Mexiko-Stadt in den letzten Monaten selten wurden, war sie nach wie vor eine gefragte Gesprächspartnerin für Journalisten, aus Mexiko wie aus Deutschland. Im Düsseldorfer Verlagshaus Edition XIM Virgines hatte sie noch im Jahre 2002 einen Band mit Gedichten vorgelegt, die sie – über hundertjährig – zum ersten Mal wieder auf Deutsch verfasst hatte und die in ihrem verschmitzten und geistreichen Humor an Erich Kästner und Wilhelm Busch erinnern. Damals erklärte sie, es habe sie eben die Muse geküsst. Und, biblisches Alter hin oder her, wenn die Muse in einem Moment Lust hat, dich zu küssen, in dem du gerade Lust hast zu schlafen, reiß‘ dich zusammen; wenn du sie wegschickst, weiß man nicht, wann sie wiederkommt.
Diese beeindruckende kulturelle Neugierde und intellektuelle Schaffenskraft setzt sich in ihrer Familie fort; ihre Tochter, die bedeutende Hispanistin Margit Frenk – selbst Ende siebzig –, wurde in Mexiko unlägst mit dem Staatlichen Literaturpreis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, ihr Enkelsohn Julio Frenk, der bereits im Alter von neunzehn Jahren sein erstes Kinderbuch veröffentlichte, ist heute Gesundheitsminister im Kabinett von Vicente Fox, die Urenkel spielen in den besten Orchestern Mexikos. Und doch stimmt es, dass mit jedem Menschen eine Welt stirbt, seine Welt… Die ihre barg Erinnerungen aus drei Jahrhunderten. Diese Erinnerungen, gepaart mit ihrer schelmischen Art und einer wundervollen Altersironie, haben Begegnungen mit Mariana Frenk-Westheim immer zu beeindruckenden Erlebnissen gemacht. Ihre großartige Konversationskultur und ihre zahlreichen Anekdoten aus Kunst und Kultur wird – wer sie gekannt hat – ebensowenig vergessen wie ihren schier unerschöpflichen Zitatenschatz aus der Weltliteratur, den sie mit fast erschreckender Genauigkeit erinnerte.
Ich bin immer glücklich gewesen, wenn ich ein Buch in der Hand hatte oder vor meiner Schreibmaschine saß, übersetzt habe oder selbst geschrieben. Umso härter hat Mariana getroffen, dass ihre Augen nach hundert Jahren des Lesens und Schreibens mehr und mehr den Dienst verweigerten. Einen ihrer letzten Wünsche – das Werk Goethes und Nietzsches noch einmal zu lesen – konnte sie sich nur noch mit Hilfe von Vorlesern erfüllen oder mit Hörbüchern aus Deutschland. In diesen Momenten haben ihre ohnmächtigen Augen geleuchtet und wenn sie ihrer anderen großen Leidenschaft fröhnte, der Musik. Eigentlich wäre ich auch gerne Sängerin geworden, erzählt Mariana Frenk-Westheim zum Schluss, in sich gekehrt, im Sessel unter der weit überhängenden Arecapalme etwas zusammengesunken, den schwachen Blick über die Dächer von Polanco gerichtet hin zur Bergkette, die das Tal von Mexiko einfasst, müde. Ich hatte eine sehr gute und reine Stimme, einen leichten Sopran, auch wenn man davon im Moment wenig hört. Das deutsche Lied hat mir immer sehr gelegen, ich denke an Schumann, Schubert und auch an Richard Strauß – das habe ich immer sehr nachempfunden, sehr geliebt.
Einen Artikel von Ulrike Schätte zu Mariana Frenk-Westheim in der Reihe „Lebenswege“ siehe ila 218.