Das Entsetzen lässt die Träume verstummen

Der Sturz des Regimes von Alberto Fujimori in Peru und das Bekanntwerden all seiner Korruptionsskandale, Spionageaffären und Menschenrechtsverletzungen brachte das ganze Land dazu, über die Machtausübung der Regierenden der letzten vier Jahrzehnte nachzudenken. Es musste aufgeklärt werden, wie es in den letzten 40 Jahren unter verschiedenen Militärdiktaturen und unterschiedlich ideologisch geprägten, verfassungsmäßigen Regierungen zu einem derart hohen Niveau an Gewalt und Korruption kommen konnte. Diese Überlegungen gelangten erwartungsgemäß zu verschiedenen Schlussfolgerungen, je nach ideologischer Sichtweise. Von den Neoliberalen, die – Mario Vargas Llosa paraphrasierend – behaupten, Peru sei durch Velasco Alvarado[fn]Juan Velasco Alvarado – Militärherrscher zwischen 1968 und 1975 mit einem reformistisch-sozialdemokratischen Regierungsprojekt[/fn] den Bach runtergegangen, bis zu denjenigen, die behaupten nach Velasco sei jede Regierung schlimmer gewesen als die vorherige.

Gemeinsam haben alle diese Meinungen, dass sie einen bestimmten historischen Zeitraum hervorheben, der von der ersten Militärjunta unter General Juan Velasco Alvarado bis zu Alberto Fujimori reicht (1968-2000). Auch für die peruanischen SchriftstellerInnen lag die Beschäftigung mit dieser Zeit nahe; ihre Sichtweise hat vielzählige Texte hervorgebracht, die von einem bestimmten Abschnitt oder dem gesamten genannten Zeitraum handeln. Un Millón De Soles von Jorge Eduardo Benavides, La Danza Del „Chino“ Kenya von Carlos Angulo Rivas oder ¿Por Qué Lloras Candelaria? von Zelideth Chávez Cuentas sind nur ein paar Beispiele.

Diese Feststellung zeigt, dass innerhalb der neueren peruanischen Literatur eine Strömung existiert, die sich gegenwärtig zwischen dem Hinaufbeschwören einer „fernen“ Vergangenheit – in den vielen publizierten historischen Romanen – und solchen Texten positioniert, die sich auf eine „unmittelbare“ Gegenwart der Ereignisse beziehen. Beiden Tendenzen gemein ist aus ihrer jeweiligen Perspektive das Ziel, über den Anstieg und die Nachklänge der sozialen Gewalt zu reflektieren, die ihre Ursprünge in der insurgencia, dem bewaffneten Terror der subversiven Gruppen, hat, die seit den 1980er Jahren entstanden sind. Mal sollen – in der historischen Fiktion – die Ursprünge erforscht werden, mal soll – in der sogenannten „Erzählung der Gewalt“ – eine „Realität“ gezeigt werden, die viele PeruanerInnen zu ignorieren oder zu marginalisieren versuchen. Die neue Strömung allerdings siedelt sich in einer „nahen“ Vergangenheit an, und deshalb kann man sich ihr nicht mit dem traditionellen Verständnis von historischer Fiktion annähern, das mehr Zeitabstand zwischen den erzählten Geschehnissen und dem erzählenden Autor verlangt. Sie zielt auch nicht darauf ab, eine Realität offensichtlich zu machen, derer wir uns auf die eine oder andere Art schon bewusst sind. Stattdessen versucht sie zu erklären, warum, obwohl die „subversive Gewalt“ formal beendet ist, in Peru die Gewalt und andere Übel immer noch andauern.

In diese erzählerische Kategorie lässt sich El espanto enmudeció los sueños (Grupo editorial Arteida, Lima 2010) von Walter Lingán einordnen. Die Rhetorik der Dialoge im Roman erzählt und reflektiert gleichzeitig. Zur Gewalt kommt die Korruption hinzu und beide überlappen sich, die „Niederlage“ der Terroristen ist kein Wendepunkt, sondern einfach nur irgendein Punkt, gefolgt vom weiteren Abdriften des Landes. Deshalb siedelt Lingán den erzählerischen Ablauf hauptsächlich in der Regierungszeit Fujimoris (1990-2000) an, um sich aber auch auf die Ereignisse während der vergangenen Regime zu beziehen.

