Als in den 90er-Jahren in Argentinien durch die von der Regierung Menem erlassenen Amnestiegesetze die Verfolgung der Verantwortlichen für Folter, Entführung und Ermordung während der zivil-militärischen Diktatur der Jahre 1976 bis 1983 fast unmöglich wurde, sannen argentinische Menschenrechtsgruppen und Anwälte nach Strategien, mit denen verhindert werden könnte, dass die Täter einfach davonkommen. Dabei fanden sie zwei Ansatzpunkte. Der eine war, sich in Argentinien in der Recherche auf die wenigen Straftaten zu konzentrieren, die nicht durch die Amnestiegesetze erfasst wurden, vor allem die Entführung der Babys gefangener Frauen und ihre illegale Vermittlung an Adoptiveltern. Der andere Ansatzpunkt war, die Strafverfolgungsbehörden in anderen Ländern anzurufen. Das bot sich im Falle des Einwanderungslandes Argentinien an, denn viele ArgentinierInnen, auch zahlreiche der während der Militärdiktatur „verschwundenen“, also entführt und ermordeten, haben neben der argentinischen noch die Staatsangehörigkeit der Länder, aus denen ihre Eltern oder Großeltern einst ausgewandert waren. So brachten Angehörige der Verschwundenen die Verbrechen an ihren Kindern oder Geschwistern in Spanien, Italien, Frankreich und auch in Deutschland zur Anzeige.

Zu den Anwälten, die in der Bundesrepublik diese Fälle bearbeiteten, gehörte auch der Berliner Jurist Wolfgang Kaleck. Der hatte schon während seines Studiums in Bonn eng mit der ila zusammengearbeitet und einen Teil seines juristischen Referendariats bei der guatemaltekischen Menschenrechtskommission (damals im mexikanischen Exil) absolviert, war also mit den Entwicklungen in Lateinamerika vertraut. Er vertrat zwei Gruppen von Opfern, zum einen solche, die deutsche StaatsbürgerInnen waren, für die die Zuständigkeit der deutschen Justiz also auf der Hand lag. Juristisch komplizierter waren die Fälle jüdischer Verschwundener, deren Eltern oder Großeltern nach ihrer Flucht aus Nazideutschland von den NS-Behörden ausgebürgert worden waren und die damit die deutsche Staatsbürgerschaft verloren hatten. Vollkommenes juristisches Neuland betrat er schließlich, als er in Zusammenarbeit mit der Journalistin Gaby Weber 1999 Anzeige gegen Mercedes-Benz wegen der Zusammenarbeit dieses Konzerns mit der argentinischen Diktatur bei der Verfolgung aktiver Gewerkschafter erstattete. Hier waren die Opfer eindeutig keine Deutschen, aber ein deutsches Unternehmen hatte mit den Tätern kooperiert.

Neben den in verschiedenen europäischen Ländern angestrengten Einzelverfahren entwickelte sich eine internationale juristische Diskussion darum, ob es nicht möglich sei, dass Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit in anderen Ländern tätig werden sollten, wenn in diesen Staaten keine Verfolgung der Taten möglich ist. Die Nürnberger Prozesse gegen die NS-Kriegsverbrecher hatten hier einen internationalen Präzedenzfall geschaffen, in dessen Tradition es 2002 zur Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag gekommen war.
Die Verhaftung des chilenischen Ex-Diktators Pinochets im Oktober 1998 in London auf der Basis eines in Spanien erlassenen internationalen Haftbefehls markierte einen ersten Höhepunkt dieser internationalen Anstrengungen und machte allen Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen deutlich, dass sie nicht mehr unantastbar sind, auch wenn sie glauben, durch in ihren Heimatländern erlassene Amnestie- oder Immunitätsgesetze auf der sicheren Seite zu sein.

Von all diesen juristischen Initiativen, Staatsterrorismus und Regierungsverbrechen international zu verfolgen und auch die Unternehmen zu belangen, die mit Diktaturen kollaborieren oder sich mithilfe staatlicher oder parastaatlicher Repressionskräfte kritischer Gewerkschafter entledigen, berichtet Wolfgang Kaleck in seinem kürzlich erschienenen Buch „Mit Recht gegen die Macht“. Er erzählt, und das macht er sehr spannend, wie er seit mehr als 20 Jahren auf vier Kontinenten (in Australien war er bisher noch nicht aktiv) dafür arbeitet, dass das internationale Strafrecht verbessert wird und die Opfer von Regierungskriminalität ihr Recht bekommen.

Zunächst tat er das als Anwalt einer linken Kreuzberger Kanzlei, seit einigen Jahren als Generalsekretär des von ihm gegründeten European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin. Seit er den US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in Deutschland anzeigte und erst recht seit er den US-Whistleblower Edward Snowden anwaltlich vertritt, ist Wolfgang ein „Promi“, häufig präsent in den Medien. Dabei wird er häufig als der einsame juristische David, der es mit den Goliaths dieser Welt aufnimmt, dargestellt. Dieser medialen Personalisierung setzt er in dem Buch eine Darstellung entgegen, die deutlich macht, dass alles, was bisher im Kampf gegen die Straflosigkeit von Regierungs- und Unternehmensverbrechen angestoßen und erreicht wurde, auf der Arbeit internationaler Netzwerke basiert, dass es nicht alleine die Pérez Esquivels, Garzóns oder Kalecks sind (auch wenn die natürlich eine zentrale Rolle spielen), sondern ganze Gruppen kritischer JuristInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen in zahlreichen Ländern, die recherchieren, Verbrechen dokumentieren, ZeugInnen suchen und befragen und schließlich Strafanzeigen vorbereiten, eine wahrhafte Globalisierung von unten!