Nicht nur über die explizite Gewalt der verfeindeten Truppen schreibt der Autor, sondern auch über die Gewalt, die im Alltag ankommt, die „psychologische Opfer“ fordert, so wie jene Mütter, deren Söhne im Knast sitzen. Es interessiert ihn wenig, die Figuren zu vertiefen; ihm ist wichtig, deren Ängste, Hoffungen, Frustrationen und all die Gefühle zu zeigen, die Symptome dieses Entsetzens waren und sind, das die Träume einer Nation zum Verstummen brachte. 

Der Roman Lingáns versucht in seiner Kürze, die vier genannten Jahrzehnte zu umfassen und zu resümieren. Das Ergebnis ist ein Text, in dem die Gewalt die Wirbelsäule der Geschichte ist: Sie war vor dem Umsturz da, es gab sie während der insurgencia und sie dauert auch nach dem „offiziellen“ Ende des Terrors an. So wie die Gewalt im Verlauf der Zeit konstant ist, so ist sie es auch im Raum, es gibt keine definitive geographische Abgrenzung. Nennt der Text eine Stadt, Ayacucho zum Beispiel, ist es mehr wegen ihres semantischen Werts als ihrer Lokalisierung. Zeit und Verortung neigen zur Totalität. Aber im Unterschied zur genannten „Erzählung der Gewalt“, in der die Gewalt von einer „systemfremden“ Gruppe (den Terroristen) ausgeht und einen Raum erobert, wo sie „bisher nicht existierte“, um dessen Ordnung durcheinanderzubringen, existierte die Gewalt in Lingáns Roman bereits vorher, versteckt oder ignoriert, lauerte in bestimmten Bereichen und betraf nur die weniger Privilegierten der Gesellschaft. Eine Gewalt, die innerhalb des Systems selbst generiert wird, als eine „natürliche“ Art der Machtausübung, die darauf zielt, eine ungerechte politische und ökonomische Gesellschaftsstruktur zu tragen und zu erhalten. Auf diese Weise wird gezeigt, dass die extreme subversive Gewalt der 80er Jahre nicht mehr ist als eine weitere Variante der bereits vorher vorhandenen Gewalt. 

Mit diesem Ziel abstrahiert der Autor von der unmittelbaren Realität, um seinen Roman in einem Universum anzusiedeln, welches el Barrio (das Viertel), la gran avenida de Cono Norte (die große Cono- Norte-Allee), la Nación (die Nation) oder los Andes (die Anden) heißt. In diesem Szenario erschließt der Autor die Konflikte, allerdings aus der Sicht derjenigen, die in dieses Universum gehören. Dabei gibt er aber keineswegs den Realismus auf, der die peruanische Literatur vor den 1980er Jahren charakterisierte. Diese Eigenschaft lässt sich in der neuen Literatur Perus häufig feststellen.

Auf diese Art und Weise wird das Szenario zum Schnittpunkt, wo sich alle Linien der in den letzten 40 Jahren in der peruanischen Gesellschaft erzeugten Gewalt kreuzen. So wird in der skizzierten historischen Perspektive alles egalisiert, sei es die Repression der Regierung Morales Bermúdez, die Toten des 19. Juli in den 1970ern, die Massaker an Bauern und Bäuerinnen sowie die Angriffe auf indigene Gemeinden im antisubversiven Krieg der 1980er oder die toten Studierenden der Universität von La Cantuta unter Fujimori in den 1990er Jahren. Es ist alles dasselbe, weil die Opfer immer dieselben sind. Das ist der Synkretismus der Gewalt, den Lingán erfolgreich in seinem Roman entwirft.

Konsequenterweise schafft es der Erzählstil Walter Lingáns, wie schon in früheren Romanen, mit seinen spielerischen intertextuellen Dialogen mit dem Leser, diesen über die erzählte Geschichte hinaus zum Nachdenken zu bringen: über die Literatur, die populare Kultur, die Vision einer gemeinsamen Vergangenheit, über die wir uneinig sind, oder die Überzeugungen einer Gesellschaft, die trotz allem weder aufgibt, noch die Hoffnung verliert.

Walter Lingán: „El espanto enmudeció los sueños», Novela/Roman, Grupo Editorial Arteidea. Lima 2010. 184 Seiten, Übersetzung: Daniel Parlow

Weitere Infos: www.walter-lingan.com